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essen und mich gleichzeitig ein bisschen nach Paul umschauen. Bis jetzt hatte ich noch keine Spur von ihm gesehen. Nicht beim Check-in im Hamburger Terminal, nicht bei der Rettungsübung und auch nicht hier oben. Das war nicht verwunderlich bei mehreren tausend Passagieren an Bord.

      Ich sah mich trotzdem nach ihm um, bevor ich das „Vista Bellisima“ verlassen wollte. Schaute nach rechts, nach links, blieb mal hier und mal dort stehen. Und wurde fast über den Haufen gerannt. Jemand rempelte mich an. Etwas Heißes schwappte auf meine helle Hose und verunzierte sie mit einem hässlichen großen braunen Fleck. Wütend wandte ich mich zur Seite und dem Übeltäter zu.

      Es war eine Übeltäterin. Und was für eine! Sie sah so gut aus, dass mir der Atem stockte, als ich sie sah. Schulterlanges braunes Haar, ein gebräuntes hübsches Gesicht, das jetzt erschrocken wirkte, graugrüne Augen, eine lustige Stupsnase und ein verlockender, leicht geschminkter Mund. Meine Blicke glitten unauffällig an ihr herab und entdeckten, dass sie die perfekte Figur hatte, die durch das ausgeschnittene hellblaue Shirt und die enganliegende dunkelblaue Capri-Jeans voll zur Geltung kam.

      „Ach, mein Gott!“, entfuhr es ihr. Sie erstarrte und hielt die Schüssel mit Gulaschsuppe in der rechten Hand von mir fort, aus der mir etwas auf meinem Hosenbein gelandet war.

      „Sagen Sie doch nicht Gott zu mir“, sagte ich und griff zu einer Serviette vom nächstbesten Tisch, um an meiner Hose herumzureiben.

      „So geht das nicht heraus“, jetzt lächelte sie. Ihre Stimme klang angenehm, mit einem leichten österreichischen Touch. „Es tut mir ja so Leid. Ich habe Sie nicht gesehen, weil ich anderen Leuten ausweichen musste. Es ist ja so voll hier.“ Es war richtig schön, wie sie mich dabei ansah. Wie schnell man sich doch über etwas freuen kann, und wenn es nur eine bekleckerte Hose ist.

      „Kein Problem!“, beruhigte ich sie. „Auf Deck 7 ist ein Waschsalon. Mit Vollautomaten und Trocknern. Nachher ist die Hose wieder wie neu. Ich habe auch noch eine zweite im Koffer.“

      „Also verzeihen Sie mir?“ Ihre Augen blitzten schelmisch.

      „Schon vergessen – der kleine Unfall. Das kann ja jedem mal passieren.“

      Sie streckte die flache Hand zu mir aus und pustete mir symbolisch einen Kuss zu. „Sie sind zu nett. Ein anderer hätte mich erschlagen.“

      „Sie doch nicht“, sagte ich und betrachtete sie noch einmal mit einem bewundernden Blick.

      „Ja, dann…“ lächelte sie.

      „Ja, dann…“, sagte ich.

      Und dann ging sie weg und ich schaute ihr nach. Wirklich – perfekt!

      Als ich mich wieder umdrehte, bemerkte ich, dass der kleine Zwischenfall nicht unbeobachtet geblieben war. Jemand schaute intensiv hierher. Es war ein Mann, etwa einsachtzig, um die Fünfzig, mit schütterem Haar und einem Gesicht, das ich irgendwo schon einmal gesehen hatte. Er steckte in einer Camp-David-Jacke und braunen Hosen und guckte rasch weg, als ich ihn entdeckt hatte.

      An dieser Kopfbewegung erkannte ich ihn wieder.

      Es war der Typ, der Stephanie und mich auf dem Friedhof fotografiert hatte. Oder es versucht hatte. Die Welt ist klein und man sieht sich immer zweimal. Da auch er auf dem Schiff weilte, würde ich ihn vielleicht sogar öfter wiedersehen. Ich war mir nicht sicher, ob er darauf Wert legte. Denn als ich einen Schritt in seine Richtung andeutete, verdrückte er sich im Pulk der neu erschienenen Hungrigen, die sich vor den Buffets drängten.

      Ich folgte ihm nicht. Kam aber ins Grübeln. Warum hatte der Kerl vom Friedhof mich so angeglotzt? Wieso war er überhaupt auf dem Schiff?

      Das konnte doch kein Zufall sein!

      „So ein blöder Spanner!“, schimpfte ich. Damit hatte ich auch ihm einen treffenden Namen verpasst. Ich grinste. „Der Loser“. „Der Spanner“. Ich war heute richtig gut drauf.

      Aber irgendwie war ich trotzdem beunruhigt.

      4. Seetag

      Ich entdeckte Paul am nächsten Morgen nach dem Frühstück auf Deck 10 in der Lounge. Er lehnte in einem der weinroten Sessel, die so aufgestellt waren, dass man durch die Glaswand am Bug des Schiffes fast die gleiche Aussicht aufs Meer hatte wie der Kapitän. Natürlich nur beinahe.

      Die meisten Passagiere spachtelten in den Restaurants noch ihr Rührei, Bratwürstchen und dick belegte Scheiben Brot in sich hinein – nur auf einigen Plätzen hier vorn saßen schon einige wenige Weiblein und Männlein, und der Platz neben Paul war noch leer.

      „Hallo!“, sagte ich und setzte mich in den Nachbarsessel.

      „Hallo!“, echote auch Paul. Er warf mir einen beiläufigen Blick zu, weil er mich zuerst für einen Fremden hielt, sprang aber dann auf. „Mensch, Tom! Wo kommst denn du her?“

      „Deck 9“, grinste ich und erhob mich auch. „Kabine 9272!“

      Wir schüttelten uns die Hände und plötzlich umarmte er mich. „Ich freue mich ja so, dich nach all den vielen Jahren mal wiederzusehen.“

      In der Tat – es waren einige Lichtjahre vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal begegnet waren. Er sah auch nicht mehr so taufrisch aus wie früher. Stephanie hatte sich entschieden besser gehalten als er. Vielleicht hatte sie auch gute Kosmetik. Jedenfalls war ihm eine Glatze gewachsen, die er früher nicht besessen hatte. Auch ein paar Falten hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Aber er freute sich über unsere Begegnung, denn er strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

      „Bist du allein an Bord oder mit Frau?“, fragte er.

      „Solo!“, sagte ich. „Meine beiden Ehen waren nicht so sehr das Gelbe vom Ei. Eine hat mich verlassen, wie du ja von früher weißt, weil sie einen reicheren Mann kennengelernt hat. Dabei wirkte Laura so lieb und anhänglich, als ich sie kennenlernte. Blond, zierlich, fast zerbrechlich. Tja, und die andere, die nächste, hat eines Tages ihre große Jugendliebe wieder getroffen und mir deshalb den Rücken gekehrt. Nicht jeder ist so ein Glückspilz wie du mit deiner Stephanie!“

      Er runzelte die Stirn. „Ja, Stephanie“, sein Tonfall klang gedehnt. „Naja!“

      Ausgesprochen glücklich klang das nicht.

      „Ich habe sie neulich getroffen. Bei der Beerdigung von Sighard Höhne.“

      „Erstaunlich, wie viele von den alten Studienkameraden schon den Abgang gemacht haben“, stellte Paul fest. „Das ist wie ein Fluch. Als ob uns Gott abstrafen wollte, weil wir als damalige Genossen ihn so konsequent verleugnet haben.“

      „Gott ist gutmütig. Das tut er nicht!“ Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sich der Herr ausgerechnet mit uns beschäftigen würde, denn er hatte genug zu tun, diese irre gewordene Welt im Griff zu behalten.

      „Stephanie hat mir gesagt, dass du auf demselben Schiff sein würdest wie ich. Es tat ihr offensichtlich Leid, dass sie nicht mitkonnte, weil sie beruflich so eingespannt ist.“ Insgeheim dachte ich, dass er unter diesen Umständen nicht unbedingt hätte allein fahren müssen, sondern bei ihr daheim bleiben könnte.

      Er ahnte wohl meine Gedanken. „Ich musste mal raus. Eine Zeit lang allein sein. Du ahnst ja gar nicht, mit welcher Menge Probleme ich mich momentan herumschlage.“

      „Willst du mit mir darüber reden?“, fragte ich ihn.

      „Nein!“, sagte er – etwas zu schroff. „Entschuldige bitte meinen Ton“, setzte er hinzu. „Aber ich habe wirklich einiges am Hals. Im Guten wie im Schlechten.“

      Wer die Serie „Traumschiff“, die seit Ewigkeiten im Fernsehen läuft, aufmerksam verfolgt, der denkt, dass sich durch Kreuzfahrten scheinbar alle Probleme lösen. Auf dem Traumschiff steht der Kapitän höchstpersönlich problembeladenen Passagieren zur Seite und erlöst sie von ihren Sorgen und Nöten. Macht er das nicht, dann sind es die Chefhostess und der Chefsteward, die hilfreich in das Dasein der Gäste eingreifen oder das verkorkste Liebesleben anderer Mitreisender wieder zurechtbiegen.

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