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Grund sehr bald schon zu tun haben würde. Emma und ich wollten Harksens Angebot überschlafen. Er versprach treuherzig, aber durchaus mit Argumenten, die uns überzeugend erschienen, einen Gewinnfaktor von 300 Prozent nach eineinhalb Jahren Anlagezeit bei einer Mindest-Anlagesumme von 50.000 Mark. Kaum waren die beiden zur Tür hinaus, waren Emma und ich uns einig, dass solch eine unseriöse Sache nicht in Frage kommt. Ich gab ihm am nächsten Morgen nach dem Frühstück telefonisch Bescheid. Er nahm es gelassen.

      „Wenn Sie es sich doch noch anders überlegen – Sie können mich jederzeit anrufen!“

      „Vielen Dank. Vielleicht kommen wir auf Ihr Angebot zurück. Aber im Moment wissen wir nicht, woher wir ein solche Summe nehmen sollten.“

      „Sie können bei Ihrer Bonität und Ihrem Gehalt doch problemlos einen Kredit aufnehmen.“

      Da sprach Harksen etwas an, was mich seit langem drückte. Für jede Konto-Überziehung, für jede Zah­lungsverzögerung durch das Förderbüro der Arbeitsverwaltung musste ich als Geschäftsführer privat bürgen. Da nutzte mir die Haftungsbeschränkung der gemeinnützigen GmbH herzlich wenig. Ich selbst musste dran glauben, falls ein Kredit platzte. Für Harksens Risiko-Blanko-Scheck war da absolut kein Raum. Schon jetzt wachte ich nachts oft genug schweißgebadet auf, weil durch die unregelmäßigen und verzögerten Zahlungen des Arbeitsamtes im Nu enorme Liquiditätsengpässe zustande kamen. Denn Gehälter, Mieten, diverse Nebenkosten, Sozialbeiträge, Laborbestellungen, Lehrbücher-Ausgaben, Zeitungs-Abonnements und Versicherungskosten liefen fix und flott weiter.

      Am Abend schalteten Emma und ich ab. Emma hörte Musik und ich las ein wenig in Zeitschriften. Karola und Luca hatte ich eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Ihr derzeitiges Lieblingsbuch trug den Titel »Ich habe einen Freund …« Ich kannte den Text inzwischen auswendig, ohne einen Blick auf die Seite werfen zu müssen. Auch Karola konnte ihn in einer Art Singsang bereits vortragen: König und Königin luden mich ein/ am Sonntag zum Tee ihr Gast zu sein./ Ich sagte zur Königin: „Bitte frag deinen Mann,/ ob ich einen Freund dazu mitbringen kann.“/ Da sagte der König: „Ach, das wäre fein!/ Jeder Freund unsres Freundes soll uns willkommen sein.“/ Und ich brachte meinen Freund mit … (Es war eine haushohe Giraffe). Mein Freund nahm Platz gleich neben mir,/ dann gab es Tee für uns alle vier.

      Und so gelangten im Laufe des Bilderbuchabends noch einige Tierfreunde an den königlichen Hof, an jedem Wochentag ein neuer Freund, das Nilpferd, eine Horde Affen, ein Elefant, ein Löwenpärchen, ein Seelöwe und ein Krokodil. Zum Schluss, nach einer durchreisten gastfreundlichen Bilderbuchwoche, sagte Karola den Text alleine auf: König und Königin baten mich:/ „Komm Samstag zum Tee! Wir erwarten dich.“/ „Nein, Nein! Meine Freunde laden ein. Diesmal sollt IHR die Gäste sein!“ Das Bild dazu zeigte einen Zoo-Käfig, in dem alle – samt König und Königin – gemütlich beisammen saßen, und der Text lautete: Wir saßen froh beim Tee im Zoo.

      Da musste ich in mich hinein lächeln, denn ich stellte mir Königin Elisabeth II. und Prinzgemahl Philip, Duke of Edinburgh, vor – wie sie hinter Zoo-Gittern inmitten einer Affenhorde ihre Tea-Time abhielten.

      Endlich war Feierabend und ich froh, nicht nach dem Vorlesen eingeschlafen zu sein.

      Emma und ich machten uns einen gemütlichen Abend und schalteten das Fernsehen an. „Schau mal, da läuft was über Ton Stein Scherben“, rief Emma. Es lief gerade ein Beitrag über die Scherben, hauptsächlich aber über Rio Reiser. Ich schaute fasziniert in den Kasten, sah ich doch nach Ewigkeiten wieder einmal meinen alten Bekannten aus Berliner Zeiten.

      Da sitzt Rio mit seiner Gitarre unter einem Baum, schaut versonnen in die Kamera und antwortet auf die Frage des Reporters, wo er seine Heimat hat: „Falls mich jemand sucht, meine Heimatadresse kann ich angeben: Ich wohne am äußeren Ende eines Spiralnebels namens Milchstraße im System Sonne, Planet Erde.“

      Natürlich wussten wir, wo sein Zuhause war, nachdem er Westberlin verlassen hatte. Er wohnte jetzt im Norden Deutschlands, in Fresenhagen. Seine echte Heimat aber war es nicht, die musste er sich ersingen. Er hatte es getan, und über den Tag hinaus waren seine Lieder für viele zu einer Heimat geworden, die es früher nur als Schnulze gab. Wir hörten uns noch seine Songs an, die zwischendurch und im Abspann gespielt wurden. Ich fand seine Ballade Für immer und Dich am schönsten. Dann spielte er aus dem Album »Blinder Passagier« den Song Ich denk an Dich.

      Ein Toter wacht auf

      Ich konnte nicht an meinen ein Jahr älteren Kumpel Veit Herrmann denken, weil ich nicht wusste, was geschehen war. Auch hatte er niemals mit mir über Suizid gesprochen. Er war mir als lebenslustiger Kumpel in Erinnerung.

      Zwei Wochen sind inzwischen vergangen. Veit hört eine Stimme. Nein, es sind mehrere. Er bemüht sich herauszufinden, woher sie kommen, kann sie aber nicht lokalisieren. Langsam öffnet er die Augen; alles um ihn herum erscheint verschwommen. Wieder hört er diese eine Stimme, die Stimme einer Frau, ganz in seiner Nähe.

      „Ich glaube, er kommt zu sich …“

      Er begreift sofort, dass er von »irgendwo« zu sich kommt, aber nicht von woher und warum und weshalb er überhaupt etwas hört und nicht sieht. Wo könnte er sein?

      „Herr Herrmann? Können Sie mich hören?“

      Die Stimme klingt amtlich und bemüht sachlich. Was will diese Frau von ihm, wer ist sie, in wessen Auftrag handelt sie? In den grauen Schleiern, die ihn umgeben, bewegt sich ein Schatten. Er könnte zu der Stimme gehören, die zu ihm spricht.

      „Verspüren Sie Schmerzen?“

      Veit versucht nachzudenken, aber das Denken fällt ihm schrecklich schwer. Er fragt sich, warum er Schmerzen haben sollte. Er fühlt sich unergründlich schwach, aber Schmerzen? Nein, ihm tut nichts weh. Also schüttelt er den Kopf, was ihm genauso schwer fällt wie Denken.

      „Herr Herrmann, Sie haben sich vor zwei Wochen vor einen Zug geworfen …“

      Wohin hat er was geworfen? Veit muss lange und tief in seinem Gedächtnis buddeln, ehe es Klick macht. Ja, er wollte springen. Vor eine S-Bahn wollte er springen. Wann? Er weiß es nicht mehr. Alles scheint eine Ewigkeit her zu sein. Tatsächlich, so dämmert ihm, hat er sich schließlich vor einen durchrauschenden Zug geworfen.

      „Sie waren lange im Koma. Sie sind jetzt sicher. Sie sind im Krankenhaus. Wir haben Sie operiert“, sagt die Frau, die Veit immer noch nicht sehen kann und von der er nichts weiß, außer dass sie mit ihm spricht wie eine Krankenschwester. Eine Krankenschwester! Sie wird eine Krankenschwester sein. Oder eine Ärztin.

      Im Schneckentempo entwickelt sich ein Szenario in seinem Kopf. Er begreift, dass er irgendwann tatsächlich gesprungen war und der Zug über ihn hinweg gerast war. Und jetzt war er im Krankenhaus. Er war nicht tot.

      „Wir mussten Sie operieren. An den Beinen.“

      Diese fast gütig klingende Bemerkung jagt ihm einen ungeheuerlichen Schrecken ein. Veit hat sich die oft leidvollen Jahre hindurch mit regelmäßigem Joggen und Schwimmen emotional über Wasser gehalten und den tiefen Depressionen tapfer die Stirn geboten. Sein Leben konnte er nur noch mit Sport halbwegs am Laufen halten – alles andere war eine tägliche Qual. Diese OP kann gewiss nichts Problematisches gewesen sein, denkt er. Seine Beine haben immer viel ausgehalten.

      Die Augen fallen ihm zu, und Veit döst weg. Als er sie wieder öffnet, weiß er nicht, ob er ein paar Sekunden, einige Minuten oder vielleicht auch länger geschlafen hat. Er verspürt starken Durst und versucht etwas zu sagen.

      „Sie sind an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Sprechen geht im Moment noch nicht“, sagt die weibliche Person. „Ich gebe Ihnen einen Stift. Augenblick bitte.“

      Etwas raschelt, er hört Schritte. Dann drückt ihm jemand einen Stift in die linke Hand. Er stöhnt und versucht den rechten Arm zu heben.

      „Das geht noch nicht, Herr Herrmann. Ihr rechter Arm ist gebrochen, aber er heilt gut.“

      Man hat an meinen Beinen rumgedoktert, mein rechter

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