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      „Sonja, mal nicht den Teufel an die Wand“, sagte ich, um sie zu beschwichtigen. Kurze Sätze reden, dachte ich. Der Alkohol. Gedanken immer noch wie in Watte gepackt. Weil ich mich ihr gegenüber nicht als Pessimist outen, sondern selbstsicher auftreten wollte, wiegelte ich ihre Gedanken ab.

      „Wir finden sie“, sagte ich. Davon war ich aber nicht überzeugt. Man kennt ja ungute Vorahnungen, die sich einstellen, ohne dass man sie erklären kann. So eine böse Vorahnung hatte ich in diesem Moment.

      Erklär mal eine Vorahnung.

      „Wir werden sie finden und sie wird gesund sein.“ Die Worte kamen wirklich nicht aus Überzeugung, aber Sonja gab sich erst einmal damit zufrieden. Vielleicht wollte ich mich damit auch nur selber überzeugen. Ich wusste es nicht.

      Mittlerweile hatten wir zu den anderen aufgeschlossen und Noras Vater teilte die Suchenden ein. Es sollte immer ein Mann neben einer Frau gehen, falls es zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen würde. Es ging auf, wir waren fünf Frauen und fünf Männer.

      Wir vier hatten nebeneinanderliegende Suchgebiete. Einige hatten Taschenlampen dabei, von uns hatte nur Gerd seine Lampe mit.

      „Wenn ihr etwas seht, dann ruft mich, ich komme dann mit der Lampe und wir haben mehr Licht“, sagte er zu Simona und Sonja.

      Bevor wir unsere Positionen einnahmen, und in den Pinienwald hineingingen, raunte er mir noch zu, dass er kein gutes Gefühl hätte bei der Sache. Da waren wir einer Meinung.

      Der Weg, der uns in den Wald geführt hatte, ging erst vom Campingplatz weg, dann in einem Bogen wieder grob in die Richtung des Strandes. Wir liefen also jetzt parallel zum Meer, dass in einigen Hundert Metern Entfernung lag. Als wir in den Pinienwald eintraten, war es plötzlich dunkel. Die Baumkronen der Pinien hielten viel Mondlicht ab. Ich blieb einen Moment lang stehen und versuchte, mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wie sollte man hier etwas sehen? Es hätte jemand neben mir stehen können, den hätte ich nicht bemerkt. Ich blickte mich um, wollte einen der andren ausmachen. Ich sah niemand. In einiger Entfernung war der zuckende Lichtkegel einer Taschenlampe auszumachen. Das war wohl Gerds Lampe. Das Leuchten kam von weiter aus dem Wald. Also ging auch ich los.

      Nach ein paar Schritten stolperte ich über eine Wurzel oder über einen querliegenden Ast. Mein Mund machte aus Überraschung ein komisches Geräusch, ich hielt inne. Doch ich hörte nur meinen eigenen, keuchenden Atem. Nichts sonst. Schatten schienen nach mir zu greifen. Bloß keine Panik bekommen, dachte ich mir. Ich musste weiter gehen. Aber waren wir vielleicht in Gefahr? Gingen wir hier ein Risiko ein, das wir gar nicht kalkulieren konnten? Ich hatte einem potentiellen Angreifer nichts entgegen zu setzen. Hier hätten mir auch meine Kampfkünste nichts geholfen. Also suchte ich mir einen Stock, und nach unendlich langem Suchen fand ich einen, den ich dann als Taststock nutzte. Mein Atem beruhigte sich. Ich bekam von irgendwoher Sicherheit. Woher auch immer. Langsam gewöhnten sich auch meine Augen an die Lichtverhältnisse. Womöglich durch das konzentrierte Suchen.

      Wenn man richtig hinsah, dann konnte man in den Lichtinseln einige Details wahrnehmen. Diese Inseln, die durch das Mondlicht, das durch die Kronen schien, waren hier und da auf dem Boden auszumachen. Wurzeln, querliegende Äste, Vertiefungen im Boden, in die ich sonst gestolpert wäre. Ich tastete mich von Insel zu Insel weiter. Dagegen spielte mir die Phantasie in den dunklen Stellen oft einen Streich. War das da ein Arm? Oder das da eine Gestalt, die sich duckt?

      Was, wenn ja? Was war, wenn ich einem der Kidnapper begegnen würde? Gab es mehrere? Oder nur einen? Schlich der sich vielleicht gerade in meinen Rücken? Pure Angst. Diese Angst trieb meinen Puls in die Höhe. Ich umfasste meinen Stock und sah mich um. Immer wieder. Doch ich sah niemanden. Ich stellte mir vor, wie ich einem Angreifer meinen Stock über die Rübe klopfte. So blöd wie der Gedanke war, er schien mir Sicherheit zu geben. Ich stand eine Weile da und saugte diese Sicherheit in mich auf.

      Vielleicht hatte Sonja Recht und die Kleine war entführt worden. Sah der Vater von Nora nach Geld aus? Würde eine Familie mit Geld auf diesen Campingplatz fahren? Eher nicht. Daher verwarf ich die Entführungstheorie und stellte mich auf ein viel übleres Szenario ein. Jemand, der auf kleine Kinder steht. Ein Vergewaltiger? Ein Pädophiler?

      Sollte er kommen, ich würde ihm den Knüppel über den Kopf ziehen, dem Schwein. Ich machte einen Schlagtest an einer der Pinien. Der Knüppel hielt es aus. Also würde er auch dem Schädel eines Unholdes trotzen. Augenblicklich war ich ruhiger, stellte mir aber auch gleichzeitig entsetzt die Frage, was ich hier treibe. Es war wohl der Alkohol, der mir immer noch zusetzte. Das wäre vielleicht auch für jeden unbeteiligten Zuschauer eine gute Ausrede gewesen. Doch wem sollte ich hier schon begegnen? Mittlerweile war der Gedanke an einen Gegner, der mich von hinten angreifen würde, verblasst. Ich ging weiter.

      Ich beschwor keine weiteren Unheilszenen hervor und begann nach dem Mädchen zu suchen. Noch sprach nichts dagegen, sie lebend zu finden.

      Von links und rechts hörte ich ihren Namen rufen. „Nora“ rief auch ich, erst leise, dann lauter. Das laute Rufen schuf Sicherheit. Es sagte: Hier bin ich und ich suche dich.

      Und jeder soll es wissen, wir suchen dich.

      Die Dunkelheit war bald kein Hindernis mehr, im Gegenteil. Der Mond stand noch höher am Himmel und beleuchtete das Szenario perfekt. Die Bäume schienen weiter auseinander zu stehen, oder ich hatte mich an das alles gewöhnt. Zehn Menschen liefen rufend durch einen Pinienwald an der Atlantikküste. Sie waren auf der Suche nach einem kleinen Mädchen. Eine persönliche Hölle an einem Ort, den viele Menschen als einen der schönsten Plätze an der französischen Atlantikküste bezeichneten.

      Ich rief immer wieder den Namen des Mädchens. Nora. Wieder und immer wieder. Ich schwang den Stock über den Kopf und sprang ungelenk über die auf dem Boden liegenden Pinienäste. Ich weiß nicht, wie viele blutige Striemen ich während des Suchens abbekam.

      Immer wieder kam jedoch die Angst zurück, hinter dem nächsten Baum könnte jemand lauern. Also sprang ich hinter die Bäume und schrie. Nachdem ich das einige Male gemacht hatte, kam ich mir wieder fürchterlich albern vor. Ich war immer noch betrunken. Sonst hätte ich solch einen Quatsch nicht gemacht. Ich schielte herüber und versuchte Sonja zwischen all den Bäumen auszumachen. Wenn sie mich gesehen hätte, würde sie mich sicher für bekloppt halten. Also. Kein Baumanschreien mehr.

      Keine Sonja, ich sah niemanden mehr. Da fiel mir ein, wir hatten keine Signale ausgemacht, falls jemand Nora finden würde. Womöglich hatte sie schon jemand gefunden und ich war der Einzige, der hier noch wie Rambo für Arme im Wald herumhampelte. Jetzt kam ich mir plötzlich allein und verloren vor in dem Wald. Ich fing wieder an, zu rufen. Darum ging es hier. Wir wollten das Kind finden. Das Rufen gab mir die Sicherheit zurück.

      Mehr Mondlicht, mehr Sicherheit, Bäume mit mehr Abstand, weniger Hindernisse auf dem Boden, weniger Angst. Behände stieg ich jetzt über die umgestürzten Bäume und Wurzeln, den Stock mit beiden Händen gepackt. Nach einer Weile, sah ich weiter links wieder die Lampe aufleuchten, nicht weit entfernt. Also suchte er auch noch. Das gab mir die Bestätigung, ich suchte also nicht alleine. Aber wieso war er so nah? Klar, wir hatten ja keine Orientierung hier im Wald. Wahrscheinlich liefen wir zickzack und bemerkten es nicht einmal. Hatte Gerd die Chance genutzt und hatte sich Sonja genähert? Das würde erklären, warum der Lichtkegel so nah war. Der Gedanke bereitete mir keine Freude.

      Der Blick glitt weiter über den Boden und mit der Zeit konnte man immer mehr differenzieren. Das fahle Mondlicht half Dinge zu erkennen. Ich konnte sogar verschiedene Baumarten ausmachen, sah in jede Senke, ob sich dort jemand verbarg oder ob dort ein kleines Mädchen ohnmächtig vor Schmerzen lag. Sie hätte sich ein Bein brechen können. Und hätte sehr wahrscheinlich unheimliche Angst. Aber da half ja das Rufen. Ein Kind hätte sicher keine Angst gehabt und sich bemerkbar gemacht, wenn jemanden seinen Namen rief.

      Der Wald schien endlos. Wir waren sicher bereits eine Stunde unterwegs. Der Mond zog

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