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Lynne abzureisen, war ihm unmöglich. Mr. Carlyle versicherte ihm, er sei nur allzu erfreut, wenn der Gast bleiben würde, solange es ihm beliebte, und der Earl brachte seinen Dank zum Ausdruck; er hoffte, bald wieder auf den Beinen zu sein.

      Aber das war er nicht. Die Gicht kam, und die Gicht ging – sie zwang ihn zwar nicht gerade, im Bett zu bleiben, raubte ihm aber die Fähigkeit, seine Räumlichkeiten zu verlassen; der Zustand dauerte bis zum Oktober, aber dann ging es ihm viel besser. Die Landbewohner waren gute Nachbarn gewesen, hatten den gebrechlichen Earl besucht und Lady Isabel gelegentlich mitgenommen, aber sein wichtigster und beständiger Besucher war Mr. Carlyle gewesen. Mittlerweile mochte der Earl ihn auf mehr als nur gewöhnliche Weise und war enttäuscht, wenn der Anwalt einen Abend nicht bei ihm verbrachte; so kam es, dass er mit dem Earl und Lady Isabel irgendwann auf vertrautem Fuß stand. „Ich bin der allgemeinen Gesellschaft nicht ganz gewachsen“, sagte der alte Herr zu seiner Tochter, „und es ist sehr rücksichtsvoll und freundlich von Carlyle, hierher zu kommen und mich in meiner Einsamkeit aufzuheitern.“

      „Äußerst freundlich“, sagte Isabel. „Ich mag ihn sehr, Papa.“

      „Ich kenne niemanden, den ich nur halb so sehr mögen würde“, war die Antwort des Earl.

      Am gleichen Abend kam Mr. Carlyle wie gewöhnlich zu Besuch, und im weiteren Verlauf bat der Earl seine Tochter, zu singen.

      „Wenn es dein Wunsch ist, Papa“, antwortete sie, „aber das Klavier ist so verstimmt, dass es keine Freude macht, dazu zu singen. Mr. Carlyle, gibt es in West Lynne irgendjemanden, der herkommen und mein Klavier stimmen könnte?“, fragte sie, wobei sie sich zu ihm wandte.

      „Natürlich. Kane könnte das machen. Soll ich ihn morgen herschicken?“

      „Darüber wäre ich sehr froh, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht. Nicht dass das Stimmen viel nützen würde, wo es so ein altes Instrument ist. Wenn wir öfter in East Lynne wären, könnte ich Papa vielleicht dazu bringen, es gegen ein gutes auszutauschen.“

      Lady Isabel verwendete keinen Gedanken darauf, dass eben dieses Klavier nicht ihr gehörte, sondern Mr. Carlyle. Der Earl hustete, wobei er mit seinem Gast ein Lächeln und einen Blick tauschte.

      Mr. Kane war der Organist der Kirche St. Judeʼs, ein Mann voller Kummer und Sorgen, der lange einen trostlosen Kampf gegen die Welt geführt hatte. Als er, von Mr. Carlyle entsandt, am nächsten Tag nach East Lynne kam, spielte Lady Isabel gerade. Dann stand sie neben ihm und sah zu, wie er mit der Arbeit begann. Sie war höflich und liebenswürdig – so war sie zu jedem –, und der arme Musikmeister fand den Mut, von seinen eigenen Angelegenheiten zu sprechen und eine bescheidene Bitte vorzubringen: ob sie und Lord Mount Severn die Schirmherrschaft über ein Konzert übernehmen könnten, das er in der folgenden Woche zu geben gedachte, und ob sie selbst zugegen sein würden? In seine dünnen Wangen stieg ein dunkles Rot, als er einräumte, er sei sehr arm, könne kaum leben und müsse das Konzert wegen seiner verzweifelten Bedürftigkeit veranstalten. Wenn es ein Erfolg werde, komme er wieder zurecht; wenn nicht, würde man ihn aus seinem Zuhause werfen und das Mobiliar für die Miete verkaufen, die er seit zwei Jahren schuldig war – und dabei habe er sieben Kinder.

      Isabel, deren tiefes Mitgefühl geweckt war, suchte den Earl auf. „Ach, Papa! Ich muss dich um einen großen Gefallen bitten. Wirst du ihn mir gewähren?“

      „Um so etwas bittest du mich nicht oft. Worum geht es?“

      „Ich möchte, dass du mich zu einem Konzert nach West Lynne begleitest.“

      Der Earl lehnte sich erstaunt zurück und starrte Isabel an. „Ein Konzert in West Lynne!“, lachte er. „Um zuzuhören, wie die Landpomeranzen auf der Fiedel kratzen! Meine liebe Isabel!“

      Sie sprudelte mit allem heraus, was sie gerade gehört hatte, einschließlich ihrer eigenen Kommentare und Hinzufügungen. „Sieben Kinder, Papa! Und wenn das Konzert kein Erfolg wird, muss er sein Zuhause aufgeben und mit ihnen auf der Straße leben – du siehst, es ist für ihn fast eine Frage von Leben und Tod. Er ist sehr arm.“

      „Ich bin auch arm“, sagte der Earl.

      „Er hat mir so leidgetan, als er gesprochen hat. Immer wieder wurde er rot und weiß und geriet vor Aufregung außer Atem; es war schmerzhaft, ihn von seiner Notlage erzählen zu hören. Ich bin sicher, er ist ein Gentleman.“

      „Nun ja, du kannst Karten für ein Pfund kaufen, Isabel, und sie den leitenden Dienstboten geben. Ein Dorfkonzert!“

      „Ach, Papa, so ist es nicht – ist dir das nicht klar? Wenn wir zusagen, du und ich, dann werden auch alle Familien rund um West Lynne das Konzert besuchen, und er wird den Saal voll haben. Sie werden hingehen, weil wir hingehen – das hat er gesagt. Opfere dich dieses eine Mal, liebster Papa, und geh hin, und wenn es auch nur für eine Stunde ist. Ich werde Spaß daran haben, selbst wenn da nicht mehr ist als eine Geige und ein Tambourin.“

      „Du Zigeunerin! Du bist so schlimm wie eine Berufsbettlerin. Gut – sage dem Kerl, wir werden für eine halbe Stunde vorbeischauen.“

      Mit leuchtenden Augen eilte sie wieder zu Mr. Kane. Wie immer sprach sie leise mit ihm, aber ihre eigene Befriedigung ließ ihre Stimme fröhlich klingen.

      „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Papa zugestimmt hat. Er nimmt vier Eintrittskarten, und wir werden das Konzert besuchen.“

      Mr. Kane traten die Tränen in die Augen; Isabel war sich nicht sicher, aber vermutlich erging es ihr genauso. Er war ein großer, dünner, zart aussehender Mann mit langen, weißen Fingern und langem Hals. Seinen stammelnden Dank verband er mit der Frage, ob er öffentlich bekannt machen dürfe, dass sie anwesend sein würden.

      „Erzählen Sie es allen“, sagte sie eifrig. „Allen, die Ihnen über den Weg laufen, wenn es so ist, wie Sie denken: dass es das Mittel sein wird, um die Leute zur Teilnahme zu bewegen. Ich werde es auch allen Freunden erzählen, die mich besuchen, und sie bitten, ebenfalls hinzugehen.“

      Als Mr. Carlyle an diesem Abend zu Besuch kam, war der Earl vorübergehend nicht im Zimmer. Isabel sprach von dem Konzert.

      „Für Mr. Kane ist das ein gefährliches Unternehmen“, bemerkte Mr. Carlyle. „Ich fürchte, er wird nur noch mehr Geld verlieren, und das wird zu seinem Dilemma beitragen.“

      „Warum fürchten sie das?“, fragte sie.

      „Weil in West Lynne nichts unterstützt wird, Lady Isabel – jedenfalls nichts Einheimisches; und die Leute wissen schon so lange über die Notlage des armen Kane Bescheid, dass sie kaum noch daran denken.“

      „Ist er wirklich so arm?“

      „Sehr arm. Die halbe Zeit muss er hungern.“

      „Hungern!“, wiederholte Isabel. Sie sah Mr. Carlyle an, und in ihr Gesicht stieg ein Ausdruck der Verblüffung, denn sie verstand ihn kaum. „Meinen Sie damit, dass er nicht genug zu essen hat?“

      „Brot vielleicht, aber bessere Nahrung kaum. Sein Gehalt als Organist beträgt dreißig Pfund, und ein wenig verdient er mit vereinzeltem Unterricht. Aber er muss eine Frau und Kinder ernähren, und zweifellos denkt er zuerst an sie und erst danach an sich. Ich wage zu behaupten, dass er kaum weiß, wie Fleisch schmeckt.“

      Die Worte versetzten Lady Isabel einen schmerzhaften Stich.

      „Nicht genug zu essen! Weiß nicht, wie Fleisch schmeckt!“ Und sie in ihrer Sorglosigkeit, ihrer Unkenntnis, in der Gleichgültigkeit – sie wusste kaum, welchen Namen sie ihr geben sollte – hatte nicht daran gedacht, ihm in ihrem Haus des Überflusses eine Mahlzeit zu bestellen! Er war zu Fuß von West Lynne gekommen, hatte sich eine Stunde mit ihrem Klavier beschäftigt und sich dann auf dem Rückweg gemacht, während er gegen seinen Hunger ankämpfte. Ein Wort von ihr, und man hätte ihm in ihrem Überfluss eine Mahlzeit vorgesetzt, wie er sie noch nie gesehen hatte, aber dieses Wort hatte sie nicht ausgesprochen.

      „Sie sehen ernst aus, Lady Isabel.“

      „Ich gehe mit mir selbst ins Gericht. Lassen wir es gut sein, es ist nicht mehr zu ändern. Aber es

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