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Rollladen. Der Feierabendverkehr war vorbei und das Alltagsleben hatte sich in seine Behausungen zurückgezogen. In den Randzonen und darüber hinaus sah die Sache schon anders aus. Vor allem in den Vierteln, die an den Endhaltestellen lagen wie an einer Nabelschnur. Dort wälzte sich das Leben bis in die Nacht durch manche Straßen.

      Wir waren schon lange nicht mehr dort, ging es Lena durch den Sinn.

      Mit ihrer Freundin Carla war sie so manchen Abend durch besonders angesagte Partymeilen geschlendert. Bildungsbürgertum trifft auf Randzonenvolk. Sie tanzten in Kellerdiskotheken, drückten sich in Spelunken und Spiellokalen herum, huschten an Bordellen vorbei und schlenderten so unbefangen wie möglich an den Schaufenstern entlang, in denen sich ziemlich unbekleidete Damen, Herren und alle Variationen dazwischen anboten. Für eine Weile fühlte es sich wie ein Mordsabenteuer an; doch irgendwann hatten sie das meiste gesehen und durften feststellen, dass die Berichte über die Kriminalität in den Sündenpfuhlen ziemlich übertrieben waren. Eine Zeit lang waren sie regelmäßige Gäste in einer der Musikkneipen – bis vor ein paar Monaten, bis sie Tilmann kennenlernte.

      In diesem Sommer hörte sie das Pöbellärmen nur noch in lauen Nächten. Nämlich dann, wenn es den Platzhirschen zu wohl wurde und sie mit ihren aufgemotzten Scootern oder überbelegten Rostmühlen in die unbewohnten Straßenzüge einfielen, um ihre eigenen Partys zu feiern.

      So quoll trotziges Leben aus den Randbezirken, schwappte an die Ufer der Gutbürgerlichkeit, Welle für Welle vorwärtsdrängend. So mancher Hausbesitzer tönte, er würde sich nie von irgendjemand vertreiben lassen – sollten sie nur kommen; doch es genügte, dass ihnen die vorrückende Realität gelegentlich in den Vorgarten kotzte und mit zahnarmen Mündern entgegengrinste.

      Auch an dieser Siedlung nagte es, begann mit den Häusern der einsamen Alten. Lena hatte sie vor allem im Supermarkt getroffen, dezent zur Seite geblickt, wenn sie sah, dass sie irgendetwas Ess- oder Trinkbares mitgehen ließen, weil die Nahrungsmittelkärtchen nicht ausreichten. So wie das Alte von gegenüber, das seinen Garagenvorplatz nur noch auf Fahrradbreite freirupfte. Ob Männlein oder Weiblein war wegen seiner zeltartigen Bekleidung nicht zu erkennen. Und auf dem Türschild stand auch nur F. Fitzmeyer. Manchmal, wenn Lena aus dem Haus trat, schob es die Gilbgardine zur Seite und schaute ihr hinterher. Seit sie in jenem Laden aktiv den Blick abgewendet hatte, nickte es sogar.

      Ob es noch lebte? Lena war vor zwei Monaten das letzte Mal hier gewesen, was wohl danach kommen würde – entweder würde die Hütte unauffällig vor sich hin gammeln und eines Nachts von Obdachlosen besetzt; oder von der Immobilienbehörde billig aufgekauft und an eine bedürftige Familie vermietet werden; schließlich taten sie alles für Kinder, Kinder waren kostbar – und bei 'Kinder' sprangen Lenas Gedanken zu Tilmann, stolperten über die Frage, ob diese Beziehung wirklich eine gewisse Zukunft habe.

      Für heute würde sie die Suche nach einer Antwort verschieben. Sie würde nur noch Zähne putzen, die Läden im Haus herunterlassen und sich etwas zu trinken holen, anschließend einfach ins Bett gehen und Musik hören ... und sonst nichts.

      ***

      Rudolf Graber stöhnte leise, als er sich aus Bobs Armen löste, auf die Bettkante setzte, ein Bein nach dem anderen hinaufzog und unter die Bettdecke schob. Währenddessen stand der Sohn daneben, hörte zu, wie erst ein Schuh, dann der andere hinunterpolterten.

      „Geht's Vater?“, fragte er und ließ die Arme unentschlossen an den Seiten baumeln.

      „Jaja“, murmelte der Alte „bis jetzt ist es immer gegangen.“ Er legte seine Hand an den Schirm, tippte auf das Bob-Icon und schickte ihn in den Standby-Modus. Der Motor des Care-Rob surrte und der Helfer glitt in einem Bogen an das Kopfende des Bettes, klickte sich in die Station ein. Rudolf Graber griff nach der verdrehten Bettdecke und wollte sie zurechtziehen, der Herzschlag auf dem Bildschirm beschleunigte sich. Froh, etwas tun zu können, das nicht gerade darin bestand, einen Greis aufs Klo zu hieven und ihm anschließend den Hintern abzuwischen, griff Frederik nach der Decke, ordnete sie und stellte anschließend die Hausschuhe säuberlich unter das Bett.

      Noch einmal streckte der Alte die Hand aus, deaktivierte die Schlafüberwachung.

      „Du weißt schon, was du da tust ...“, sagte der Sohn.

      „Das Ding reagiert überempfindlich. Dieses Gepiepse lässt einen nicht durchschlafen, macht erst recht krank ... vielleicht wollen die das ja.“

      „Wenn du meinst ...“ Frederik Graber setzte sich neben das Bett, betrachtete den Bildschirm, in dem sich das ungleichmäßig pulsierende Herz spiegelte und dachte darüber nach, wie das wohl werden könnte, wenn der Alte nicht mal mehr alleine aufs Klo … als er noch ein Feld entdeckte. Der Schirm würde sich bald abschalten und ob das mit dem Fingerabdruck wieder so gut funktionieren würde, wollte er nicht unbedingt ausprobieren. Also streckte er vorsichtig die Hand aus und berührte es mit seinem Finger. Eine Statusmeldung erschien: Überstellt in Reha-Zentrum II/7.

      „Überstellt?“, murmelte er und blickte sich um, als vermute er jemand hinter seinem Rücken, der diese unglaubliche Meldung mitlesen könnte. Er rieb sich die Augen und starrte auf den Schirm, bis er dunkel wurde.

      Frederik Graber stand auf, streifte sich die Jacke über und verließ den Raum, tappte durch das spärlich beleuchtete Haus. Leise öffnete er die Tür zum Garten, zog sie ebenso leise hinter sich zu. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss und der Mann hob den Blick. Licht flammte im Anbau des Radeke-Hauses auf und ein Schimmer strich über Terrasse und Wiese. Seine Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen, als er sah, wie die junge Frau an die Seite des Fensters eilte und den Laden herunterließ, bis nur noch zwei drei Lichtflecken zu sehen waren – dort wo Stücke aus dem verwitterten Kunststoff herausgebrochen waren.

      Im Schatten eines Windfangs blieb er stehen und es raschelte leise. Ein kleines Feuer flammte auf, bog sich zu einer Zigarette hin und erlosch wieder.

      Ruhig blieb Frederik Graber an der Tür gelehnt. Es knisterte, wenn er an der Zigarette zog, und für einen Moment schimmerte sein hageres Gesicht, leuchtete es wie glühende Kohlen in den Augenhöhlen. Für eine Weile fühlte er sich wie damals, als er in der Wüste Ausschau gehalten hatte, eingehüllt in einen dick gefütterten Parka. Leute, die nie in diesen Breitengraden waren, glaubten es kaum, wie frostig so eine Wüstennacht sein konnte.

      Noch immer hatte er sie im Blick, die blauen Europapipelines, die sich gleich dunkler Würmer durch die Wüsten zogen, sich bis zum Horizont streckend. Und er glaubte es zu hören – das Knarzen der Lederstiefel, das Knacken der noch warmen Motoren, die Kameraden in der Nähe, wie sie murmelten und leise lachten.

      Nur eines vermochte die Phantasie nicht. Die Erinnerung an die trockene Wärme des Sandes war nicht mächtig genug, um gegen die Realität der aufsteigenden Nässe des Bodens anzukämpfen.

      Wieder klang in ihm das Echo der Statusmeldung – Überstellt in Reha-Zentrum II/7. Er würde die Sache richtigstellen müssen, dachte er. Ja, das würde er tun … demnächst. Jetzt würde er erst einmal ausschlafen.

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