Скачать книгу

große Unternehmensgeld!“, wiederholte ich ironisch. „Wer weiß, wie lange alles überhaupt noch gut geht und was uns in diesem Jahr noch alles bevorsteht. 365 Tage können manchmal sehr lang sein.“

      Von heute bis zum Mauerfall-Donnerstag, dem 9. November 1989, waren es nur 313 Tage, was zu diesem Zeitpunkt niemand aus unserer Runde ausrechnete, weil niemand auch nur das Geringste davon ahnte. Und beide Tage lagen so weit auseinander wie die ägyptische Hochkultur vom römischen Imperium. Kein Mensch dachte an die dramatischen Ereignisse, die das Jahr prägen sollten.

      Gestern, am letzten Tag des Jahres, hatten Emma und ich meine Eltern zu Gast. Das war selbstverständlich. Schließlich wohnten sie ein Stockwerk über uns und freuten sich, weil sie nicht kochen mussten. Dazu hatten wir die Familie meines Bruders und meine Nichte samt Mann und Sohn eingeladen. Man hatte über die Zukunft gesprochen, wie das so oft an Silvesterabenden üblich ist. Wir hatten uns alles Gute gewünscht und gemeinsam Urlaubspläne geschmiedet.

      Meine Frau hatte eigentlich einen Städtebesuch in der Schweiz mit einer Woche Urlaub am Genfer See geplant. Aber in Anbetracht der Schmälerung durch unseren börsennotierten Verlust, schminkten wir uns das luxuriöse Vorhaben ab.

      „Ich hätte ja gerne mal Zimmer 317 im Hotel Beau-Rivage in Genf besucht“, sagte ich.

      Emma, mein Bruder und meine Nichte Petra wussten sofort, dass ich auf den angeblichen Freitod des prominenten CDU-Politikers Uwe Barschel anspielte.

      „Da hättest du weiß Gott keine Aufklärungsarbeit mehr betreiben können“, lachte Günter.

      „Eher hättest du dich wieder mal in deinen Geheimdienstmärchen verrannt und Emma hätte sich den ganzen Urlaub über deine abstrusen Waffenschiebergeschichten anhören müssen.“

      Wir alle lachten – auch Otto, mein Vater, der immer weniger mitbekam, worüber wir redeten. Mit seinen 80 Jahren war er nicht mehr der Fitteste. Noch vor fünf Jahren hatte er als Alterssportler bei Leichtathletik-Wettkämpfen mitgemacht und oft den ersten Platz belegt. Die Zeit war rum. Wir merkten es von Tag zu Tag mehr.

      Nun gut, das Hotel Beau-Rivage und Zimmer 317 war nun für mich mangels gefüllter Reisekasse passé. Am nächsten Morgen, am ersten Tag des neuen Jahres, musste ich ernüchtert daran denken.

      Was Uwe Barschels mysteriösen Tod in der Badewanne betraf, so sitzt an diesem Tag in Lübeck ein Oberstaatsanwalt über einem Stapel alter Zeitungsberichte und amtsinterner Notizen. Sein Name ist Heinrich Wille. Er schüttelt den Kopf, wenn er über all die Widersprüche nachdenkt, die sich vor seinem geistigen Auge auftun. Er kennt die Politik, kennt Politiker und politische und wirtschaftliche Zusammenhänge. Heinrich Wille ist ein politisch interessierter Mann. Hauptsächlich ärgert er sich an diesem Tag aber über die schlampige Arbeitsweise der schweizerischen Kollegen. Er macht Aufzeichnungen über die exemplarischen Versäumnisse der dortigen Ermittlungsbehörden und begutachtenden Stellen. Er fragt sich, wofür er das eigentlich macht, denn er hat mit dem Fall Barschel nichts zu tun. Doch irgendwie drängt es ihn, die Dinge, die er heute sieht, schriftlich festzuhalten.

      Wille notiert, was ihm auf den ersten Blick an Defiziten auffällt:

       Mangelhafte kriminalistische Tatorterhebungen: keine Tatortfotos, kein Messen der Badewassertemperatur

       Zögerliche kriminalistische Folgeermittlungen: unzureichende Recherche nach dem Taxifahrer vom Flughafen zum Hotel, keine Überprüfung der unmittelbaren Vorgeschichte – Gran Canaria und Flug

       Rechtsmedizinische Versäumnisse: keine Dokumentation des Mageninhalts und Aufbewahrung zumindest nur eines geringen Teils davon; keine Sicherstellung nur einer geringen Menge Urin

       Fragmentarische Folgeuntersuchungen: »die Flecken auf dem Badeteppich sind keine Rotweinflecken«; weiße Flecken auf der Hose von Uwe Barschel: vermutlich Talkumspuren des Präparators der Genfer Gerichtsmedizin

       Keine Aufklärung über Barschels Rolle bei internationalen Waffengeschäften unter der Regie der CIA

       Keine Aufklärung über Barschels häufige Besuche in der DDR

      Oberstaatsanwalt Heinrich Wille wundert sich, dass der deutsche Bundesanwalt die Sache Barschel nicht an sich zieht. Er ahnt am 1. Januar 1989 noch nicht, dass er bereits in zwei Jahren den Fall übernehmen und völlig neu aufrollen muss. Zwei Jahre, in denen sich Spuren verlaufen und verwischt werden können.

      Ein Suizid sollte reichen

      Am selben Neujahrstag wirft sich Veit, mein gleichaltriger Freund aus alten Jugendzeiten, vor einen S-Bahn-Zug. Ich habe ihn zuletzt vor circa fünfzehn Jahren getroffen. Damals ging es ihm scheinbar gut. Er hatte eine Freundin und war immer noch in Opposition zum kapitalistischen Schweinesystem. Noch einmal acht Jahre zuvor – es war 1966 – hatten wir als Gymnasiasten in der Schreinerei seines Vaters kleine Hoppe-Hoppe-Holzpferdchen gebastelt, um mit einer lieblichen Provo-Reiterarmee der rücksichtslosen Reiterstaffel der gehassten Bullen Paroli zu bieten. Und natürlich, um das brutale System lächerlich zu machen. Und um mit unseren guten Argumenten in die böse Presse zu kommen.

      An dem Nachmittag, an dem er entschieden hatte, dass er seinem Leben ein Ende setzen würde, klingelt das Telefon. Gerade jetzt klingelt es, als Veit seine Jacke angezogen und seine Schlüssel vom Haken genommen hat Er nimmt an, dass es seine Eltern sind, die sich wegen seiner zunehmenden Depressionen Sorgen machen. Aber Veit will mit niemandem mehr reden. Nach all den verzweifelten Jahren ist er endlich so weit. Heute würde er einen Punkt hinter alles setzen. Da will er nicht das Risiko eingehen, von irgendwem oder durch irgendetwas abgehalten zu werden.

      Bevor er seine Wohnung verlässt, klebt er ein Briefkuvert an die Wohnungstür. Am Neujahrsabend will er nämlich mit einer Clique ehemaliger Arbeitskollegen und Kolleginnen essen gehen und anschließend ins Schiller-Theater. Ich hatte ihm einmal erzählt, dass ich in meiner frühen Studentenzeit in Westberlin am Schiller-Theater als Komparse gearbeitet hatte. Seitdem, so hatte er mir vor Jahren telefonisch berichtet, sei er Fan des Schiller-Theaters geworden und besuche mindestens zwei Vorstellungen im Jahr. Wir hatten darüber herzlich gelacht.

      Markus, Veits ehemaliger Bürokollege, würde ihn heute abholen. Veit will ihn nicht vor geschlossener Tür endlos warten lassen. Veit geht davon aus, dass er gegen achtzehn Uhr tot sein wird und findet es daher nicht mehr als höflich und rücksichtsvoll, seinen Kumpel darüber zu informieren, dass er nicht zu warten brauche.

      „Für MARKUS“, steht auf dem Briefkuvert, das er mit Tesa an die Tür klebt. Innen steht: „Bitte warte nicht. Wenn du das hier liest, habe ich mich zu einem Entschluss durchgerungen, der mein Leben für immer beeinflusst. Lebe wohl!“

      Er geht zu Fuß zum S-Bahnhof Bellevue. Das ist genau die Station, an der ich früher immer ausgestiegen war, um im Dr.-Duwe-Verlag mein Volontariat und später meine journalistische Arbeit an der dort herausgegebenen Publikation, »bundesdeutsche tabus«, anzutreten. Der Fußweg dorthin beträgt für Veit knapp fünfzehn Minuten, und er sagt sich, dass er auf gar keinen Fall wieder umdrehen darf.

      Vor einigen Jahren hatte er sich schon einmal auf seinen »letzten Weg« begeben und dann auf halbem Weg kehrt gemacht. Dieses Mal musste er es durchziehen. Um zu verhindern, dass er im letzten Moment Muffensausen bekommt, macht er einen unbedeutenden Umweg und kauft bei einem kleinen russischen 24-Stunden-Kiosk eine Flasche Wodka. Da er normalerweise wenig Alkohol trinkt, rechnet er sich aus, dass ihm die Flasche ausreichend Mut verleihen würde, den Sprung in den S-Bahn-Schacht zu wagen. An der Kasse fragt sich Veit, ob der kahlköpfige Russe, der ihn kurz mustert, als er ihm das Wechselgeld herausgibt, sich an ihn erinnern wird. Wahrscheinlich steht morgen in der BILD: »Junger Mann springt alkoholisiert vor Zug. Er roch nach Wodka. Stundenlanger S-Bahn-Ausfall.«

      Veit bekommt ein schlechtes Gewissen – wegen dem Ausfall der Verkehrsverbindung, wegen der Rettungskräfte, die seine Reste aufsammeln müssen, wegen der Passagiere, die seinen Sprung vielleicht hilflos mitansehen müssen, wegen des Zugführers, der ihn springen sieht und einen Schock erleidet. Aber Veit will nicht mehr zurück. Sein Leben ist nur noch eine Qual. Täglich

Скачать книгу