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eventueller Modelle für die Kirche von Combray und für Vinteuils Sonate gilt mehr oder weniger das gleiche wie für die Personen der Suche – »selbst für die unbelebten Gegenstände destilliere ich etwas Allgemeines aus tausend unbewussten Reminiszenzen« (Brief an Robert de Montesquiou vom Mai 1921, Corr. XX, S. 281) –, hier erlaubt Proust allerdings doch einen kleinen Einblick in die Natur dieser Eindrücke. So schreibt er in seiner Widmung von WS für Jacques de Lacretelle: »Für die Kirche von Combray hat sich mein Gedächtnis zahlreicher Kirchen als Modelle bedient. Ich könnte Ihnen nur nicht sagen, welcher. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, ob das Pflaster aus Saint-Pierre-sur-Dives oder aus Lisieux stammt. Manche der Fenster stammen sicherlich aus Évreux, andere aus der Saint-Chapelle und aus Pont-Audemer«, und fährt dann fort: »Was die Sonate angeht, sind meine Erinnerungen genauer. […] die kleine Phrase der Sonate […] bei der Soiree Saint-Euverte ist die charmante, aber letztlich mittelmäßige Phrase von Saint-Saëns, ein Komponist, den ich nicht mag. Es würde mich allerdings wundern, wenn ich weiter unten bei der kleinen Phrase nicht an den Karfreitagszauber gedacht hätte. Und dann an eben diesem Abend, wo Violine und Klavier zwitschern wie zwei Vögel, die einander antworten, nicht an die Sonate von Franck […], dessen Quartett in einem späteren Band in Erscheinung treten wird. Die Tremolos, die bei den Verdurins die kleine Phrase überdecken, sind mir durch das Vorspiel zum Lohengrin suggeriert worden, aber die Phrase selbst in diesem Augenblick durch etwas von Schubert. Und noch an diesem selben Abend ist sie auch ein hinreißendes Stück für Klavier von Fauré.« Wie weit man allerdings Prousts weitere Ausführungen zu den Monokeln bei Madame de Saint-Euverte wirklich als Charakterisierungen »lebloser Gegenstände« ansehen darf oder sie nicht doch schon als klare Anleihen bei lebendigen Personen ansehen muss, erscheint fraglich; auf jeden Fall aber erscheinen sie mir von eigenständigem Interesse: »Bei dem Monokel von Monsieur de Saint-Candé habe ich an das von Monsieur Bethmann gedacht (nicht der Deutsche – auch wenn der der Ursprung sein mag –, sondern an den Vater der Hottinguers), bei dem von Monsieur de Forestelle an das eines Offiziers, den Bruder eines Musikers namens d’Ollone, für das des Generals Froberville an das eines vorgeblichen Schöngeistes – ein veritabler Rohling –, den ich bei der Prinzessin von Wagram und ihrer Schwester kennengelernt habe und der sich Monsieur de Tinseau nannte. Das Monokel von Monsieur de Palancy ist das des armen und teuren Louis de Turenne, der sich wohl nicht hatte träumen lassen, dass er eines Tages mit Arthur Meyer verwandt sein würde, zumindest nach der Art zu urteilen, in der er ihn bei mir einmal behandelt hat. Turennes Monokel geht dann in Le Côté de Guermantes an Bréauté über, glaube ich.« (Hommage à Marcel Proust, S. 190 f.)

      Natürlich erschafft kein Schriftsteller seine Figuren aus dem Nichts; die Komposition aus Einzelzügen, die der Realität entnommen wurden, dürfte eine allgemeingültige Vorgehensweise sein. Die Frage, die ja in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Gerichte beschäftigt hat, ist dabei, inwieweit ein Leihgeber erkennbar bleibt. Hierzu gibt Proust in der Suche selbst einige entscheidende Hinweise zu seiner Vorgehensweise:

      Der Literat beneidet den Maler, er würde auch gern Skizzen anfertigen, Notizen machen, und ist verloren, wenn er es tut. Wenn er aber schreibt, so ist da nicht eine Geste, nicht ein Tick oder Tonfall seiner Personen, die seine Inspiration nicht aus seinem Gedächtnis bezogen hätte, kein Name einer erfundenen Person, dem er nicht sechzig Namen von Bekannten unterlegen könnte, von denen der eine für die Grimasse, der andere für das Monokel, ein dritter für den Wutanfall, ein weiterer für die gefällige Armbewegung usw. Modell gestanden hat. Und dann wird dem Schriftsteller klar, dass sein Traum, ein Maler zu sein, zwar nicht auf bewusste und willentliche Art zu verwirklichen war, dass er aber gleichwohl Wirklichkeit geworden ist und dass auch er, der Schriftsteller, sein Skizzenbuch geführt hat, freilich ohne es zu wissen.

      Denn getrieben von dem Instinkt, der in ihm war, unterließ es der Schriftsteller schon lange, bevor er glaubte, eines Tages ein solcher zu werden, regelmäßig, allerlei Dinge zu betrachten, die anderen auffielen, was ihm von diesen anderen den Vorwurf eintrug, zerstreut zu sein, und von ihm selbst, weder recht hören noch sehen zu können; während jener Zeit hieß er seine Augen und Ohren sich für immer merken, was die anderen für kindischen Kleinkram hielten, den Tonfall, den Gesichtsausdruck, die Schulterbewegung, mit denen irgendeine Person, von der er womöglich sonst nichts weiß, in einem bestimmten Augenblick vor vielen Jahren einen Satz gesagt hat, und zwar deshalb, weil er diesen Tonfall schon einmal gehört hatte oder weil er spürte, dass er ihn einmal wiederhören könnte, dass er etwas Wiederholbares, Dauerhaftes war; das Gefühl für das Allgemeingültige wählt beim zukünftigen Schriftsteller selbständig das aus, was allgemeingültig ist und in das Kunstwerk wird Eingang finden können. Denn er hat den anderen nur zugehört, wenn sie sich, so dumm oder verrückt sie auch sein mochten, genau dadurch, dass sie wie Papageien wiederholten, was andere von ähnlichem Charakter sagen, zu weissagenden Vögeln machten, zu Verkündern eines psychologischen Gesetzes. Er erinnert sich nur an das Allgemeingültige. Durch diesen Tonfall, jene Veränderung im Gesichtsausdruck, selbst wenn er sie in frühester Kindheit wahrgenommen hat, war das Leben der anderen in ihm repräsentiert und würde, wenn er später schriebe, aus einer Bewegung der Schultern zusammengesetzt werden, die vielen gemeinsam ist, so getreu, als ob sie aus dem Skizzenbuch eines Anatomen stammte, aber hier, um eine psychologische Wahrheit auszudrücken, indem auf die Schultern des einen die Halsbewegung eines anderen gepfropft wird, so dass jeder für einen Moment Modell gestanden hat. (WZ, S. 295 f.)

      Dieses weiträumige Kompositionsprinzip sieht der Erzähler als einen der Gründe an »für die Sinnlosigkeit aller Versuche, die man anstellt, um herauszubekommen, von wem ein Autor spricht« (WZ, S. 306). Dies muss allerdings mit einem Körnchen Salz genommen werden, denn in seinem Brief an Lucien Daudet vom 3. Juni 1915 schreibt Proust beispielsweise: »Im nächsten Band dagegen werden Sie in Madame de Villeparisis eine [[…]] oder [[…]] sehen, während die Guermantes die [[…]] oder die [[…]] sind«; zwar wurden die Namen vom Empfänger oder seinen Erben geschwärzt, aber die Existenz von Vorbildern wird eben doch zugegeben. Und wohl auch nicht ohne Grund verweist Proust in WG (S. 567) ausdrücklich auf Carpaccio und dessen Neigung, Freunde und Verwandte wiedererkennbar unter die Statisten zu mischen, während die Hauptpersonen meist weitgehend typisiert sind. Bei genauerem Hinsehen erweist sich durchaus, dass etlichen Nebenpersonen ziemlich zweifelsfrei der eine oder andere Zeitgenosse Prousts zugeordnet werden kann, so etwa dem geschwätzigen Bruder Cartier der fiktiven Madame de Villefranche der sehr reale Pariser Präsident der Anwaltskammer Ernest Cartier, oder dem großsprecherischen Bildhauer Viradobetski, genannt Ski, aus dem Kreis Verdurin der Bruder des Arztes von Prousts Mutter, der Pariser Bildhauer Paul Landowski, dem die Welt den Christus von Rio de Janeiro verdankt.

      Der Ruf als Salonlöwe, der Proust vorauseilte und ihn die Sympathie André Gides als Lektor der Nouvelle Revue Française gekostet hatte29, hatte 1896 durch die Publikation der Sammlung von Prousts Figaro-Essays Les Plaisirs et les Jours neue Nahrung erhalten, in der konzentriert auftrat, was man sonst nur gelegentlich genoss. Offenbar sah Proust die Gefahr, dass das Publikum, wie André Gide30, das neue Werk im Lichte dieser früheren Arbeiten lesen und missverstehen würde, und versuchte, dem mit Briefen an die wichtigsten Kritiker vorzubauen und sie insbesondere von den Charakterisierungen délicat und fin abzubringen, die die Besprechungen von Les Plaisirs et les Jours geprägt hatten – wobei Proust offenbar exquis vergessen oder verziehen hat. So schreibt er Anfang (5., 6. oder 7.) November 1913 an René Blum, den Redakteur der täglich erscheinenden Literaturzeitung Gil Blas: »All dies ist nur das Gerüst des Buches. Was es trägt, ist wirklich, leidenschaftlich, ganz verschieden von dem, was Sie von mir kennen und, wie ich glaube, weniger schlecht, es verdient nicht mehr die Epitheta délicat und fin, sondern lebendig und wahr« (Corr. XII, S. 296); am 7. oder 8. November 1913 an seinen Jugendfreund und Leiter des Feuilletons des Figaro, Robert de Flers: »Was gesagt werden muss ist vor allem, dass es sich hier keineswegs um meine Artikel im Figaro handelt, sondern um einen Roman, der zugleich voller Leidenschaften, Betrachtungen und Landschaftsbeschreibungen ist. Vor allem aber ist er völlig verschieden von Les Plaisirs et les Jours und weder délicat noch fin« (Corr. XII, S. 298); und schließlich noch am 12. November, zwei Tage vor dem Erscheinen des ersten Bandes, an den Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette: »Falls Sie eine Besprechung machen wollen, würde ich es begrüßen, dass die Epitheta fin, délicat ebenso wenig vorkommen wie irgendein Verweis auf Les Plaisirs et les Jours. Dieses hier ist ein Werk voller Kraft […]« (Corr.

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