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ganz ruhig, beschwor sich Frederik und schloss das Fenster, verharrte für einen Moment. Dann, als müsste er sich selbst einen Ruck geben, stieß er sich von der Fensterbank ab. Leicht geduckt querte er den Raum, die Schritte sorgfältig setzend, so wie es ihn die unzähligen Einsätze gelehrt hatten. Seit vielen Jahren, Jahrzehnten bewegte er sich mit dieser Vorsicht, so wenig Angriffsfläche wie möglich bietend. Daran ließen sich die Langjährigen erkennen, die Dauersöldner.

      Es wäre nur für den Übergang, hatten die Werber der Streitkräfte gesagt. Nur bis der Nahe Osten, bis Afrika wieder stabil seien, tönten sie. Er ahnte damals – nein er wusste um die Schönfärbereien. Wer glaubte schon, dass dort je wieder Frieden herrschen würde … und vor allem – nicht alle wollten das. Die Aussicht auf Abenteuer war trotzdem verlockend gewesen, dieses Wissen so richtig von Bedeutung zu sein. Denn was wären die Industrienationen ohne Seinesgleichen, ohne die Männer und Frauen, die ihre Hälse für die restlichen Ölquellen und Minen riskierten. Die sich durch Dschungel schlugen, durch Sand und Geröll robbten, die mit angeschlagenem Gewehr rohstoffschleppende, menschliche Packesel bewachten. Die Flüchtlingsströme in Schach hielten.

      Sie würden ehemaligen Soldaten Weiterbildungen bezahlen, sagten sie, dann könnten sie sich wieder in die Gesellschaft einfügen … ja supertoll. Wie willst du ein normales Leben führen, wenn du bei jedem Martinshorn aufschreckst und nach der Knarre unter deinem Bett suchst. Wenn du deine Bettgenossin erstichst, weil sie in der Nacht so leise wie möglich nach ihren Schlappen gesucht hat.

      Fünfzig Jahre war er alt gewesen, als er sich bei diesem Workshop langweilen durfte. Sie hatten gesagt, er sei für die Offizierslaufbahn nicht geeignet. Er! Frederik Graber war nicht geeignet! Er war also in Soldatenklamotten in diesem Saal gesessen, auf einem abgewetzten Konferenzstuhl, im Klimaanlagenmuff, sah Schaubilder an sich vorbeiziehen und musste über Büros nachdenken, über geregelte Arbeitszeiten … Anzüge … Rentenansprüche … psychologische Begleitung und all den Weicheierkram. Er sah, wie Leute, die mit ihm im Graben gelegen hatten und über Leichen gestiegen waren, an ihren Nägeln kauten, während sie diesem Psychoscheißer zuhörten.

      Nein danke, hatte er gedacht und sich von einer privaten Söldnergruppe anheuern lassen. In der Straße um die Ecke lag eine der Zentralen. Dort kannte und schätzte man den Wert von Seinesgleichen. Die zahlten gut. Nicht nur das – die zahlten sehr gut, schließlich würden die Freiwilligen nicht vom Himmel fallen.

      Wie anders hätte sein Leben verlaufen können, wenn er in einer richtigen Familie aufgewachsen wäre. Frederik Graber stoppte am Kopfende des längs der Wand stehenden Bettes, direkt neben Bob, der sich an seine Ladestation angedockt hatte und dösig ins Nichts starrte. Ein wenig schmuddelig sah er aus. Bei welcher Krankenkasse er registriert war, ließ sich nur schwer erkennen. Irgendwelche Spaßvögel hatten ihn mit Werbeaufklebern verziert und vorne auf den Klappen, hinter denen Greifer ruhten, waren noch die Umrisse zweier Hängetitten zu sehen. Offensichtlich hatte jemand versucht, sie zu entfernen; aber das Einzige, was er erreicht hatte, waren zwei so blank gescheuerte Stellen, dass man ihren Glanz sogar in dieser Düsternis sehen konnte.

      Noch verirrte sich diffuses Tageslicht vom Fenster in den Raum, erreichte knapp das Bett, strich über die Gestalt darin. In den Scheiben des Radekebaus spiegelte sich Herbstabenddämmerung und flackerte, wenn der Wind in die Baumkrone griff und Blattwerk das Licht zerschnitt.

      „Warum wollte die Mutter das nicht?“, fragte Frederik und beugte sich herab, bis sein Kopf fast über dem des Vaters schwebte. „Warum sollte ich nichts von ihr wissen? Wir leben nicht im finsteren Mittelalter und zu diesen neuchristlichen oder neuislamischen Sekten gehören wir auch nicht.“

      Der alte Mann im Bett schüttelte langsam den Kopf. Wieder herrschte Stille, doch dann … leise Worte, wieder und wieder.

      „Mutter … Semra … Mutter“, murmelte der Sohn, als müsste er ein Mantra einstudieren, als horchte er den Worten nach, um sie auf ihre Glaubwürdigkeit hin abzuschmecken. Er dachte an sein Leben, an das große Haus und er hätte den Alten am liebsten gepackt, gewürgt, stattdessen griff er nach dem Kopfende des Bettes und rüttelte ein- zweimal kräftig, unverständliche Flüche herauspressend. Die Gestalt im Bett fuhr zusammen und eine gekrümmte Greisenhand hob sich aus der Baumwolllandschaft und wedelte, als wolle sie Fliegen verscheuchen.

      „Verdammt!“, schleuderte Frederik in den Raum. „Du kannst mir nicht erzählen, dass ihre Verwandten nichts, aber auch gar nichts bemerkt haben.“

      "Verleugnete Schwangerschaft."

      "Eine was?"

      "Sie verleugnete die Schwangerschaft, hat es bis zum Schluss nicht gemerkt, hatte sogar ihre Tage, angeblich. Hatte keinen richtigen Bauch, wirkte nur ein wenig ... fülliger."

      "Aber danach, als ich geboren war."

      „Sie sprach mit niemand, und die Schwestern waren zu klein, ganz zu schweigen von deinem Halbbruder. Sie wurde in irgend so eine Psychosomatische Klinik gesteckt. Danach ist sie zu ihrem Mann zurück. Aber das tut nichts zur Sache. Ich … ich hab mich doch gekümmert, hab dich allein aufgezogen“, presste Rudolf Graber so heftig heraus, dass sich der magere Brustkorb vor Anstrengung verkrampfte. Für ein paar lange Sekunden betrachtete der Sohn den Alten wie ein Wissenschaftler eine sich in Agonie krümmende Laborratte.

      „Du hättest es mir sagen sollen“, zischte er endlich, wendete seinen Blick ab und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, bis er ruhiger wurde.

      „Frederik ...“, flüsterte es nach einer Weile. Der alte Mann schloss die Augen, presste sich die Hände auf den Brustkorb.

      „Was ist? Soll ich den Arzt rufen?“

      Rudolf Graber schüttelte den Kopf und winkte mit einer müden Handbewegung ab.

      „Wie du willst.“ Frederik zog einen Stuhl herbei und hockte sich neben das Bett, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Der Atem des Älteren ging pfeifend und so schwer, als wäre die Bettdecke eine unerträgliche Last.

      „Ich hätte nichts sagen dürfen ...“, jammerte er leise.

      „Na – jetzt bist du es los und kannst beruhigt in die Grube steigen. Ist doch schön für dich“, spottete Frederik Graber und richtete sich auf. „Ich denke, die anderen sollten es auch wissen.“ Er knirschte mit den Zähnen. Sogar der Alte schien es zu hören und versuchte sein Gesicht dem Sohn zuzudrehen.

      „Frederik!“, hauchte er und streckte sich höher, doch nur ein leises Lachen schwebte durch den Raum.

      „Vielleicht wird jetzt alles anders, ein neues Leben beginnt“, antwortete Frederik Graber und starrte geradeaus, starrte zum Fenster, zu der großen, alten Kastanie, zum Haus dahinter, als das Bild von einem rot pulsierenden Schimmer verwischt wurde. Er drehte sich zu Bob. Neben dem kleinen, roten Herz blinkte nun ein größeres, rotes Kreuz.

      „Sieht aus, als müsste ich doch den Arzt rufen – das Kreuz blinkt.“

      „Ach nein … mach's aus, ich brauch nur ein wenig Ruhe.“

      Frederik Graber lächelte, stand auf und tippte auf den Schirm am Rücken des Care-Rob. Zwei Felder erschienen – eines für den Fingerabdruck und eines für das Passwort. Grabers Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen.

      „Glaub nicht, dass die zivilen Pfleger gewissenhafter sind als die militärischen“, murmelte er und tippte den Namen des Vaters ein. Nichts geschah. Graber überlegte. Dann tippte er den Namen mit Geburtsjahr dahinter und das Kreuz erlosch. Nur das Herz pulsierte weiter, lautlos, unregelmäßig rasend. Frederik Graber wartete eine paar Minuten, sah sich dabei im düsteren Raum um. Sie hatten die Möbel einfach zusammengeschoben. Unter dem Fenster lagen die Teile des Regals, das anstatt des Bettes an der Wand gestanden hatte. Sein Blick blieb an einem kleineren Bildschirm hängen. Er war an einem Schwenkarm über dem Kopf des Alten befestigt. Frederik sah zu Bob - der Herzschlag war noch unregelmäßig, hatte sich jedoch verlangsamt. Er berührte des Vaters Schulter. Der rührte sich nicht, schien tatsächlich eingeschlafen zu sein; also zog Graber das Gerät zu sich und tippte auf die fettig glänzende Fläche. Sie antwortete mit einem weißen Quadrat auf grünem Grund. Er betrachtete den im Bett Ruhenden, sein

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