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Die Frau stieg ins Obergemach

       und erblickte ihre zehn Töchter tot, – ihre

       Köpfe hingen über den Rand des Bettes und die Kehlen

       schauten aufgeschnitten heraus! Der Zauberer,

       dem es vorkam, als ob seine Frau nicht schnell genug

       wieder herunterkäme, stieg nun auch hinauf – und

       was sah er? Er sah seine Frau ohnmächtig am Boden

       liegen und alle seine Kinder tot! Sein Gesicht verlor

       alle Farbe; er geriet in die höchste Wut; er schleuderte

       ein Fass Wasser seiner Frau ins Gesicht und sprach

       zu ihr, als sie wieder auf den Füssen stand: »Gib mir

       die Siebenmeilenstiefel!« Das waren ein Paar Stiefel,

       mittels deren er mit jedem Schritte sieben Meilen zurücklegte.

       Er zog sie an und eilte den Knaben nach,

       um sie einzuholen.

       Die Knaben sahen es aus der Ferne, wie der Zauberer

       von einem Berge auf den anderen sprang und im

       Begriffe war, sie einzuholen; damit er sie nicht fände,

       versteckten sich Kugelchen und seine Brüder unter

       einer Felsplatte. Da der Zauberer sehr müde war,

       ruhte er sich hernach auf dieser selben Platte aus und

       schlief ein und begann zu schnarchen. Die Jungen

       kamen nun wieder hervor und bekamen einen schönen

       Schreck, als sie den Zauberer mit dem Messer in der

       Hand daliegen sahen, – bereit, sie zu töten. Aber Kugelchen

       wurde lange nicht so bestürzt wie seine Brüder;

       vielmehr gebot er ihnen, schleunigst unter der

       Platte hervorzukommen; und da sie nicht so sehr weit

       vom Hause ihrer Mutter entfernt waren, gelangten sie

       rasch nach Hause. Währenddem näherte sich Kugelchen

       vorsichtig dem Zauberer, zog ihm die Stiefel aus

       und zog sie selber hurtig an, denn diese Stiefel waren

       eben auch zauberisch und passten deshalb jedem.

       Unser Kugelchen begab sich nun gradaus nach dem

       Hause des Zauberers, wo er die Frau neben den

       Leichnamen ihrer Töchter weinend vorfand. »Höre!«

       redete er sie an; »dein Mann befindet sich in grosser

       Gefahr: Räuber haben ihn festgenommen und haben

       geschworen, sie müssten ihn töten, wenn du ihnen

       nicht sein ganzes Geld ausliefertest! Als sie ihm

       schon den Dolch auf die Brust setzten, sah er mich

       und bat mich, dich von der Lage, in der er sich befän-

       de, in Kenntnis zu setzen, und trug mir auf, dir zu

       sagen, du solltest soviel Münzen und Silberstücke, als

       du besässest, zusammensuchen und mir übergeben,

       damit du ihn vom Tode befreiest; und damit du mir

       leichter Glauben schenkest, gab er mir seine Stiefel, –

       auch, damit ich rascher hierherkäme.« Die Frau

       glaubte alles, was ihr Kugelchen mitteilte, übergab

       ihm alles, was sie im Hause hatte, und Kugelchen

       begab sich mit dem ganzen Gelde, das er von ihr erhalten,

       zu seinen Eltern, die ihn sehr willkommen hiessen.

       Gerade zu dieser Zeit war der König jenes Landes

       in grosser Not; denn er wusste gar nicht, was aus seinen

       Soldaten geworden sei, die in den Krieg gezogen

       waren. Unser Kugelchen begab sich zu ihm und erbot

       sich, ihm Kunde von den Soldaten binnen zwölf Stunden

       zukommen zu lassen. Der König hiess das willkommen,

       und Kugelchen bekam richtig heraus, wo

       sich die Truppen befanden, worauf er zum Könige zurückkehrte

       und ihm meldete, dass seine Truppen den

       Krieg gewonnen hätten. Nachdem Kugelchen noch

       lange Zeit im Palaste des Königs geweilt, um Briefe

       an andere Fürstlichkeiten zur Beförderung zu erhalten,

       begab er sich nach Hause und schenkte seinen

       Angehörigen Reichtümer in Menge; und so wurden

       seine Angehörigen durch seine Kraft zu reichen Leuten.

       II. Die Prinzessin, welche hundert Jahre schlief

       und dann heiratete und zwei Kinder gebar,

       namens Sonne und Mond.

       Es war einmal ein König und eine Königin; sie hatten

       keine Kinder, weswegen sie sehr betrübt waren und

       wünschten, sie hätten einen Knaben oder ein Mädchen.

       Schliesslich gebar die Königin ein Mädchen

       und freute sich so sehr über das Kind, dass sie alle

       Zauberinnen ihres Landes zu sich berief und einlud,

       zur Taufe des Kindes zu kommen. Nach der Feierlichkeit

       nahm man ein Frühstück ein, und alle Zauberinnen

       bekamen ein Geschenk vom Könige, – ein goldenes

       Behältnis voll silberner Sachen und vielen Perlen.

       Als man bei Tische sass, trat noch eine Zauberin herein,

       – eine Greisin, die über hundert Jahre alt war und

       die man, weil man gemeint hatte, sie sei gestorben,

       nicht eingeladen hatte. Der König sandte sofort, ihr

       ein goldenes Etui und die übrigen Gegenstände holen

       zu lassen, die er den anderen Zauberinnen gegeben

       hatte; aber man konnte kein Etui für sie ausfindig machen.

       Die Zauberin glaubte nun, dass man ihr das

       getan hätte, weil sie nicht schön sei wie die anderen,

       und begann laut mit ihren Zähnen zu knirschen und

       das Kind mit einem hässlichen Blicke zu betrachten.

       Eine andere Zauberin hörte, wie die Alte etwas mur-

       melte, und da sie meinte, die Alte könne das Kind

       verhexen, versteckte sie sich hinter einem Türvorhange,

       um, wenn die alte Zauberin dem Kinde etwas

       Böses antäte, bereit zu sein, die Sache für das Kind

       abzuändern.

       Unterdessen begannen die Zauberinnen vor dem

       Kinde vorüberzuziehen, und jede begann der Kleinen

       irgend etwas zu wünschen. Zuletzt kam die Alte herbei,

       und jedermann sah mit Angst dem entgegen, was

       sie sagen würde. Sie begann ihr Haupt hinundherzubewegen

       und dabei ihre Lippen verächtlich zu spitzen

       und sprach: »Ich sage, dass dieses Mädchen durch

       Spindeln Unglück erleiden und sterben wird!« Alle

       Anwesenden erschraken über das Grausame in diesem

      

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