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      Alles Käse! Denn der Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff hat gar nicht die Zeit, sich um die seelischen Wehwehchen seiner Gäste zu kümmern, nicht um Müller, Meier, Lehmann und erst recht gar nicht um alle zweitausend Passagiere an Bord. Und das gehobene Bordpersonal ist auch nicht dazu da, die Beichten der Mitreisenden anzuhören und ihnen Tipps zu geben, wie sie ihr Privatleben wieder in Ordnung bringen können. Bleibt der Schiffsarzt. Der sitzt unten auf Deck 3 im Hospital und behandelt jene Patienten, die den Weg zu ihm finden. Er ist kein uneigennütziger Helfer, denn die Kreuzfahrtschiffe sind meist ausländisch geflaggt und daher gilt ein Besuch beim Schiffsarzt als Privatbehandlung, die bezahlt werden muss und meist nicht billig ist. Durch die Medien ging vor längerer Zeit ein Bericht über eine Passagierin, die sich eine Blase am Fuß gelaufen hatte. Der Schiffssanitäter lehnte ab, ihr ein Pflaster zu geben und bestellte sie ins Hospital. Dort sah sich der Arzt den Fuß an, pappte ihr ein Pflaster auf die Haut und stellte ihr für diese Behandlung die stolze Summe von 95 Euro in Rechnung. Allein für das kleine Stück Pflaster hatte man 14 Euro verlangt.

      Wenn Paul also Probleme hatte, so würde er sie weder auf der Brücke beim Kapitän noch beim Schiffsarzt loswerden.

      „Egal!“, sagte ich. „Wenn was ist – bei mir findest du immer ein offenes Ohr. Ich erzähle auch nicht weiter, was dich bedrückt.“

      Paul runzelte die Stirn. „Danke! Aber ich muss das wirklich alles selbst verarbeiten. Da ist so viel über mich hergefallen in der allerletzten Zeit. Etwas, das mein ganzes Leben verändern wird. Positiv, wie ich hoffe. Und dann gibt’s noch Entscheidungen aufgrund schlechter Erfahrungen, die ich fällen will. Manchmal schwanke ich hin und her, ob ich dies oder jenes tun soll. Ach, ich weiß nicht…“

      Depressiv, wie Stephanie gemeint hatte, wirkte er nicht. Nur etwas bedrückt. Jedenfalls würde er nicht in einer Kurzschlusshandlung vom Schiff springen, wie sie in ihren finstersten Vorstellungen befürchtet hatte.

      „Hast du mal deine Probleme vor Stephanie ausgebreitet?“, fragte ich. „Sie ist der Mensch, der dir am Nächsten steht. Du musst mit ihr sprechen. Sicher kann sie dir Ratschläge geben. Ihr führt doch so eine gute Ehe. Ich könnte euch darum beneiden.“

      „Stephanie?“, sagte Paul nachdenklich.

      „Sie liebt dich über alles, hat sie mir gesagt. Und dass kein Blatt Papier zwischen euch passt.“

      „Hat sie gesagt?“ Er blickte mich prüfend an.

      „Ja – du bist für sie immer noch die große Liebe ihres Lebens.“

      „Wenn sie das sagt, wird es wohl stimmen“, sagte er trocken. Es klang ironisch. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. „Gleich zehn! Entschuldige bitte. Ich will ins Theater, mir die Destinations-Präsentation Southampton ansehen.“

      Klar, da würden wir morgen anlegen. Paul klopfte mir auf die Schulter. „Wir sehen uns!“ Er ließ mich stehen wie bestellt und nicht abgeholt und lief mit großen Schritten zum Ausgang der Lounge.

      „Wie weit fährst du mit?“, rief ich ihm hinterher. „Machst du die ganze große Tour oder gehst du in Hamburg von Bord?“

      „Alles!“, rief er, ohne den Kopf noch einmal zu mir umzuwenden. „Die ganzen siebzehn Tage.“

      Und weg war er. Ich blieb nachdenklich zurück. Siebzehn Tage an Bord der „Bella Auranta“. Rund um Großbritannien, dann hinüber nach Rotterdam, nochmals Hamburg und über Belgien und Frankreich endgültig zurück. Das war nicht billig. Ich wusste nicht, ob er eine Innen-, eine Meerblick- oder eine Balkonkabine gebucht hatte. So oder so – er hatte für die lange Reise garantiert angesichts seiner finanziellen Verhältnisse zu tief in die Tasche greifen müssen.

      Hatte Stephanie nicht gesagt, er hätte kaum Geld?

      Seltsam, dachte ich. Dann verließ auch ich die Lounge, die sich allmählich bis auf den letzten Sessel füllte.

      Ich überlegte, was ich an diesem Seetag mit mir anfangen sollte. An Bord gab es viele Möglichkeiten, sich zu zerstreuen. Die Destinationsveranstaltung wollte ich nicht besuchen. Ich buche keine organisierten Ausflüge, sondern gehe stets individuell in die Hafenstädte, wenn ich eine Kreuzfahrt unternehme. Der Shop auf Deck 7 hatte ab 10 Uhr geöffnet – da könnte ich mal reinschauen. Zur Teilnahme am Tanzkurs Disco-Fox fehlte mir die Partnerin. In einem der Restaurants war Frühschoppen. Beim Reiseberater wurde eine neue Schiffsgeneration vorgestellt. Für den Klettergarten auf dem oberen Deck fühlte ich mich zu alt. Und so entschloss ich mich, ein bisschen durch das Schiff zu bummeln, um es genauer kennenzulernen. Ich nahm die hintere Treppe, nicht den Fahrstuhl, und arbeitete mich durch die Decks nach oben durch. Ich entdeckte auch die restlichen Buffetrestaurants und zwei weitere Speisesäle, in denen bedient wurde – bis dahin alles inklusive; dann zwei zusätzliche Bezahlrestaurants und an allen Ecken und Enden diverse Bars. Auf den Decks 7 und 8 landete ich im Wellness- und Sport-Bereich. Passagiere in weißen Bademänteln liefen durch die Gänge – es gab wohl auch eine Sauna. An Kraftmaschinen versuchten Männlein und Weiblein, ihre Muckis aufzubessern und ein Blick in den Kosmetiksalon zeigte mir, wie vergänglich Schönheit ist und dass die Hoffnung zuletzt stirbt.

      Es war schon gegen elf Uhr, als ich meinen Rundgang beendete. Diesmal nahm ich den Fahrstuhl in die Neun hinab. Ich trat aus dem Lift und konnte mich nicht entscheiden, ob ich noch einen Kaffee an der Meeresbar gleich um die Ecke nehmen sollte oder in die Kabine zurückgehen sollte, um mich noch ein bisschen vor dem Mittagessen auf dem Balkon in der Sonne bräunen zu lassen. Ich entschied mich für den Kaffee und schlenderte in den großen freien Bereich zwischen Haupthalle und Bar. Wendete mich dann nach links.

      Und erstarrte!

      Paul saß an der Bar und unterhielt sich angeregt mit einem anderen Passagier. Beide bemerkten mich nicht. Mein alter Studienkamerad und der Mann auf dem benachbarten Barhocker redeten abwechselnd aufeinander ein. Jetzt legte Paul dem anderen seine Hand auf den Arm und lächelte verbindlich.

      Ich dachte, mich trifft der Blitz.

      Denn Pauls vertrauter Gesprächspartner war der „Spanner“, den ich schon im Restaurant entdeckt hatte. Der Mann mit der Kamera, der damals auf dem Friedhof war.

      Als er Stephanie fotografierte.

      Und mich!

      5. Mit einem Schlag

      Am nächsten Morgen legte die „Bella Auranta“ gegen 9:30 Uhr englischer Zeit am Queen Elizabeth II Cruise Terminal in Southampton an. Ich war frühzeitig munter geworden und hatte nach einem zeitigen Frühstück die Einfahrt unseres Schiffes in den Hafen vom Balkon meiner Kabine aus verfolgt. Es würde ein schöner sonniger Tag werden, vielleicht etwas zu warm für lange Spaziergänge. Ich freute mich, die Stadt zu entdecken, von der aus im Jahr 1912 die „Titanic“ ihre erste und zugleich letzte Reise angetreten hatte.

      Gut ausgeschlafen und gut gelaunt sah ich mich in meiner Kabine um. Das Bett war von mir einigermaßen ordentlich zusammengelegt worden. Viel Kram lag nicht herum. Der junge Mitarbeiter vom Housekeeping, ein freundlicher Philippino namens Jimmy, sollte nicht viel Mühe haben. In manchen Kabinen anderer Passagiere, das wusste ich aus Erfahrung, sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa – das Personal musste unnötig viel aufräumen und viel erdulden, wenn dort sauber gemacht wurde. Das wollte ich Jimmy bei mir ersparen. Ich suchte zusammen, was auf den Ausflug in die Stadt mitkommen sollte. Zwei Stadtpläne, die ich aus dem Internet heruntergeladen hatte. Einer von ganz Southampton. Und einer von der Altstadt. Ich öffnete den Mini-Safe, legte meine Euro-Scheine hinein und entnahm ihm Britische Pfund, die ich vor der Reise in Berlin eingetauscht hatte.

      Und den Reisepass nahm ich aus dem kleinen Tresor. Denn wer hier an Land gehen wollte, benötigte neben der Bordkarte auch ein gültiges Reisedokument. In England war Gesichtskontrolle angesagt. Ob man nun an Bord bleiben wollte oder hinaus in die Stadt – jeder Passagier musste sich persönlich bei den britischen Behörden am Ausgang des Schiffes mit seinem Ausweis vorstellen.

      Ich packte vorsichtshalber ein weißes Ersatzshirt in meinen Rucksack, falls ich unterwegs zu sehr schwitzen würde, auch

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