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mich nicht ‚Kleines‘!“

      Wir Männer hatten dem ganzen Spiel amüsiert zugeschaut. Vor allem Gerd, der ja mit seiner Bemerkung alles ausgelöst hatte. Mir wurde bewusst, dass er flirtete. Er flirtete mit Sonja. Sehr subtil, aber er tat es. Das gefiel mir natürlich nicht. Aber ich hatte mir ja eine neue Strategie zurechtgelegt. Dazu gehörte es, sich nun nicht auf ihre Seite zu schlagen. Das hätte sie erwartet.

      „Komm Gerd, wenn sich die beiden gegenseitig umbringen, haben wir den Wein für uns alleine“, sagte ich. Er schmunzelte und griff zum Flaschenöffner. Ich reichte ihm die Flasche.

      In dem Moment kam Ruud mit einem Glas und einer eigenen Flasche Wein auf uns zu.

      „Oh, ich sehe, ich komme ja richtig“, sagte er belustigt. Gerd schenkte aus der frisch geöffneten Flasche erst unserem Gast ein, und dann uns.

      „Prost“.

      „Prost“. Wir hoben die Gläser und stießen an.

      „Und wir?“ Simona und Sonja fühlten sich übergangen und protestierten. „Wollen die Herren nicht mit uns trinken? Aha, komm Sonja, wir können auch alleine trinken“, scherzte Simona.

      Sie zog ihre Freundin am Arm.

      „Typisch Frauen, gerade wollten sie sich an den Hals gehen und jetzt verbrüdern sie sich wieder gegen uns“, flachste Gerd und blickte zu ihnen hoch.

      „Ok, wenn ihr das so seht, dann trinken wir unseren eigenen Wein!“ Sonja und Simona wandten sich ab und wollten gerade zum Zelt gehen, als aus dem Halbdunkel eine weibliche Gestalt auf sie zutrat. Es war die junge deutsche Architektin, die wir schon des Öfteren am Strand getroffen hatten. Sie machte einen angespannten Eindruck. Sie sprach die beiden Frauen an. Keiner von uns Männern konnte hören, was sie sagte. Wir scherzten weiter, und hatten den beiden Frauen viel Spaß mit ihrem Wein gewünscht.

      Aus dem Augenwinkel sah ich Sonja wieder zurückkommen und sie stellte sich mit den Worten „Es wird ein kleines Mädchen vermisst!“ an unseren Tisch. „Wir sollen suchen helfen. Die Eltern sind völlig aufgelöst. Wir kennen sie vom Sehen, dort hinter dem Waschhaus steht ihr Wohnwagen.“ Sie zeigte in die Richtung. Ihr Gesichtsausdruck war sehr besorgt, voller Anteilnahme.

      Simona und die junge Architektin traten hinzu, und die junge Frau begann kurz zu skizzieren, um was es ging. Sie berichtete, dass die Kleine mit ihren Eltern Beeren sammeln war, und dann noch einmal kurz wegging, um noch ein paar Beeren zu sammeln, die sie am Wegrand gesehen hatte. Das war schon gute drei Stunden her. Die Eltern hätten bereits erfolglos nach ihrem Kind gesucht.

      Jetzt hoffte der Vater, dass wir mit mehr Suchern mehr Erfolg haben würden.

      Wir schauten uns alle fassungslos an. Ruud und Gerd hielten ihre Gläser in der Hand und man sah ihnen an, dass sie noch nicht in dieser neuen Situation angekommen waren. Keine Warnsignale. Plötzlich.

      „Ja sicher suchen wir“, sagte ich spontan, „Aber ist es nicht besser die Polizei zu holen?“ Die Zunge war bleischwer.

      Diese plötzlich auf mich einstürmenden Neuigkeiten kämpften sich träge durch den Alkoholschleier. Was war passiert? Ein Kind wurde vermisst, wir sollten helfen zu suchen. Von einer Sekunde zur nächsten waren wir in eine Situation geraten, die man schon in Filmen verfolgt hatte. Menschen, die nach jemand suchen. Die Szenen, die sich in den nächsten Stunden abspielen sollten, habe ich nie vergessen.

      Die Polizei war wohl schon informiert, aber sie sagten, sie würden noch einige Stunden benötigen, bis die Hundestaffel hier sein würde. Bis dahin wollte der Vater noch einmal suchen gehen, in der Hoffnung seine Tochter irgendwo, womöglich unverletzt, zu finden.

      Ich schmeckte den Alkohol auf meiner Zunge. Er schmeckte plötzlich nach Furcht. Wieder versuchte ich, mir die Situation zu vergegenwärtigen. Ich war zu betrunken. Wie sollte das denn gehen? Eine Horde Betrunkener torkelt durch den Wald und sucht nach einem kleinen Mädchen. Wir alle waren eigentlich nicht in der Lage, so eine Aufgabe zu bewältigen.

      Sonja kam zu mir. „Micha, stell dir das mal vor. Die Kleine ist einfach verschwunden. Und was ist, wenn sie nicht verletzt ist? Wenn sie jemand entführt hat?“

      Ihre Worte drangen wie durch Watte zu mir. Sie schien mit einem Schlag nüchtern geworden zu sein. Vor nicht einmal fünf Minuten hatte sie auf einer imaginären Linie balanciert, um ihre Nüchternheit zu beweisen und nun schien sie total nüchtern zu sein.

      Ich fühlte mich dagegen sehr betrunken und verspürte das Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf.

      Nein, ich fühlte mich nicht in der Lage, in den Wald zu gehen und ein Kind zu suchen. Was für eine Situation. In meinem Kopf fuhren die Gedanken genauso schnell Karussell wie der Wein konträr mein Gehirn benebelte. Was würde Sonja dann denken? Sie würde mich für einen elenden Feigling halten. Reiß dich zusammen, sagte ich zu mir. Reiß dich zusammen!

      Simona und Gerd packten unsere Sachen zusammen und trugen sie zum Zelt herüber. Sonja und ich warteten auf sie, und dann gingen wir gemeinsam zum Vorzelt der Eltern. Wir hielten uns im Hintergrund. Der Vater berichtete gerade in Kurzform über die Geschehnisse. Er machte einen gefassten Eindruck auf mich. Wir kamen dazu, als er die Anwesenden informierte, dass seine Tochter Nora hieß, und sie einen roten Sandeimer dabei gehabt habe, als sie losging.

      Nora. So hieß die Kleine.

      Nora.

      Ich beobachtete den Vater und versuchte zu ergründen, wie ich mich wohl in so einer Situation verhalten würde. Wie verhält sich jemand, dessen Kind verschwunden ist? Angst. Bestürzung. Fassungslosigkeit. Wie groß war noch der Platz für Zuversicht und Hoffnung?

      Kann man in so einer Situation eine Messlatte für ein Verhalten anlegen? Wäre er vor Verzweiflung nicht in der Lage gewesen, zu sprechen, dann hätte man das verstanden. Dieser Mann hier machte eher den Eindruck auf mich, als funktioniere er und würde gerade generalstabsmäßig einen Schlachtplan mit seinen Untergebenen besprechen. Er wolle uns zu der Stelle führen, wo sie nachmittags Beeren gesammelt hatten. Dort sollten wir im Abstand von fünfzig Metern den Wald absuchen. Er sprach ruhig und bedacht, fast teilnahmslos. Es hätte sich auch um ein verletztes Tier handeln können, auf dessen Suche wir uns nun begeben sollten.

      Im Nachhinein denke ich, dass er einfach nur versucht hat sein Bestes zu geben, um seine Tochter zu finden und die maßlose Furcht in seiner Kehle zu unterdrücken.

      Wir zogen los, um Nora zu suchen.

      Intelligenz ist die Fähigkeit seine Umgebung zu akzeptieren. Dieses Zitat des Amerikaners William Faulkner schoss mir in den Kopf. Warum weiß ich auch nicht. Absurd. Wer weiß, was der Verstand alles für Wege gehen konnte.

      Unsere Umgebung war traumhaft, eine laue Nacht, der harzige Duft von Pinien, der Vollmond tauchte das gesamte Land in ein mildes, silbernes Licht.

      Doch unsere Mission war alptraumhaft. Eine Mission, in die wir gespült worden waren durch Ereignisse, die außerhalb unserer Macht lagen. Uns blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.

      Sonja, ging neben mir her. Sie war still, den Blick auf den Boden gerichtet. Unsere Gruppe bestand aus zehn Personen. Ich rechnete aus, dass wir damit einen halben Kilometer des Waldes, zu dem wir gerade über einen breiten Weg geführt wurden, absuchen konnten.

      „Wer weiß, ob wir an der richtigen Stelle suchen?“, fragte Sonja. Ihre blauen Augen wirkten im Mondlicht eisblau. Traurigkeit. Mitfühlen.

      „Stimmt, aber irgendwo müssen wir anfangen, oder?“ Ich konnte noch klar artikuliert reden, Gottseidank. Dabei hatte ich das Gefühl, meine Zunge sei schwer wie Blei.

      „Ist das nicht schlimm? Man kann nur hoffen, dass wir sie finden

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