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war das nochmal mit Tilmann vor ein paar Tagen? Er hätte eine Wohnung in Aussicht? Breit grinsend steht er vor mir, sieht aus, als habe er ein seltenes Tier gejagt und wolle es mir nun präsentieren. Eine feine, kleine Kunstpause legt er ein und rückt dann damit heraus. In einem S1-Bezirk wäre sie, da könnte ich doch endlich mit ihm zusammen ...

      "Ich geh wieder rein", unterbrach der Vater ihre Gedanken und ging zur Terrassentür. Malte folgte ihm auf dem Fuß. Lena hätte gern noch ein paar Worte mit dem Bruder gewechselt, ohne dass die halbe Verwandtschaft zuhörte. Aber genau das schien er vermeiden zu wollen; also spazierte sie den beiden Männern hinterher. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, verstummte das Gespräch, als drückte jemand die 'mute'- Taste mitten in einem Film.

      "Gut dass ihr kommt", begann Julia. "Wir sprechen gerade davon, dass wir am Samstag Vaters Geburtstag feiern wollen. Das wird gleichzeitig eine kleine Einweihungsfeier für unsere Wohnung."

      "Da könnt ihr sehen, wie nett es in einer S2-Zone ist", sagte Gerhard. "Vielleicht gefällt es dir ja auch."

      "Ich weiß nicht." Lena schüttelte den Kopf.

      "Kinderzentrum ist in der Nähe, es gibt einen schönen Park mit Laufpfaden."

      "Ich würde mir wie ein Hamster im Käfig vorkommen, der sich ab und zu in seinem Laufrad abarbeitet."

      "Schau es dir einfach an", sagte Gerhard und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Tilmann fand die Siedlung auch schön."

      "Tilmann?" Lena machte einen Schritt zurück, bis die Hand von ihrer Schulter abglitt.

      "Ja, ich habe ihn letzten Freitag in der Stadt getroffen. Er war tatsächlich stolz auf die Aussicht, eine S1-Wohnung zu bekommen. Kaum zu glauben, was? Also hab ich ihn auf einen Kaffee eingeladen."

      "Davon hat er mir nichts gesagt." Lena spürte, wie Groll in ihr aufstieg.

      "Hat sich so ergeben", mischte sich Julia ein. "Er hatte nicht viel Zeit. Aber er will unbedingt mit dir darüber ..."

      "Was du nicht sagst", fuhr Lena dazwischen, und mit einem 'Ich brauche noch einen Kaffee' wandte sie sich ab. Sie hörte noch Gerhards Beschwichtigung, von wegen, Tilmann habe doch nur mal schauen wollen; aber das interessierte sie nicht mehr. In der Küche blieb sie vor dem Kaffee-Automat stehen und betrachtete das gerundete Chrom über dem Auslass, wie sich ihre Nase zu einem Troll-Riechorgan spiegelte, drumherum wirres Schwarzhaar.

      Wie war das nochmal am Samstag? Als wir uns per Video-Chat gestritten haben? Piept mich am frühen Morgen an, will mir einen schönen Tag wünschen, bevor er zu dieser Konferenz fährt. Muss ein reizender Anblick gewesen sein.

      Müde hatte sie sich auf dem Schreibtischstuhl gelümmelt, nur mit einem alten Riesenshirt und dieser verblassten Boxershorts bekleidet, die mit den Palmen drauf. Und weil sie kalte Füße hatte, streifte sie sich zwei von den drei Socken über, die so herumlagen. Sie hatte Tilmann beobachtet, wie er im dunkelblauen Anzug und weißen Hemd hin- und her eilte und seine kleine Reisetasche packte. Richtig akkurat machte er das, und irgendwie nervte es Lena. So wie sie einiges an ihm nervte in letzter Zeit. Zum Beispiel sein nachsichtiges Grinsen, als sie die Füße hochlegte, ein dunkelgrauer Wollsockenfuß auf dem Schreibtisch, den anderen hellgrauen auf die halb herausgezogene, zweite Schublade von unten. Sein 'fall nicht', als sie anfing mit dem Stuhl zu kippeln. Ein schlechter Anfang war das. Vor allem am frühen Morgen, wenn sie noch keinen Kaffee im Magen hatte. Und in diesem Moment fragt er Lena, was sie von S2-Sicherheit halte. Dabei wusste er genau, was sie davon hielt.

      Das seien Krebsgeschwüre, die sich in Städte hineinfräßen, hatte Lena gezischt und ihn gefragt, ob er sich schon mal Luftaufnahmen angesehen habe? Zeit zum Antworten hatte er nicht bekommen, stattdessen redete sie sich in Rage. Erst seien es kleine Siedlungen am Rand, sie würden anschwellen, sich in die Citys fressen, zusammenwachsen, und irgendwann seien normale Leute ausgesperrt. Und dabei machte sie eine Bewegung mit ihren Händen, als wolle sie eine matschige Melone auspressen. Schlimm genug, dass sie dort S1-Standards eingeführt hätten. Wehe man habe nicht seinen ID-Chip bei Fuß; dann sei nix mit Shoppen oder Ausgehen.

      Lena hatte sein Gesicht gesehen und für einen Moment tat er ihr leid. Ein paar Sekunden schwiegen sie. Schließlich hatte er den Reißverschluss seiner Tasche zugezogen und gesagt, normale Leute bekämen normalerweise eine Berechtigung, alle anderen wolle er ohnehin nicht in seiner Nähe haben. Und er hatte eine Kunstpause eingelegt.

      'Genauso wenig wie du. Du magst auch keine Randzonen-Asis als Nachbarn', hatte er ihr dann an den Kopf geworfen. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er damit gar nicht so falsch lag.

      Lena stellte eine Tasse unter den Auslass. Zischend strömte die braune Flüssigkeit heraus. Als eine Art Friedensangebot hatte sie ihm versprochen, sich die Präsentation genauer anzusehen, die er ihr vor zwei Tagen geschickt hatte: S1-Zone Augustinertal, ein nettes Viertel, dieser Ausläufer der Innenstadt. Es gab auch einen Verweis auf die Siegfriedshöhe, eine S2-Siedlung, in die sich Julia und Gerhard eingekauft hatten.

      Es war eine beeindruckende Vorstellung gewesen. Als würde dem Betrachter das Paradies versprochen. Bürger erzählten, wie sie früher wach in ihren Betten gelegen waren, bei jedem Geräusch zusammenzuckten. Wie sie in ständiger Angst um ihre Kinder gelebt hatten und wie entspannt nun alles wäre. Lena betrachtete das Elternpaar, Premium-Modelle aus der Fotoserie einer Nobelsamenbank, wie sie auf der Couch saßen, einen Tierfilm betrachteten, während in der Ecke oben rechts eine kleine Umgebungskarte gezeigt wurde.

      Was meinst du, fragte sie, sollen wir nachschauen?

      Aber natürlich, antwortete der und wedelte mit einer Hand. Die Avatare der Kinder erschienen. Noch ein Wedeln und eine Karte ploppte auf, die nicht nur anzeigte, wo sich die Brut befand. Nein, das Grüppchen wurde herangezoomt, die Freunde drumherum, das Kind, die Hand des Kindes, das Band an seinem Handgelenk, schimmernd. Mutter und Vater entrückt auf der Couch. Sanfte Musik, 'das könnte Ihr Leben sein, Ayla-Lena Radeke', säuselte es und die Köpfe der beiden veränderten sich, morphten zu ihrem eigenen Gesicht und Tilmanns.

      Teufelnocheins, hatte sie gemurmelt und den Schirm abgeschaltet.

      Lena schüttete ein, zwei Löffel Zucker in den Kaffee, lehnte sich an die Arbeitsplatte und rührte und rührte. Ganz weiß war die Küche. Chromblitzend die Geräte. Ihr Blick fiel schließlich auf das Display neben der Tür. Das Übliche – bunte Grafiken, die den täglichen Bedarf an Energie, Vitaminen und Spurenelementen aufzeigten, dazu die bisherigen körperlichen Aktivitäten. Die Bilanz der Mutter war exzellent; oder anders ausgedrückt - sie dürfte sich ruhig noch einen Nachschlag am Buffet gönnen. Tannengrün leuchtete die Gewichtsanzeige und oben rechts prangte der ihr zustehende Krankenversicherungs-Rabatt.

      Wie wohl Vaters Zustand aussah, überlegte Lena. Sie müsste nur ein, zwei Felder berühren.

      Lena lauschte in den Flur, ein Blick um die Ecke. Beide Tanten standen schon mit dem Vater in Richtung Tür. Lena tippte auf den Schirm, und die Werte ihres Vaters schoben sich in den Vordergrund. Dort leuchtete es ebenfalls bunt, allerdings nur die Soll-Werte. Scheint, als habe der alte Herr keine Lust auf Senso-Fit. Seine apfelsinenfarben leuchtende Gewichtskurve endete vor einigen Monaten.

      "Wir sehen uns ja am Samstag", kam Mariannes Stimme vom Flur "Ich will Josef nicht allzu lange allein lassen".

      Lena schob Mutters Daten wieder in den Vordergrund und schlenderte zur Tür.

      "Aufbruchstimmung?", fragte sie.

      "Wir wollen nicht so spät nach Hause kommen", sagte Tante Anna und ließ sich von Malte in den Mantel helfen. Er nahm seinen Rucksack auf.

      "Du gehst auch schon?", fragte Lena.

      "Sie nehmen mich mit in die Stadt. Von dort aus kann ich mit der Bahn zu meinem Standort fahren."

      "Julia und Gerhard fahren später – die würden dich bestimmt mitnehmen.“

      "Ich bin doch nicht lebensmüde."

      Nachdem sich alle verabschiedet hatten, begleitete Lena den Bruder noch nach draußen.

      "Und wie ist dein Pflichtdienst?"

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