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das immer einen Augenblick später einsetzte.

      Der von Semras Kindern engagierte Trauerredner war aus Anstand noch mitgekommen und im Hintergrund stehengeblieben. Er hatte anscheinend genauso wenig verstanden wie der Rest der Familie und war ehrlich bemüht gewesen, das aufkommende Gähnen zu unterdrücken.

      Wäre netter gewesen, wenn eine ihrer Garten-Freundinnen über Wachsen und Vergehen philosophiert hätte, dachte Lena, während sie der Tante im Vorraum aus dem Mantel half und ihn auf einen Bügel hängte. Anna blieb vor dem Spiegel stehen. Ein prüfender Blick. Das akkurat schulterlang geschnittene Grauhaar glattstreichend beugte sie sich vor. Lena sah ihr zu, wie sie über die unteren Lider ihrer vom Weinen geröteten Augen strich.

      Der älteren Tante genügte der Kontrollblick über den Scheitel der Schwester hinweg. Bei Marianne gab es selten etwas zu korrigieren. Die dunkel gefärbten Haare waren zu einem Knoten gebunden, aus dem sich keine Strähne zu lösen traute. Auch das dunkelblaue Kostüm und das schwarze, um die Schultern gelegte Tuch saßen, als hätte sie sich gerade eben frisch eingekleidet. Sie hatte es auch nicht nötig ein ID-Band um das Handgelenk zu tragen, als dass jemand wie sie die ID-Karte vergessen würde.

      "Schön dich zu sehen", sagte Lena zu ihrem Bruder, als die beiden Tanten im Wohnzimmer verschwunden waren.

      "Ich freue mich auch", sagte Malte und breitete ein wenig die Arme aus. "Auch wenn mir ein anderer Anlass lieber gewesen wäre."

      Lena wollte ihn, so wie sie es immer getan hatte, kräftig drücken; aber Malte hielt nur ihre Schultern und hauchte eine Art Kuss in die Nähe ihrer Wange. Das war auch schon mal herzlicher, dachte Lena. Eigentlich hätte sie jetzt etwas mehr Emotionen gebraucht.

      "Du bist dünn geworden", sagte Lena, seine Arme festhaltend.

      "Ich hab viel zu tun."

      "Und du konntest den ganzen Text auswendig." Sie musterte sein hageres Gesicht. Früher bildete die helle Augenfarbe einen netten Kontrast zu seinen dunklen Haaren, sehr beliebt bei den Mädchen. Jetzt blickten sie ernst, ja beinahe zornig auf die einen Kopf kleinere Schwester herunter.

      "Wenigstens einer sollte bei der Beerdigung einer Muslima die richtigen Worte kennen."

      "Du weißt, was unsere Großmutter über Religion dachte."

      "Immerhin wollte sie nach dem rechten Ritus beerdigt werden. Für ihre Familie ist das ein Trost. Wenn auch ein schwacher."

      "Diese tolle Familie war nicht einmal anwesend."

      "Sie haben den Neffen geschickt."

      "Der Beter ist ihr Neffe?"

      Er nickte und wandte sich ab, um zu den anderen zu gehen.

      "Und du? Malte?"

      "Und was."

      "Bei uns war Religion noch nie ein Thema. Wie kommt es ...?"

      "Ich gehe denselben Weg, den unserer Vorfahren auch gegangen sind."

      "Eine Hälfte unserer Vorfahren."

      "Für mich eine wichtige."

      "Katholisch hätte es ja auch getan; so wie bei Mutters Familie."

      "Ist nicht meine Welt. Deine etwa?"

      Meine auch nicht, ging es Lena durch den Sinn.

      "Malte! Lena! Kommt ihr auch? Oder soll ich euch etwas vom Buffet in den Flur bringen?", rief die Mutter aus dem Wohnzimmer, und Lena war froh, dass sie ihm in diesem Moment nicht antworten musste.

      "Wir kommen schon, Ruth", antwortete Malte und legte seiner Schwester die Hände an die Schultern. "Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über Religion zu diskutieren." Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Wohnzimmer, wo sich Gerhard gerade mit einem vollen Teller vom Buffet löste.

      "Toll, was du an diesem einen Tag organisieren konntest, liebe Ruth!", rief er und setzte sich an den Esstisch.

      "Nur ein paar Kleinigkeiten", antwortete sie und winkte ihre Kinder herbei. "Schön dass du es doch noch geschafft hast." Mutter und Sohn umarmten sich. "Du siehst gut aus." Sie legte eine Hand an seine Wange und nickte zufrieden. Dann widmete sie sich wieder dem Buffet und schob die Häppchen mit einem großen Löffel zurecht.

      "Hast du gehört?", flüsterte Malte seiner Schwester ins Ohr "Mutter sagt, ich würde gut aussehen."

      "Bei Mutter sieht alles gut aus, was nah an der Magersucht ist", antwortete Lena.

      "Du bist unmöglich."

      "Ach ja?"

      Malte schüttelte den Kopf und ging auf seinen Vater zu. Der konzentrierte sich gerade darauf, eine Flasche Weißwein zu entkorken. Lena folgte ihm, spürte die heimlichen Blicke der Verwandten und ahnte, dass sie nicht ihrer Person galten. Sie alle hatten Malte beobachtet, wie er andächtig mitgebetet hatte. Vater und Sohn umarmten sich, hielten sich für einen Moment fest.

      "Ich bin froh, dass du hier bist", sagte der Ältere, trat einen Schritt zurück und griff nach einem Weinglas.

      "Nur Wasser bitte", sagte Malte.

      Als hätte jemand ein Kommando gegeben, war es für einen Moment still. Eine kleine Störung in der Verbindung, ein Stocken im Videoclip. Dann raschelte Kleidung, jemand räusperte sich und sie setzten ihre Gespräche fort.

      Erhan Radeke schien sich nicht darum zu kümmern. Er nahm die Wasserkaraffe und füllte eines der Saftgläser, reichte es dem Sohn.

      "Ich hätte gern ein Glas Wein", sagte Lena und sah zu, wie der Vater einschenkte, betrachtete seine hängenden Schultern, den müden Ausdruck im Gesicht.

      "Danke", sagte sie und hätte gern noch etwas hinzugefügt, aber er schob so konzentriert die Gläser auf seinem Getränketisch zurecht, dass sie sich abwandte. Geht ihm wahrscheinlich ähnlich wie mir, dachte Lena, er ist müde und traurig und würde sich am liebsten zurückziehen. Schon seltsam, sie nippte an ihrem Wein, da hältst du die Eltern dein Leben lang für unsterblich, und plötzlich, als hätte das Universum einen Sprung gemacht, bricht die Erkenntnis in dir auf, dass sie mehr Jahre hinter als vor sich haben. Ich sollte öfter hier vorbeischauen.

      Sie schlenderte zum Esstisch und stellte ihr Glas an einem Platz ab, der möglichst weit entfernt von Gerhard war.

      Das Buffet bot etwas für jeden Geschmack. Außer einer selbst gekochten Suppe, gab es appetitlich angerichtete Häppchen, verschiedene Brotsorten mit Dips und eine Käseplatte vom Lieferservice. Lena probierte von jedem und versuchte es dem Vater gleichzutun, indem sie sich auf ihre Speisen konzentrierte und nicht auf das durcheinander plätschernde Familiengemurmel achtete. Ab und zu warf sie einen Blick auf die Wand, an der ein großer Folienschirm haftete. Im Moment ruhte er in einer Art Dekor-Modus, zeigte eine Dünenlandschaft, in der die Grashalme ganz leicht im Wind zitterten. Am Rand konnte sie die Nachrichtenleiste erkennen. Ab und zu ruckten die Titel nach unten. Sie sah zu, ohne die Inhalte aufzunehmen, bis ein Absender auftauchte, der offensichtlich von einer Immobilienfirma kam. Darunter leuchtete grün und in kleiner Schrift der Anfang der Nachricht. Lena blinzelte ein wenig, ihre Hand mit dem Brotstückchen senkte sich. Sie würden sich bedanken ... für das Interesse an Wohneinheiten im S1- und S2 ... Mehr wurde nicht angezeigt. Kalt und unbeirrbar wie eine Schnecke schob sich Kräuterquark auf ihren Zeigefinger. Sie leckte die Masse ab und schob das Brotstückchen hinterher und überlegte, was das bedeuten könnte. Sie würden doch nicht von hier wegziehen wollen, das Anwesen womöglich verkaufen; oder doch?

      Ihr Blick richtete sich zur Fensterfront, zum Garten mit seinen Obstbäumen am Ende des Grundstücks; dort, wo sich die Strahlen der Nachmittagssonne zwischen die Blätter zwängten und helle Flecken auf einen herbstlichen Gemüsegarten malten. Allerdings musste Lena zugeben, dass diese Großmutter die einzige Person war, die sich tatsächlich für den Garten interessiert hatte.

      Semra war Ernährungswissenschaftlerin gewesen; allerdings eine, die ihre Nase lieber in Grünzeug als in Lehrprogramme oder Bücher steckte. Also gab sie praktische Kurse anstatt sich in Forschungslabors zu verkriechen. Sie gründete eines der bekanntesten Internetportale, über

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