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Rufen mehr zu hören.

      Ich stand still, lauschte atemlos in die Nacht. Nichts war zu hören. Ich breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis. Die Bäume wirbelten. Der Mond wirbelte. Meine Gedanken wirbelten. Wer hatte hier die Karten ausgeteilt? Wer hatte das As im Ärmel? Ich hielt inne. Der Alkohol lies meinen Kopf weiter kreisen. Auch als ich schon lange stand. Du musst weiter, sagte ich mir. Komm zu dir.

      Wir waren planlos in diesen Wald hineingegangen. Keine Absprache, wie lange wir suchen wollten und wo wir uns treffen wollten. Weiter ging es. Es blieb mir nichts anderes übrig. Minutenlang ging ich fast tastend weiter, immer auf der Hut etwas zu hören.

      Plötzlich lichtete sich der Wald und vor mir lag ein Weg. Ich schaute in beide Richtungen und sah mit Abstand im Wald wieder die vertraute Lampe leuchten.

      Ich starrte in die Richtung und bemerkte jemand in gut zwanzig Metern Entfernung aus dem Wald kommen. Es musste Sonja sein. Sie war alleine. Kein Gerd in ihrer Nähe. Gut. Umsonst gegrübelt. Ich rief sie. Seltsam einen anderen Namen zu rufen, als den des Kindes. Die Einsamkeit hatte ein Ende. Wir liefen aufeinander zu und sie fiel mir in die Arme.

      „Micha, das war so schrecklich, ich habe solche Angst gehabt.“

      Ich hielt den Knüppel hoch und sagte „Frag mich mal.“ Es machte mir nichts aus. Sie konnte wissen, dass auch ich Angst gehabt hatte.

      „Schlimm, nichts gefunden. Wo soll sie denn sein?“ Wir fuhren herum. Simona stand nur einem Meter neben uns.

      „Mann, schleich dich doch mal an!“ sagte ich. Mein Herz klopfte wild.

      „Bin kein Mann. Bin nur müde und immer noch halb besoffen und frustig!“, entgegnete sie, „Wir sollten zurückgehen. Noras Vater hatte eine Stunde gesagt. Die haben wir nun gesucht. Und es dauert noch eine, bis wir wieder zurück sind.“

      „Hat er das gesagt?“ fragte ich. Sonja hatte es auch nicht gehört, aber Simona versicherte uns, dass es so gesagt worden war. Gerd gesellte sich in dem Moment zu uns. Er schaltete seine Lampe aus.

      „Was für eine Aktion“, sagte er, „Ich wusste teilweise nicht mehr, wo ich war.“

      „Na sag mal, mir ging‘s nicht anders“, sagte Simona.

      „Das ist doch nicht das Schlimmste. Wir rennen hier halbbesoffen durch den Wald und suchen ein kleines Kind. Und das liegt womöglich irgendwo und kann sich nicht bemerkbar machen. Das ist schlimm. Und für die Eltern ist es schlimm. Der Vater kam mir eben vor wie ein Zombie. Der Arme. Hat einer von euch die Mutter gesehen?“ Sonja sah mich an, doch war die Frage an alle gerichtet.

      Keiner von uns hatte sie gesehen.

      Ich sagte: „Ich habe bei der Sache kein gutes Gefühl. Ich denke, wir suchen an der völlig falschen Stelle. Denkt ihr, dass ein Kind so weit weg läuft, wenn es nur Beeren holen wollte?“

      Wir schauten einander an und schwiegen.

      Ich wusste nicht, wieso ich das plötzlich mit solcher Klarheit sagen konnte. Vielleicht lag es an der vergeblichen Suche. Oder ich wurde langsam nüchtern und konnte wieder klarer denken. Wir waren mitten in einem Albtraum. Wer konnte sich eine solche Situation ausdenken, wenn er es nicht selber erlebt hatte?

      „Wer weiß denn, wie wir gehen müssen?“ fragte Simona, „Wir können wieder durch den Wald tapsen. Dann treffen wir bestimmt wieder auf den anderen Weg.“

      „Ich denke, dass wir weiter vorne irgendwo rechts abbiegen können. Das hier sind alles alte Nazi-Wege. Die haben das schachbrettartig angelegt“, schlug Gerd vor.

      Ich musste ihm in dem Punkt zustimmen. Wir setzten uns stumm in Bewegung und trafen nach einigen Metern auf die junge Architektin, die aus dem Wald kam. Wir brauchten nichts zu sagen, aus ihrem Gesicht sprach dieselbe Furcht wie aus unseren.

      „Wir denken, dass wir hier völlig falsch suchen“, sagte Sonja.

      „Das mag sein, aber wir mussten doch das Gebiet einteilen, um genau so etwas auszuschließen.“

      Aus ihren Worten sprach der klare Architektenverstand. Oder einfach nur weniger Alkohol. Was auch immer.

      „Was denkst du denn?“ fragte ich sie. „Ich meine, denkst du, sie lebt noch?“ Ich duzte sie einfach.

      Mich interessierte, wie so ein Mensch, der so analytisch als Architektin arbeiten muss, über diese Ausnahmesituation denkt.

      Sie schaute mich lange an.

      Stille.

      Mondlicht. Tastende Blicke. Nachdenken.

      Sie riss den Blick von mir los. „Ja, das denke ich. Also lasst uns keine Zeit verlieren und zurückgehen“. Schon stapfte sie los.

      Sonja blickte mich an und ich wusste, dass sie sich fragte, warum ich der Architektin diese Frage gestellt hatte. Ich wollte es einfach wissen. Menschen in Ausnahmesituationen sollten sich doch im Klaren über ihre Rolle sein. Und ehrlich miteinander reden. Schließlich hing von unserem Tun womöglich ein Leben ab.

      Gerd hatte Recht gehabt, nach ein paar Metern gab es eine Abbiegung nach rechts, der wir dann folgten. Weiter wortlos. Der fahle Mond stand immer noch am Himmel, als stummer Zeuge der Stille, die die kleine Gruppe von Menschen umgab. Hätte man von einem Satelliten aus die Szenerie beobachten können, dann hätte man kleine Gruppen von Menschen sehen können, die sich alle auf einen Punkt zu bewegten. Dieser Punkt war der Wohnwagen von Noras Eltern. Nach einer viel zu langen Zeit, erreichten wir wieder unsere Ausgangsposition, um dort zu erfahren, dass wir alle erfolglos gewesen waren. Noras Eltern warteten auf die Polizei.

      Noras Vater hatte beschlossen, dass wir uns alle an der Rezeption des Platzes treffen sollten. Dort würden die Einsatzkräfte der Polizei ankommen und auch die Hunde. Er selbst wollte an den Strand gehen und dort suchen. Ihn begleiteten einige Camper, die vorher nicht zur Gruppe der Suchenden gehört hatten. Mittlerweile war es vielen auf dem Platz bekannt, dass ein kleines, deutsches Mädchen vermisst wurde.

      Wir gingen zu unserem Platz, um etwas zu trinken. Dort stand der Tisch auf dem noch verstreut die Karten lagen. Wie gerne hätten wir die Uhr zurückgedreht, um die Umstände ungeschehen zu machen. Simona wischte mit einer schnellen Bewegung die Karten zusammen und steckte sie in die Hülle. Als hätte sie die Gedanken der anderen erraten.

      „Ich habe ja schon mal darüber nachgedacht, wie das wohl ist, wenn man nach einer vermissten Person sucht. Nun sind wir mitten drin in einer solchen Suche, und ich muss sagen, es ist völlig anders, als ich es mir vorgestellt habe“, sagte Simona und hielt das Päckchen mit den Karten in der Hand.

      „Wie hast du es dir denn vorgestellt?“ fragte ich. Ich hockte neben dem Tisch, wollte mich nicht setzen und wusste nicht, warum.

      „Anders. Emotionsloser. Man ist so in die Situation hineingeworfen und kann nicht weg. Das stellt man sich so nicht vor. Das habe ich mir nicht so vorgestellt, meine ich“, antwortete sie.

      „So was kann man sich nicht vorstellen. Das geht nicht“, entgegnete Gerd, „Dazu sind die Menschen viel zu stumpf.“

      „Stumpf? Wieso stumpf?“ fragte Sonja. Sie schaute Gerd fragend an, beinah ein wenig verächtlich.

      „Weil man sich keine Gedanken um solche Situationen macht, wenn man es nicht muss. Die Menschen vermeiden es doch, sich mit Schmerzhaftem auseinander zu setzen. Würde man das tun, dann wäre man masochistisch. Außerdem ist das auch nicht gesund für die Psyche.“

      Er lag halb ausgestreckt in dem Campingstuhl. Ich dachte

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