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Die Wurzelsucher. Sabine Stegmeyer
Читать онлайн.Название Die Wurzelsucher
Год выпуска 0
isbn 9783750236974
Автор произведения Sabine Stegmeyer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er warf die Tasche in den Flur. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein neugieriger Vermieter. Kurz bevor er die Tür ins Schloss drückte, hörte Graber noch das Schrubben von Reifen in Kies und das Quietschen eines Garagentors; dann drehte er zweimal den Schlüssel, die Außenwelt war ausgesperrt. Für heute Nacht würde er hier bleiben, dem Rest der Montagsdemonstranten aus dem Weg gehen. Dass dieses Randzonenpack überhaupt noch in die Innenstädte gelassen wurde. Sollen doch froh sein, dass sie eine Grundsicherung bekamen. Und diese engagierten Intellektuellen, die dauernd von Freiheit faselten und von bösen Konzernen. Für ein paar Monate vom Netz abhängen und zum Kampfroboterölen in die Wüste schicken, das wäre das Richtige, dann würden die auch mit dem Soldaten-sind-Mörder-Mist aufhören. Er nahm die Tasche auf und folgte dem Schimmern, das aus dem Zimmer am Ende des Flurs flimmerte.
"Jemand gestorben bei Radekes?"
"Ja. Die alte Frau Radeke."
"War ja alt genug."
"Ich war gerade den ersten Tag zu Hause. Da wecken mich die Sirenen vom Notarztwagen. Ich konnte die Leute im Garten hören und ich bin zum Fenster. Semra ist ..."
"Sie ist was?", fragte Graber. Nur schweres Atmen antwortete ihm. "Meine Fresse", brummte er "man könnte meinen, deine Mutter wäre gestorben." Er drehte Richtung Küche ab und inspizierte den Inhalt des Kühlschranks.
***
"Das hättest du mir vor zwanzig Metern sagen können", maulte Gerhard und stoppte den Wagen vor der Haustür. Die Statusanzeigen erloschen und das Display verabschiedete sich mit einem flammenden "Sounddesign Rrrracer spirit".
"Was musst du auch wie ein Irrer fahren." Lena Radeke löste ihre Hände vom Seitengriff, starrte auf die Nackenstütze und den sauber gegelten Scheitel darüber, den weichen Nacken darunter und hätte ihm am Liebsten einmal ordentlich über den Hinterkopf geklatscht. Sie sah zu, wie das Auto ihrer Eltern vorbeiglitt, der Vater ernst nach vorne starrend, Lenas Zwillingsbruder kopfschüttelnd auf dem Rücksitz. Sie hatte es ja geahnt, der Schwager und seine coolen Nummern. Immer musste er ein Schippchen drauflegen. Nicht mal an einem traurigen Tag wie diesen konnte er den Poser in der Schublade lassen. Das würde das letzte Mal sein, dass sie mit ihm am Steuer im selben Wagen saß. Wie hielt ihre Schwester Julia das bloß aus?
"Für Gerhards Verhältnisse war das sehr dezent. Hab ich Recht, mein Lieber?" Julia tätschelte seine Schulter. "Das nächste Mal würde ich mich an deiner Stelle auf das Navigationsgerät verlassen." Sie öffnete die Beifahrertür, griff rechts und links mit den Händen an den Rahmen und zog sich nach oben. "Und nicht auf dein Erinnerungsvermögen", murmelte sie und rückte ihren schwarzen Hosenanzug zurecht. Aber Gerhard hatte schon nicht mehr zugehört, war um das kurze Heck des Roadsters geeilt und klappte den Beifahrersitz nach vorne. Bröckelige Randsteine lugten über den Schweller und in den Fugen wachsendes Unkraut zitterte. Ein ernstes Gesicht ziehend hielt er Lena die Hand hin.
"Lass mich", fauchte Lena und rutschte auf dem Rücksitz Richtung Straße. Das könnte ihm so passen. Zusehen, wie sie mit ihrem engen Rock aus dem Fond des Autos auf den Bürgersteig krabbelte. Sie stieß den Fahrersitz nach vorne und wollte sich ins Freie schlängeln.
Indessen war Malte die Einfahrt heruntergekommen und hielt nun seiner Schwester eine Hand entgegen.
"Na, kleiner Zwilling, hat's Spaß gemacht?", fragte er und zog sie in die Höhe.
"Probier es aus", sagte Lena und schlug die Autotür zu, "Gerhard fährt bestimmt eine Runde mit dir".
An der Straßenseite gegenüber quietschte eine Tür, dann folgte Schlappenschlurfen, das für einen Moment schwieg. Sie konnte die Neugier des Nachbarn förmlich spüren. Da hat der Tod ganz schön Leben in die Straße gebracht, dachte sie. Mehr als drei Menschen auf einmal und schon sucht man sich ein wenig Müll zusammen, um einen Grund für den Gang vor die Hütte zu haben. Und tatsächlich, der Deckel der Mülltonne klappte, dann knackte es. Nein, sie würde sich nicht nach dem kleinen Alten umdrehen. Er schien ein paar Zweige vom Gesträuch, das neben der Tonne wuchs, abzuknicken. Das machte er immer so, wenn er befürchtete, etwas zu verpassen. Das Gestrüpp zog sich am Haus und vor der Doppelgarage entlang. Hie und da lugten noch ein paar Pflastersteine hervor. Seit vielen Jahren brachte er anstatt Fahrzeuge Kaninchen darin unter. Und gelegentlich konnte man Nachbarn sehen, die mit leeren Beuteln hinein- und mit vollen wieder heraus marschierten.
"Das war das letzte Mal", murmelte Lena noch einmal und wandte sich zu der hinter ihnen parkenden, schwarzen Limousine, aus der die beiden Tanten ausstiegen.
"Jetzt übertreib doch nicht", winkte Julia ab und marschierte zum Haus der Eltern, gefolgt von ihrem achselzuckenden Ehemann.
"Ich fahre ja nicht so gern in die Randbezirke", sagte Tante Anna. Sie ergriff Lenas Arm und sah sich um, ein wenig geduckt, dann hinüber zum Nachbarn, der gerade die abgebrochenen Zweiglein ins Gebüsch warf. Er schien genug gesehen zu haben. Sah schicke Leute, noble Fahrzeuge, schwarze Bändchen, da konnte er beruhigt wieder in seinem Gehäuse verschwinden.
"Ist schon ein paar Jahre her, dass du hier warst."
"Drei Jahre?"
"Eher vier", sagte Lena und führte die Tante um einen Hundehaufen herum.
"Es wird immer schlimmer hier."
Lena sah das Zucken im Mundwinkel der Tante und wusste, dass deren statusgeübtem Blick nichts entgehen würde. Weder das sich zwischen die Pflastersteine fressende Unkraut, noch das aus verschatteten Ecken kriechende Moos. Bestimmt erinnerte sie sich an die Siedlung, wie sie vor fünfzig Jahren war, kindgerechte Reihenhausromantik, jedes Haus mit Garage an seiner Seite, gepflegte Vorgärten. Bis Schluss war mit Bullerbü, Familien von Pleitewellen hinausgespült wurden und andere mit Zwangsversteigerungen hineingeschwemmt. Die Radeke-Großeltern hatten Glück gehabt. Das Haus war abbezahlt, bevor eine der größten Bankenpleiten darüber hinweg schwappen konnte.
Sie strichen an einem alten Lebensbaum vorbei und die Tante zögerte. Als würde hinter jeder Hecke ein Wegelagerer lauern, dachte Lena, sie sollte ihren Nachrichtenstream besser filtern. Sie seufzte und legte ihre Hand auf die der alten Dame. Unter normalen Umständen wäre ihr eine spitze Bemerkung herausgerutscht. Aber dies waren keine normalen Umstände. Noch vor einer Stunde waren sie vor dem ausgehobenen Grab gestanden, hatten zugesehen, wie sie die in weißes Tuch geschlagenen Überreste der Großmutter hinabließen. Der Vater hatte sogar einen Imam aufgetrieben, der die Gebete sprach. Wo er den wohl aufgetrieben hatte? Welches der Semra-Kinder war jemals in einer Moschee gewesen? Semra selbst hatte die Überzeugung vertreten, kein einigermaßen kluger Mensch brauche die Religion. Aber als wäre sie sich nicht ganz sicher gewesen, wollte sie doch nach muslimischem Ritus beerdigt werden. Und das musste schnell gehen - nur einen Tag Zeit für Planung von Leichenschmaus und Redner, eigentlich. Und so waren Semras drei Kinder mit Anhang zwei Tage später, unvorbereitet und ein wenig ratlos vor der Grube gestanden, so als müssten sie einem verpassten Zug hinterherschauen.
Nur Malte schien alles andere als ratlos. Lena sah sich nach dem Bruder um, wie er mit der älteren Tante am Arm folgte.
Sie hatten sich im Frühjahr das letzte Mal gesehen. Jeder war irgendwie mit irgendetwas beschäftigt gewesen.
Semras Leiche wurde gerade in die Grube gesenkt, als Malte herbeigeeilt war. Lena hatte ihm zugenickt, aber er achtete nicht auf sie. Er hielt die Hände vor sich, Handflächen nach oben, als empfange er Gaben und schien etwas zu murmeln. Lena hatte die Bewegungen seiner Lippen beobachtet und konnte es kaum glauben - er murmelte dieselben Worte, die der Imam sprach. Malte wusste genau, was er da rezitierte. Keine Spur von jener Unsicherheit,