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Arbeitskraft Teil einer Tauschbörse werden konnte. Genossenschaften sprossen wie Unkraut in den Regionen. Abgelegene Grundstücke wurden gekauft, gepachtet. Die Mitglieder trafen sich je nach Jahreszeit auf Märkten, tauschten und verkauften in steuerfreien Mengen. Alles vor den Nasen hilfloser Steuerbehörden und Agrarkonzerne, denen die Agrar-Anarchos ein Dorn im Auge waren.

      Lena strich über das Tischtuch, fühlte die Delle darunter, die sie als Kind mit Bleistift vollgekritzelt hatte, während Semra von früher erzählte. Sie hatte nicht genug davon bekommen können und sich jedes Mal gefreut, wenn die Eltern am Samstagabend ausgingen und Lena vorher mit Rucksack und Stofftier bei der Lieblingsoma absetzten.

      Geschichten über die kleine Semra, die nach ein paar Monaten auf der Grundschule schon besser deutsch sprechen konnte als der Vater. Wie sie der Mutter übersetzen musste, weil diese nie mehr als "guten Tag", "danke" und "bitte" über die Lippen brachte. Wie die Lehrerin zu ihnen nach Hause gekommen war, um den Vater zu überreden, dass Klein-Semra unbedingt auf das Gymnasium gehöre.

      "Weißt du", hatte Semra gesagt, "deinem Urgroßvater waren Traditionen sehr wichtig; aber in diesem Punkt nicht. Ich habe es in seinen Augen gesehen, dass er unglaublich stolz auf sein schlaues Mädchen war." Dabei zwinkerte sie mit den Augen, leuchtende Augen, so schwarz wie der Kaffee, den sie immer neben sich auf dem Tisch stehen hatte.

      Lena stand auf, um Teller und Besteck in die Küche zu bringen, dachte an die Stunden, die sie mit der alten Dame im Garten verbracht hatte, an neongelbe Gummistiefel im Winter und nackte, erdige Füße im Sommer und lächelte unwillkürlich ...

      "Na? Was geht dir denn im Kopf herum?" unterbrach die Stimme des Vaters ihre Gedanken.

      "Omasema."

      "Omasema", sagte der Vater und musste lachen. "Wie sie diesen Namen gehasst hat." Er nahm ihr Teller und Besteck aus der Hand und räumte alles in die Spülmaschine.

      Wer würde sich jetzt um den Garten kümmern?, fragte sich Lena. Mutter Ruth bestimmt nicht. Der Vater vielleicht? Und was hat es mit dieser Nachricht auf sich? Aber sie schluckte die Frage hinunter. Nicht heute. Wer weiß, was für eine Lawine sie dann lostreten würde.

      "Stunden konnte ich bei ihr im Garten oder neben ihr am Schreibtisch verbringen", sagte sie stattdessen.

      "Du konntest gerade mal rechnen, da hat sie dich Tabellen ausfüllen lassen."

      "Ich hab später sogar Texte für ihre Infoseiten verfasst."

      "Ach, wusste ich gar nicht." Der Vater nickte anerkennend "Jetzt ist mir auch klar, warum du Klassenbeste in Bio und Chemie wurdest."

      "Und die Sache mit diesen Patenten auf Saatgut. Erinnerst du dich?"

      "Ja", murmelte der Vater und schaute in die Ferne. "Da war was los. Hätte nie gedacht, dass wir mal Polizei im Haus haben würden."

      "Was hatte ich für eine Angst! Ich dachte, jetzt flippt sie aus, gleich springt sie dem Polizisten ins Gesicht. Habe sie schon im Knast gesehen." Lena blickte in die Ferne, als könne sie von dort einen Film aus der Vergangenheit abrufen. Sie erinnerte sich noch gut, wie Semra vor dem großen Uniformierten getobt hatte, eine Fäuste schwingende Furie. Aus dem grauschwarzen Zopf gelöste Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. So malte man Hexen im Mittelalter. Sie war schon immer eine von den Kleineren gewesen; aber mit ihren weit über siebzig Jahren hatte sie noch ein paar Zentimeter eingebüßt und reichte dem Mann gerade mal bis zur Brust. Er war stumm und breitbeinig vor ihr gestanden, während im Hintergrund Pakete und Laptops aus dem Haus getragen wurden.

      "Ich hätte öfter kommen sollen", flüsterte Lena. "Irgendwie bin ich nie auf den Gedanken gekommen, sie könnte sterben."

      "Bis auf die Falten, und dass sie immer winziger wurde, sah sie auch nicht danach aus. Trotz ihrer neunzig Jahre", sagte der Vater und streichelte ihre Schulter. "Du hast viel Ähnlichkeit mit ihr."

      Aber nur äußerlich, dachte Lena. Sie strich sich mit der Hand über den Kopf, ergriff den Zopf und zog ihn sich über die Schulter. Dunkel und schwer lag er über ihrer Brust. Kurzhaarschnitt sei vorteilhafter bei untersetzter Statur, hatte Julia vor ein paar Wochen gesagt. Lena streckte den Rücken, als Ruth im Flur erschien. Drahtig und hochgewachsen verharrte die Mutter für einen Moment in der Tür. Ok - eindeutig untersetzt, seufzte es in Lena; aber das war heute nicht wichtig.

      "Na ihr zwei?", sagte Ruth und betrat die Küche. Sie blieb neben Erhan stehen und strich ihm sanft über den Rücken. "Wir könnten doch mal Kaffee anbieten."

      "Alles vorbereitet", sagte Erhan und zeigte auf den Kaffeeautomat, neben dem bereits Tassen und ein Körbchen mit Löffel standen.

      "Sehr schön." Ruth lächelte und stellte noch Milch, Süßstoff und Zucker daneben.

      Das war einer der Momente, in denen Lena spürte, dass dieses auf den ersten Blick ungleiche Paar, sich einigermaßen ergänzte. Ein dunkler, zur Rundlichkeit neigender Mann in den Sechzigern und seine gleichaltrige Frau, immer straff und beherrscht.

      Wahrscheinlich hatte er geahnt, dass er jemand an seiner Seite brauchte, der ihm die Füße auf dem Boden halten würde. Sonst hätte er sich als Musiker versucht und wäre kreuz und quer durch Europa gereist, um seine Ursprungsmusik an die Leute zu bringen. Musik – made by Erhan Radeke und seinen Spielleuten. Mittelalter, gnadenlos gemixt aus den Klängen ganz Europas, für ein paar Tage der Renner bei alten Videoportalen, danach weggespült vom nächsten Clip-Tsunami.

      "Ich kümmere mich schon um die Gäste", sagte Ruth und marschierte aus der Küche.

      "Wie wäre es mit einem Gang auf die Terrasse?", fragte Erhan.

      "Oh ja gern. Wahrscheinlich haben wir dann Gerhard an der Backe."

      "Ist nicht schlimm", sagte der Vater und tippte auf das Display des Automaten. Er griff in eine Schublade und schob sich Zigarettenpäckchen und Feuerzeug in die Hosentasche. Anschließend marschierten sie mit ihren Tassen aus der Küche, durch Flur und Wohnzimmer und Lena sah im Vorbeigehen nur noch Dünenlandschaft und Gräser an der Wand. Die Nachrichtenleiste war abgeschaltet worden.

      Wenige Minuten später saßen sie mit Gerhard auf der Terrasse. Hier würde die Nachmittagssonne noch für eine knappe Stunde ihre Strahlen hinschicken, und es war so windstill in dieser Ecke, dass sich die drei Rauchfähnchen nahezu senkrecht in die Höhe schnörkelten.

      "Dass diese Unsitte noch immer nicht ausgerottet ist", brummte Malte, als er aus dem Haus kam.

      "Im Gegensatz zu früher, ist das nun etwas Besonderes", sagte Gerhard.

      "Ungesund ist es trotzdem."

      "Ach Malte", murmelte der Vater und richtete den Blick in den Garten.

      Malte folgte Erhans Blickrichtung. "Es ist hier im Garten passiert?"

      "Ja. Dort hinten beim Gemüse ist sie einfach ... umgefallen" Er schluckte. Wischte sich über die Augen und zog dann so fest an seiner Zigarette, dass sie das Knistern hören konnten. Malte räusperte sich, steckte die Hände tief in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch.

      "Hast du es ... gesehen?", flüsterte es zwischen den Schultern hervor.

      "Nein." Erhan nahm sich noch eine Zigarette und zündete sie an. Malte sagte nichts, und wenn er so etwas wie Missbilligung fühlen sollte, hatte er sein Gesicht gut im Griff. "An dem Morgen sehe ich Mutter, wie sie in den Garten geht. Dick eingepackt in das alte Fleecezeug. Die Sonne scheint so schön, und ich denke mir, jetzt frühstückst du gemütlich und schaust, ob du ihr nachher helfen kannst. Ich trinke also meinen Kaffee, lese in den Nachrichten, trinke noch einen zweiten und gehe dann raus. Und da sehe ich sie. Wie sie da liegt. Die Hände vor ihrer Brust ineinander verkrallt. Genau auf dem Weg zwischen Möhren und Mangold. Wollte wohl nicht mal beim Sterben ihren kostbaren Pflanzen schaden. Ich berühr sie an den Händen, ihre erdigen, krummen Finger. Kalt, wie aus der Erde gerupfte Wurzeln." Er zog an seiner Zigarette, streckte die Hand aus, als liege sie vor ihm. "Ich fühle an ihrem Hals ... nichts. Kein Leben. Nicht ein bisschen. Irgendwann kommt der Arzt, stellt seine Tasche ab. Mitten in die Petersilie." Er lachte auf. "Stellt euch vor. Meine Mutter liegt da tot und ich denke an die

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