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heiratete. Er hatte dort einen Weinkel­ler und ein Weingeschäft. Die Groß­eltern väter­licher­seits waren Kaufleute in Posen. Woher der Name Neumark stammt, weiß ich nicht. Es kam vor, dass ei­n Leh­rer mich als Bei­spiel für einen guten deut­schen Namen aufrief und dann entsetzt war, als sich heraus­stell­te, dass ich jüdisch war.

      Meine Eltern haben nach dem ersten Welt­krieg in Posen geheira­tet. Mein Vater hat dort als Kinderarzt prakti­ziert. Meine Mutter war Sängerin, hat aber um der Familien­pflichten willen auf eine Konzertkar­riere verzichtet. ­Um 1920 verließen meine Eltern Posen, wie alle Mit­glie­der unserer weit­ver­zweig­ten Fami­lie, weil sie auf kei­nen Fall auf ihr Deutsch­tum ver­zich­ten und Polen wer­den woll­ten. Sie gin­gen nach Frank­furt, wo schon ande­re Familien aus Po­sen lebten, die Hirsch­bergs, die Ne­habs. Man wuchs damals in richti­gen Clans auf, Großfa­milien, die alle mögli­chen Vet­tern, Cousinen, Onkels und Tanten, auch 2. und 3. Grades, einschloss, und traf sich häufig zu Fami­lienfe­sten mit Aufführun­gen, Konzerten und Lie­dern.

      Mein Vater war als Kinderarzt sehr beliebt. Er hatte eine große nicht­jüdi­sche Kund­schaft. Im städtischen Krankenhaus leitete er die Säug­lings­ab­tei­lung. Er hat auch unterrichtet und Kurse für Schwestern und Kranken­pfleger gegeben. Ich erinnere mich, dass wir Kinder zwei­mal im Jahr Rech­nungen für die Krankenkasse austragen mussten. ­Da­durch kann­te ich die Stadt recht gut. Bei den vielen Besu­chen meines Vaters in den Arbei­tervierteln der Stadt - beson­ders der Dammvor­stadt, wo es viel Armut gab - nahm er mich oft mit, damit ich "das Leben kennen lerne". Noch Ende 1933, als die neuen Macht­haber die "Winterhilfe" veranstalteten, bat die Stadt­verwaltung meinen Vater um eine Liste der bedürftigen Mitbürger, und mein Bruder und ich wurden offiziell mit der Vertei­lung der Lebens­mittel an die betreffenden Familien beauftragt. Ob Juden­kinder oder nicht, wir wurden dort mit Umarmungen und Dankeshym­nen emp­fangen. Un­se­re Woh­nung mit der Pra­xis lag am Wil­helms­platz neben einem Blumenge­schäft und dem Café Kyritz. Auf der an­dern Seite des Plat­zes, vor­bei am Kai­ser­denk­mal, befand sich die Harden­berg-­Lo­ge. Vom Balkon aus konn­ten wir die Postuhr an der Ecke der Logenstraße sehen, nach der wir im­mer un­se­re Uhr stell­ten. Schräg gegen­über war die große Wald­orf-Buch­hand­lung. In der Richt­stra­ße trafen wir uns oft bei Luigi's Eis­die­le. Für 10 Pfennig bekam man ein Eis im Glas. Unsere Eltern durften nichts davon wissen. Ein­mal kam ich dort­hin, und da saß mein Bru­der. Ich hatte Angst, dass er mich ver­riet, aber er aß ja auch selbst ein Eis.

      Neben uns hatte Hirschberg sein Rechtsanwaltsbüro. Neben der Synagoge wohn­te der Kultusbeamte Lapi­das, seine Frau ver­kauf­te dort koschere Würst­chen. Von der Leihbücherei an der Ecke holte ich mir immer Kriminalroma­ne, manchmal dreimal am Tage. Die deutsche Kultur hat mich als kleines Mädchen geprägt. Ich sehe mich noch in meinem Bett in dem schmalen Raum neben dem Musikzimmer, über mir an der Wand der Sämann von Van Gogh, mit selbstver­dien­tem Geld er­standen, gegenüber das Schulpult, neben dem Bett ein wir­res Durchein­ander von Büchern - Karl May, Martin Buber, "Der Kampf der Tertia", "Die Buddenbrooks", "Professors Zwil­linge", "Wüste und gelobtes Land". Vom Musikzimmer nebenan dringen die Klänge von Schubertlie­dern herüber, der Mez­zo­so­pran mei­ner Mut­ter, be­glei­tet von mei­nem Bru­der. Es war wie eine Rückzahlung einer Schuld an meine Kindheit, als ich vor einigen Jahren Über­setzun­gen dieser Lieder ins Hebräische veröffentlichen konnte.

      Von den Nazis wusste ich lange nichts. Ich besuchte seit 1931 die Volks­schule, übersprang dort eine Klas­se und kam so 1934 in die Sexta des Kleist-Lyzeums. ­Ein­mal, wohl 1933 nach der Macht­über­nahme, beka­men wir die Auf­gabe, aus der Zei­tung Bil­der unserer Staatsführer auszu­schneiden. Mein Vater half mir und hat Bilder ausge­schnitten, lauter Bil­der von Hin­den­burg, immer nur Hinden­burg. Ich habe ge­sagt: "Aber wir brau­chen auch Hit­ler!". Er sagte nur: "Nein, Hit­ler nicht." Ich woll­te aber unbe­dingt das berühmte Bild haben, wo Hin­den­burg dem Hit­ler die Hand gi­bt. Da hat mein Vater die Sche­re genommen und Hit­ler abge­schnit­ten. Die halbe Hand war noch drauf. So hatte ich nur Bil­der von Hin­den­burg und ging sehr un­glücklich ­zur Schule, doch hat sich der Klassen­lehrer dann gar nicht für mein Heft in­ter­essiert.

      Ich erinnere mich auch noch gut an ein besonders unerquick­li­ches Erleb­nis zu etwa der gleichen Zeit, in der vierten Klasse der Grund­schu­le. Unser Klassenlehrer war ein schneidiger junger Mann, oft in brauner Uniform, der aber trotzdem die jü­di­schen Schülerinnen meistens freund­lich behandelte. Aber ein­mal rief er mich während einer Deutschstunde zu­sammen mit der "rein­ras­si­gen" Kriem­hild vor die Klas­se. Er forderte die Schülerinnen auf, uns genau anzusehen: "Sehr ihr, das ist Kriemhild, ein klas­sischer germanischer Typ, groß, blond, mit Langschädel, aber etwas lang­sam im Denken. Daneben Ada, bei der alle Kräfte auf typisch jüdi­sche Art in den Kopf gegangen sind - auf Kosten aller anderen Fähigkeiten, wie ihr an dem verkümmerten Körper deutlich sehen könnt!" Das behagte mir keineswegs, zwar war ich klein, aber eine gute Turnerin, sehr begehrt beim Völkerball und im Hochsprung eine der Besten in der Klasse. Auch Kriemhild war nicht begeistert von der Charakterisierung. In der Pause standen wir auf dem Schulhof und schmollten gemeinsam, sie in ihrer hochaufgeschossenen germanischen Den­klangsamkeit, ich in meiner kör­perverkümmerten jüdischen Intellektua­lität.

      Ich konnte bis zu den großen Ferien 1938 zum Kleist-Lyzeum ge­hen. Irgendwann war ich die einzige Jüdin in der Klasse. In der Par­allel­klas­se waren noch drei oder vier, die Gum­perts, die Lach­mann, die gingen etwas früher ab als ich. ­In der Klasse selbst hatte ich keine Schwierigkei­ten, doch blieben Diskri­minationen und Ein­schüchterungen seitens der Lehrer nicht aus. Fräulein Kunze, die feingeistige Direkto­rin - zur Un­ter­scheidung von einer gleichna­migen Lehrerin "Ober­kunze" gen­annt - verschwand nach der Macht­übernahme von der Bild­fläche. An ihre Stel­le trat ein SA-Mann in Stiefel und Sporn. Bei seinen kurzen Visi­ten in den Klas­sen lief es mir kalt den Rücken herun­ter­. ­Man hörte dau­ernd die NS-Lie­der, vie­le Mäd­chen kamen bei uns auch mit BDM-Kluft in die Schule. ­Wir jüdi­schen Kin­der wur­den nicht vom Fah­nenap­pell be­freit, sondern mussten teil­neh­men, mit an die Seite gepressten Ar­men, denn wir ­durf­ten ja nicht mit den an­dern die Hand heben. Wir durf­ten zwar das Deutsch­land-Lied, aber nicht das Horst-Wes­sel-Lied mit­singen. Für uns Kin­der war das schwierig. Besser wäre gewesen, man hätte uns ganz befreit. Von den christ­li­chen An­dach­ten waren wir aber dispensiert und durf­ten dann Schular­bei­ten ma­chen.

      In der Deutschstunde gehörte ich jetzt nicht mehr zu den zwei oder drei Erwählten, die ihre Aufsätze der Klasse vorlesen durf­ten. Als einmal der Musiklehrer fragte, wer bereit sei, ein Ge­sangstück vom Blatt zu singen, und ich mich meldete, rief er entrüstet: "Was, keine ein­zige in der ganzen Klasse?" Da bekam er es aber mit mei­nen Mitschülerinnen zu tun, die ihn energisch auf meine erhobene Hand auf­merksam machten. Ich denke öfter und mit Gefühlen des Dankes an all diese blonden Mädchen in ihren Jungmädelblusen, die sich ohne viel Überlegung, aus spon­tanem Gefühl für Recht und Unrecht, auf meine Seite stellten – an meine Freun­din Marianne, das freundliche Ilschen Schä­fer, das kohl­schwarzzopfige Mohrchen, die sanfte Ruth Bunge, die ari­stokra­tische Ingeborg Hermsmayer oder die tem­pera­mentvolle Anne­lore Maushacker, die Tochter des Chef­redakteurs der Oder-Zeitung. Nie habe ich ein beleidi­gendes Wort von einer von ihnen gehört. Einige kamen nach wie vor zu mir nach Hause, um gemeinsam Schul­ar­bei­ten zu ­ma­chen, Bücher zu tauschen oder einen Kanon zu sin­gen. Die hübsche Alice Wolf mit dem Bubi­kopf stand jeden Morgen zum gemeinsamen Schulweg vor unserm Haus. Ihr Bruder, ein hünenhaf­ter Hitler­jugendführer, trat als Beschützer des mei­nen auf, indem er ras­sebe­wuss­tere Mitschüler des Fried­richs­gym­na­si­ums streng­stens verwarnte, sich an ihm zu ver­greifen.

      Prüfungen für uns waren demgegenüber die Anpöbelungen auf der Stra­ße. Ich habe noch eine Narbe an der Stirn von einem solchen Vorfall. Als ich einmal die Straße entlang ging, mar­schier­te eine HJ-Ab­tei­lung mit Fahne vorbei. Da sprangen ein paar Jungen auf mich zu und stießen mich gegen die Wand, weil ich die Fahne nicht ge­grüßt hatte. Als Jüdin durfte ich aber die Fahne gar nicht grü­ßen, im Ge­gen­satz zu "deutschen" Mädchen. Ich habe furcht­bar

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