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in den letzten Stunden in ihr aufgestaut hatten. Zwei Stufen auf einmal nehmend war sie nach oben geeilt, hatte Reisetasche und Rucksack auf den Boden und sich selbst auf die Couch fallen lassen.

      Ach Omasema, flüsterte sie und strich sich über das Gesicht, fühlte die Hitze und die aufgequollene Haut ihrer Wangen und um ihre Augen. Dabei war das Leben der alten Dame doch genau so zu Ende gegangen, wie sie es sich gewünscht hatte - ohne Dahinsiechen an jenem Ort zu sterben, wo sie sich am Liebsten aufgehalten hatte. Lena stand auf und begab sich in das kleine Badezimmer, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser abzuwaschen. Wenige Minuten später kehrte sie zurück, aktivierte das Wandpad neben der Tür und der Wandschirm über dem Regal leuchtete auf. Sie hatte ihn von ihren Eltern geerbt, als die sich das neue Modell gekauft hatten. Er war einiges kleiner, aber für die kurze Zeit, die sie hier verbrachte, genügte er. Für zwei Sekunden blieb der Schirm schwarz, nur ganz unten war ein Balken zu sehen, der allmählich länger wurde. Das Band an ihrem Handgelenk kribbelte, die Verbindung war hergestellt und all die neuen Nachrichten schoben sich, eine nach der anderen über den Schirm. Dabei tat sich die von Hanno Herbst besonders wichtig hervor. Aber das war sicher nur reine Psychologie. Ihre Abneigung war schuld daran, dass ihr die Nachricht greller erschien als die anderen.

      Dabei war das letzte persönliche Gespräch vor zwei Jahren mit Herbst gar nicht so übel gewesen. Zumindest am Anfang nicht.

      Wie war das noch? Zu einer Bestandsaufnahme lud er mich ein. Würden die nicht bei jedem machen, hatte Carla mir damals gesagt, ihr Betreuer hätte sich nur einmal bei der Studienwahl mit ihr zusammengesetzt. Ich fand es seltsam - mich ließ der Herbst mehr als zwei Male während meines Studiums antanzen, fragte mich, ob ich mit allem klar käme. An den Noten konnte es nicht liegen, die waren ziemlich gut. Und beim letzten Gespräch fing alles locker an, er ließ mich erzählen, bis er plötzlich anfing von wegen Leistungsdruck und ein Studium bedeute Stress und ich solle mich melden, wenn ich Probleme hätte; schließlich würden bei ihm alle Fäden zur Lebensbetreuung zusammenlaufen. Er wisse Bescheid über entsprechende Psychologen oder Schwangerschaftsbegleitungen.

      Und ich dachte mir noch, hey was redet der da? Was gehen ihn meine Bettgeschichten an? Glaubt er, ich bin zu blöd, um zu verhüten? Wahrscheinlich sah er mir das an, denn er ruderte zurück, ich solle das nicht persönlich nehmen, das habe nichts mit Dummheit zu tun, im Gegenteil - die Natur finde nun mal ihren Weg, und man wolle es den jungen Müttern eben so angenehm wie möglich gestalten. Jedenfalls war die Luft raus und ich bin dann gegangen.

      Draußen hatte Carla auf mich gewartet. Ich sei ein Schaf, sagte sie, als ich ihr das erzählte. Die wüssten von mir und Tilmann. Die wüssten alles. Und wenn sich zwei Superhirne finden würden, käme bestimmt Superbrut dabei heraus. Könnte ja nicht angehen, dass sich die Schlauen beim Paaren so zieren würden. Ich weiß noch, wie zornig ich auf Carla war; aber die lachte nur. Ich solle doch mal ein paar Male im Internet nach Babykram und Schwangerschaften suchen. Ich war immer noch wütend gewesen, aber sie hat mich neugierig gemacht. Tage später bekam ich eine Nachricht von Hanno Herbst, er wolle mir nur die Kontaktdaten einer sehr guten Schwangerschaftsbetreuerin übermitteln, ich solle mich nicht scheuen und er wünsche mir alles Gute und ich habe die Nachricht mit einem 'fick dich selbst' in den Papierkorb gewischt.

      Manchmal fühlten sich Unflätigkeiten einfach gut an, dachte Lena, lächelte und nahm sich vor, ihn am nächsten Morgen, besser Vormittag, zu kontaktieren. Bis dahin könnte sie noch ein wenig über ihren Lebensweg nachdenken. Für heute hatte der gute Mann bestimmt schon Feierabend. Sie wollte gerade auf den Nachrichtenstream wechseln, als neben Hanno Herbst ein roter Punkt aufleuchtete.

      Auch das noch, stöhnte alles in ihr und sie war drauf und dran ihn einfach beiseite zu wischen. Aber er konnte ebenfalls sehen, dass sie online war und würde blöde Fragen stellen. Besser die Sache einfach sofort hinter sich bringen.

      "Augen zu und durch", murmelte sie und machte eine knappe Handbewegung. Über den ganzen Schirm strahlte ihr das Gesicht des Mannes entgegen. Lena verdrehte die Augen, tippte ein paar Male auf das Wandpad und Hanno Herbst schwebte in angemessenem Format knapp über der Nachrichtenleiste. Ihm mit gelassen gesenktem Haupt gegenüberzustehen, fühlte sich einfach besser an, dachte Lena und trat vor den Schirm.

      "Guten Abend, Frau Radeke."

      "Guten Abend, Herr Herbst."

      "Schön dass ich Sie noch antreffe."

      "Es war ... viel los in letzter Zeit."

      "Ich verstehe Sie sehr gut, Frau Radeke und es tut mir leid, dass Sie einen solchen Verlust erlitten haben." Hanno Herbst schloss die Augen und senkte den breiten Kopf. "Mein herzlichstes Beileid an Sie und Ihre Familie."

      "Danke", flüsterte Lena und betrachtete den ihr dargebotenen Scheitel, eine rosa Linie zwischen dunkelblondem Haar, das dicht und gerade herausspross wie bei einer dieser Puppenfrisuren aus billigem Kunststoff. Hinter ihm ragte das Symbol des Ministeriums für Familie, Arbeit und Lebensgestaltung auf, blaue Menschlein auf weißem Grund. Er hob den Kopf und blickte sie an.

      "Aus Ihren Unterlagen kann ich ersehen, dass Sie gerade dabei sind, Ihre Abschlussarbeit zu schreiben."

      "Ja ..."

      "Sie haben noch keine Idee, was danach kommen soll?"

      "Nicht direkt."

      "Familie? Kinder?"

      "Auch ... vielleicht."

      "Das stand zumindest im Raum, als wir das letzte Mal zusammen an Ihrem Lebensweg-Plan gearbeitet haben."

      Hanno Herbst musterte sie, während er ihr Zeit zum Nachdenken ließ. Aber Lena wollte keine Zeit zum Nachdenken. Sie würde am Liebsten die Folie von der Wand reißen.

      "Und Ihr Lebenspartner, Tilmann Berger, hat offensichtlich nicht nur eine sehr gute Stelle, sondern auch eine S1 in Aussicht."

      Lena fühlte sich, als stünde sie nackt vor dem Schirm und als hätte irgendjemand hier oben zwei Fenster offen gelassen, und sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Sie kannte Hanno Herbst schon seit zehn Jahren. So wie er zu Beginn den netten Berater gespielt hatte, war er im Laufe der Jahre mit jedem Treffen zu einer Nervensäge geworden.

      Damals wurde das FALG-Ministerium ausgebaut, bekam spezielle Mitarbeiter, die begabte Kinder beobachten und betreuen sollten. Der Algorithmus sortierte vor und die FALGner übernahmen. Man hoffte, die Kinder gemäß ihrer Begabungen in eine günstige Entwicklung lenken zu können. Allerdings stellte man fest, dass es zu spät ist, wenn man damit erst anfing, wenn sie schon fünfzehn sind.

      "Ich weiß, liebe Frau Radeke. Der Moment ist nicht sehr günstig. Wir können das Gespräch auch an einem anderen Tag fortsetzen."

      "Das wäre mir sehr recht."

      "Ich möchte Sie nur kurz von einer Anfrage informieren, die ich vor ein paar Tagen bekam. Es geht um ein Angebot."

      "Ein Angebot? Von wem?"

      "Von einer Abteilung unserer Streitkräfte." Lena musterte sein Gesicht. Irgendwie schien sein Enthusiasmus einen Dämpfer bekommen zu haben. Die Schwangerschafts-Geschichte schien ihm mehr Freude bereitet zu haben. "Wie Sie vielleicht wissen, werden die Scores sämtlicher Online-Spieler ausgewertet."

      "Ach", machte Lena. Ein Verdacht keimte in ihr auf. Sie hatte sich schon gewundert, warum in letzter Zeit so viel Werbung von den Streitkräften aufgetaucht war.

      "Sie suchen ständig nach fähigen Männern und Frauen, die als Drohnen-Operatoren eingesetzt werden können." Noch ein Warten. "Ich schicke Ihnen hier eine Kontaktadresse. Melden Sie sich, sobald es Ihnen möglich ist."

      Lena nickte nur.

      "Mir bleibt nur noch, ihnen einen guten Abend zu wünschen ... und nochmals mein Mitgefühl auszudrücken."

      Hanno Herbst verschwand und Lena schaltete den Schirm ab. Das fehlte noch. Drohnen-Operator. Immer wieder tauchten Nachrichten auf, über Zivilisten oder friendly fire. Die hielten sich allerdings nicht lange, wurden von sogenannten Verteidigungspezialisten als Fakenews 'entlarvt'. Mit den heutigen Kampfdrohnen gebe es solche Unglücksfälle nicht mehr, verbreiteten sie.

      Egal

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