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trügerischen Herrlichkeit“, betet er vor sich hin. Doch er glaubt nicht an einen Gott, der ihm ein solch erbärmliches Leben geschenkt hat. Dabei war alles einmal ganz anders gewesen. Daran denkt Veit jetzt nicht. Er konzentriert sich auf das für ihn Wesentliche. Er steigt die Stufen zur Fahrtrasse empor und schlendert ohne Fahrkarte auf den Bahnsteig.

      Oben angekommen, sieht er auf der Uhr, dass die nächste Bahn Richtung Grenzübergang Friedrichstraße schon in zwei Minuten kommt. Das ist ihm zu schnell. Noch weitere acht Fahrgäste warten auf die S-Bahn. Er geht weiter weg von ihnen bis ans Ende des Bahnsteigs, wo der Führerstand der Bahn zum Halten kommen wird. Als die Bahn kommt, hält die Zugmaschine genau vor ihm, und der Zugführer und Veit schauen sich einen Moment eindringlich in die Augen.

      Dieser Mann wird sich an mich erinnern, denkt Veit. Schließlich wird die nächste Bahn morgen in der Zeitung erwähnt werden – und ihm, Veit, zur Erlösung verholfen haben. Der Zugführer schaut noch einmal kurz zu Veit, dann rauscht die S-Bahn ab.

      Ein Signal ertönt. Auf der Anzeigetafel erscheint plötzlich ein Text, der Veit in Erregung versetzt. Er hat gesehen, wie relativ langsam die Bahn in die Station eingefahren ist. Eigentlich müsste er am Anfang des Bahnsteigs springen, wo die Bahn einfährt, denn dort hat sie noch genügend Geschwindigkeit, um auf keinen Fall abrupt stoppen zu können. Zumindest ist es für ihn in seiner Vorstellung angenehmer, wenn sich alles in Sekundenbruchteilen abspielt.

      Auf der Anzeigetafel aber steht jetzt: „Von der Bahnsteigkante zurücktreten! Der nachfolgende Zug macht keinen Halt und fährt bis Friedrichstraße durch!“

      Ideal, denkt Veit, diese Bahn soll meine sein! Er steht immer noch am Bahnsteig-Ende in Richtung Ausfahrt. Da keine Zeitangabe auf der Tafel erscheint, muss er nach Gehör gehen. Veit muss schnell handeln, deshalb nimmt er jetzt einen großen Schluck Wodka aus der Flasche und geht strammen Schritts über den leeren Bahnsteig. In der Mitte der Station nimmt er einen noch größeren Schluck, Feuerwasser, denkt er. Und er spürt, wie ihm übel wird. Trotzdem beschließt er, Schluck für Schluck weiter zu trinken, bis er schließlich am Beginn der Zugeinfahrt angelangt ist. Die Flasche ist nun leer. Er stellt sie neben einen Abfallbehälter. Er schaut in das Gleisbett und verlässt sich auf sein Gehör. Der Wodka wirkt, sein Zeitgefühl schwindet.

      Veit setzt sich auf die letzte Bank am Bahnsteig, wo der Zug bald einfahren wird. Noch ist kein Geräusch zu hören. Er weiß, dass es gleich so weit ist und schaut mit glasigem Blick auf die Uhr. Es ist 17:14 Uhr, vielleicht auch 17:18 Uhr; das Ziffernblatt verschwimmt etwas vor seinen Augen, es ist ihm egal. Wenn er die Bahn kommen hört und der Luftzug zu spüren ist, wird er vortreten und springen. Heute, am Neujahrstag, sind wenige Leute unterwegs; Veit sieht gerade ein Pärchen am anderen Ende der Bahnstation die Treppe heraufkommen.

      Sein Blick fällt auf eine Litfaßsäule mitten auf dem Bahnsteig, sie erscheint ihm wie eine Telefonzelle. Er überlegt kurz, ob er doch noch seine Ex-Freundin anrufen soll. Erst vor sechs Wochen getrennt, telefonieren die beiden recht oft miteinander und sind nun »gute Freunde«, wie man so schön sagt, wenn man die ganze Wahrheit nicht besser auszudrücken vermag. Er verwirft den Gedanken sofort, weil er dann die Chance verpassen würde, von dem durchrauschenden Zug erfasst zu werden. Besser, ich unterlasse den Anruf, sagt er sich.

      Veit steht auf, gleich wird es so weit sein. Er verspürt keine Panik; der Wodka hat seinen Zweck bisher erfüllt, er fühlt die Bestätigung dessen, was er die ganze Zeit über gewusst hatte – es ist so weit. Er ist bereit. Ohne Reue. Ohne Bedenken. Er müsste in wenigen Minuten nur noch ein paar Schritte tun. Während er hin und her geht, schließt er die Augen, stöhnt leise und öffnet sie schnell wieder. Er ist ein wenig benommen. Sobald sich der nahende Zug ankündigte, würde er nach vorne gehen, bedächtig und ohne Anzeichen irgendeiner Aufregung. Er würde dort warten, bis die Zugschnauze in der Kurve vor der langen Einfahrt zu sehen ist. Dann würde er einfach springen. Ein Sprung, das war‘s.

      Veit hört das Rauschen des nahenden Zuges. Die S-Bahn kommt, nimmt die Kurve, rast auf ihn zu. Er geht bis an die Bahnsteigkante. Er ist sich absolut sicher, dass er das hier tun sollte. Veit schaut nicht mehr nach anderen Leuten, schaut nicht mehr nach links oder rechts oder zurück. Er wartet die Bruchteile von Sekunden, bis der Moment da ist, an dem er die Augen schließt und sich nach vorne fallen lässt. Doch im letzten Moment beschließt er, es mit einem Kopfsprung wie vom Drei-Meter-Brett zu machen.

      Er springt.

      Mit einem harten Schlag, ähnlich einem Bauchplatscher, landet Veit auf den Gleisen. Er spürt nichts, keinen Schmerz, keine Angst. Er hebt den Kopf etwas und blickt zur Seite, wo er den Zug direkt auf sich zurasen sieht, ganz nah. Er kneift die Augen fest zu und schreit, so laut er kann, während er auf den tödlichen Schlag wartet.

      Er hört zu schreien auf, als die Bahn über ihn hinwegrast und der Schock ihn aus dem Wodkarausch wachrüttelt. Blitzschnell wird ihm klar, dass er noch nicht tot ist. Er riecht erhitztes Metall und ist noch zu einer Überlegung in der Lage. Er muss nur noch kurz den Kopf aufrichten, um von der Unterseite der über ihn hinwegschießenden Bahn erfasst zu werden.

      Er will sich zwar aufrichten, kann es aber nicht. Er bemerkt, wie sich die Bahn verlangsamt und hört das Kreischen der Bremsen. Und dann kommt der Schmerz mitsamt einem starken Ohrensausen. Der Schmerz ist unmenschlich. Solch einen Schmerz hat Veit noch nie verspürt. Er versucht die Lippen zu bewegen, um etwas herauszuschreien, aber er kann nur flüstern: „Helft mir … Hilfe …“

      Dann plötzlich verschwinden die Schmerzen wie von Zauberhand, und er spürt eine ungeheure, wohltuende Wärme, die ihn flutet und beruhigt. Er weiß, dass er jetzt endlich sterben wird und schließt erleichtert seine Augen. Es ist vollbracht, aus und vorbei. Endgültig. Gott sei Dank.

      Um diese Zeit herum, zwischen fünf und sechs Uhr abends am Neujahrstag, verabschiedeten Emma und ich unsere Verwandten und wünschten ihnen noch einmal ein glückliches und gesundes neues Jahr. Meine Eltern gingen nach oben, Lollo musste meinen Vater stützen, weil er ihr wackelig vorkam. Emma und mir war es nicht aufgefallen.

      „Sie ist überbesorgt“, meinte Emma.

      „Er baut rapide ab“, sagte ich. Ich schaute nachdenklich aus dem Fenster. Die Außentemperatur betrug 3,8 Grad, wie unser Thermometer am äußeren Fenstersims anzeigte. Es war regnerisch, ein ungemütliches Wetter. Ich dachte nicht an Veit, der im Gleisbett seinen Tod sehnlich erwartete. Warum auch? Ich dachte nicht an früher, nicht an alte Freundschaften. Ich wusste nichts von Veits Schicksal, hatte jahrelang nichts von ihm gehört.

      Meine Gedanken waren schon in der unmittelbaren Zukunft, bei der GTU; ich dachte an unternehmerische Ausbaumöglichkeiten, an neue Kursangebote und an das zukünftige Umweltzentrum, das ich schon in drei Mona­ten gründen würde. Eine Gästeliste und ein Kulturprogramm waren zu erstellen, und ich musste die Einladungen an die vorgesehen Redner zur Einweihung des Zentrums vorbereiten. Ich dachte an meinen morgigen nächsten Arbeitstag, denn ich hatte im Gegensatz zu meinen Mitarbeitern keine Weihnachtsferien. Aber ich würde mir die Arbeitszeit familienfreundlich einteilen.

      Morgen würde ich erst nach einem ausgiebigen Frühstück ins Büro fahren. Die Fahrt durch die Stadt würde stressfrei sein. Keine langen Autoschlangen vor Ampeln, kein Wettbewerb darum, wer bereits bei Orange einen fulminanten Start hinlegen würde, um mit kreischenden Reifen eine Nasenlänge vor mir die Spur zu wechseln. Um sodann festzustellen, dass vor der kommenden Kreuzung genau auf dieser Spur bereits ein Auto steht, um schließlich noch einmal schnittig die Spur zu wechseln, um endlich an der nächsten Kreuzung mit langgezogener Fresse und angezogener Handbremse genau neben mir wieder zum Stehen zu kommen.

      Wie es meine Art war, legte ich mir ausführlich meine Planung stichpunktartig zurecht. Ich würde gegen ein Uhr zum Mittagessen nach Hause fahren. Dann wieder zurück ins Büro und bis zum Nachmittagskaffee arbeiten. Danach werde ich Emma kurz im Haushalt helfen. Ich werde mit Karola und Luca spielen, sie später gegen neunzehn Uhr ins Bett bringen, ihnen etwas vorlesen, und wenn sie schlafen, werde ich mit meiner Frau die Kursplanungen für das kommende Jahr zu Papier bringen. Dazu werde ich aus dem Büro einen großen Papierkalender mitbringen, obwohl Pinkus, mein guter alter Klassenkamerad und Freund und jetziger EDV-Berater, meinte, wir könnten das viel praktischer auf dem

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