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die Ehrenlegion] mögen denken, dass es um pro-sodomitische oder pro-gomorrhitische Bücher gehe, so wie Barrès und Abbé Mugnier, die etwas enttäuscht waren, als sie erfuhren, dass sie im Gegenteil anti-sodomitisch und anti-gomorrhitisch sein würden. Tatsächlich hätte ich es vorgezogen, wenn sie weder pro noch anti wären, sondern einfach objektiv. Aber die Schicksale ihrer Personen, ihrer Charaktere haben sie anti werden lassen« (Corr. XIX, S. 467). In Hinblick auf Sodom I zumindest folgt die Kritik dieser Auffassung nicht; Souday deutet seine Einschätzung durch die Blume und unterhalb der Gürtellinie an, indem er Proust zu dessen Ärger als »morbide und feminin« charakterisiert (»fragen Sie mal meine Duell-Sekundanten, ob ich die Weichlichkeit des Effeminierten habe«, Corr. XIX, S. 575), und Binet-Valmer, der selbst einen Roman über einen homosexuellen Lucien geschrieben hat, der freilich am Ende scheitert, liest Sodom I offenbar als eine Art Verteidigungsschrift, die man junge Damen nicht lesen lassen dürfe: »Soweit ich kann, werde ich verhindern, dass unsere lieben Leserinnen glauben, die letzten Seiten dieses schönen Buches, und die abstoßenden Bücher, die folgen sollen, seien eine angemessene Wiedergabe der französischen Seele« (in: Comœdia, 22. Mai 1921). Noch deutlicher werden »Les Treize«, die in einer Kurznotiz in der Zeitung L’Intransigeant am 5. Juni 1921 schreiben: »Der Anfang von Sodom und Gomorrha überrascht durch einen rücksichtslosen Realismus und durch seine Plädoyers von einem romantischen und amoralischen Ungestüm.« Erstaunlich starke Worte fand der mit Proust befreundete Henri Ghéon, allerdings erst nach dessen Tod, am 10. März 1923 in der Revue des Jeunes: »Sein schwerster moralischer Fehler war, ohne alle Heuchelei, als seien es akzeptierte, normale Dinge, Laster zu beschreiben und zu benennen, die geheim blieben oder verurteilt wurden, bis er kam; es geht nicht um das Aufstechen der Blase, sondern darum, ob man den Eiter überall hin verschmiert und einer ›Blutvergiftung‹ den Weg bereitet.«

      Wie Hodson S. 29 anmerkt, scheint die Debatte über Proust nach seinem Tod ganz allgemein für einige Zeit vom Stilistischen ins Moralische abgeglitten zu sein: »Es fiele uns schwer, auch nur die Titel seiner letzten Werke zu nennen. An Marcel Proust war etwas Krankhaftes, was die morbiden Aspekte seines Werks zwar erklärt, aber nicht entschuldigt« (anon., in: Le Gaulois, 20. November 1922), und dann wenig später noch sehr viel expliziter Charles-Henry Hirsch im Mercure de France: »Proust kann nicht dafür gerühmt werden, ein Chronist seiner Zeit zu sein. Alles, was er gesehen hat, ist die pilzartige Ausbreitung einer ungesunden Gesellschaft, einer Clique, die es zum Laster treibt, […] eine auf den Kopf gestellte Elite: eine Elite des Müßiggangs und der Inkompetenz – eine Kaste, die ihrer selbst überdrüssig ist, ein paar Hundert Individuen, die er, krank wie er selbst, mit einer Präzision beobachtet und analysiert hat, die einer Klinik angemessen wäre« (1. März 1923).

      Auf der anderen Seite gab es aber auch genügend Stimmen, die mit Staunen Prousts Durchdringungskraft zur Kenntnis nahmen und entdeckten, was Proust selbst vorgeblich vermisste: eine leidenschaftslose, objektive Position, von der aus er schlicht darstellt, was der Fall ist. »Dieses erste Kapitel über Invertierte ist ein Meilenstein in der Literaturgeschichte. Diese von so scharfsinniger Beredsamkeit geprägten, in ihrer Poesie so herben und hochherzigen Seiten brechen einen Bann, den ästhetischen Bann, der über der sexuellen Inversion lag und unter dem die Künste und die Literatur so lange gestanden haben«, schreibt Roger Allard am 1. September 1921 in der Nouvelle Revue Française zu Sodom I und setzt den Gedankengang am 1. Juni 1922 in seiner Rezension zu Sodom II fort, ebenfalls in der Nouvelle Revue Française: »[…] Monsieur de Charlus, der Herzog von Guermantes [gemeint ist vermutlich der Prinz von Guermantes] und der Violinist Morel sind, selbst wo sie sich mit den bizarren und grotesken Abenteuern lächerlich machen, denen ihre sexuellen Neigungen sie aussetzen, nicht weniger überzeugend und anrührend als die Könige und Prinzessinnen Racines. In der Tat dürfte der Leser bemerken, dass Proust in [diesem] Band vermehrt aus Esther und Athalie zitiert.« Fernand Vandérem vergleicht in seiner Rezension von Sodom II am 15. Juni 1922 für die Revue de France die Schwäche des seriösen Charlus für den geriebenen Morel mit der Zuneigung des zwielichtigen Vautrin zu dem naiven Rubempré in den Illusions perdues und erklärt: »Ich will nicht sagen, dass Balzac schlechter sei als Proust; doch wie viel weniger unterhaltsam, wie viel weniger anrührend finde ich ihn bei der Beschreibung vergleichbarer Ereignisse. Denn sowohl die Feinfühligkeit als auch die blendende Klarheit, mit der Proust für uns diese ›argen Männer‹ [»hommes damnés«] analysiert, grenzt an Wunder. Sie sind ein endloser Quell des Lachens für ihn und für uns, und dennoch gelingt es ihm, uns Mitleid mit ihnen empfinden zu lassen.«

      Sodom und Gomorrha II (erschienen 28. 4. 1922) Die Kritik scheidet sich auch bei diesem Band wieder in eine konservative Frak­tion, die lieber einen Roman aus dem 19. Jahrhundert in Händen hielte, und die zukunftsoffenen Geister, die neue Horizonte der Wirklichkeitsbemächtigung in Prousts Werk erblicken. Paul Souday moniert, nachdem er den Reichtum an Konjunktiven beklagt hat, die Abwesenheit des einen oder anderen Zirkumflex, der ein eut oder ein fut als Konjunktiv ausgewiesen hätte, und deutet sie als Beweis für Prousts mangelnde Beherrschung des Französischen: »Proust steht mit dem Tempus, den Modi und überhaupt ganz allgemein mit der Grammatik auf Kriegsfuß.« Interessant wird dann aber die Fortsetzung des Zitats, da Proust sich offenbar darüber geärgert hat: »Diese Unvereinbarkeit der Charaktere [Prousts und der Grammatik] reißt ihn zu amüsanten Missverständnissen hin: ›‚J’ai pas pour bien longtemps‘, sagte der Liftboy, der die Regel von Bélise ins Extreme trieb, nach der die Wiederholung des pas mit ne zu vermeiden sei, und sich stets mit einer einzigen Verneinung begnügte.‹ Bélise hätte sich gehütet, eine derart falsche Regel aufzustellen.« Da hat Souday zwar gut aufgepasst, aber in seinem Eifer übersehen, dass Molière sich mit der Sprachpedantin Bélise über Sprachpedanterie im allgemeinen und ihre Anhängerschaft im besonderen lustig macht – fast, als hätte Proust ihm, Souday, hier geschickt eine Falle gestellt. In einem Brief vom 17. oder 18. Mai 1922 schreibt Proust in diesem Zusammenhang an Gallimard: »Haben Sie die vorgeblich grammatische Anklageschrift von Souday gelesen? […] Was für eine hübsche Antwort könnte ich ihm erteilen, wenn ich nicht auf so gutem Fuß mit ihm stünde.« Der letzte Halbsatz muss blanke Ironie gewesen sein, denn noch Mitte des Monats schickt Proust Souday einen Brief, in dem er dessen Artikel in Soudayscher Manier rezensiert: »Monsieur Souday hat uns ein neues Feuilleton über das Werk Marcel Prousts vorgelegt. Dieses Feuilleton zählt nicht weniger als fünf Spalten. Von diesen fünf Spalten nehmen die Erörterungen hinsichtlich der Länge des Werkes, der Seitenzahl, der Verwandtschaft mit den längsten und unerträglichsten Romanen des 17. Jahrhunderts nicht weniger als zwei Spalten ein«, usw. Doch dann zum eigentlichen Punkt des Ärgernisses: »Die Regel von Bélise ist schon bei Molière gänzlich ungenügend ausgedrückt; eine logische und grammatische Analyse würde vollständige Überarbeitung erfordern […]. Doch die beiden Verse sind deshalb nicht weniger schön, und wer würde sich bei dem Schwung des Ganzen wohl über die Schiefigkeit einer Formulierung ereifern?« Fazit: »Dies beweist, dass man bei seinem Urteil nicht allzu sehr den Grammatiker herauskehren sollte« (Corr. XXI, S. 187–189).

      Inzwischen wird jedoch die Kritik im Geiste eines Souday zunehmend weniger hörbar, und verständigere Stimmen beginnen, die Diskussion zu beherrschen. François Mauriac entdeckt in der Revue hebdomadaire vom 26. Februar 1921 die Funktion des von anderen Kritikern zuvor so gern geschmähten Detailreichtums: »Je gründlicher er spezifische und auffällige Merkmale ansammelt, desto gründlicher vermeidet er die Gefahr, sich im Detail zu verlieren, und desto gründlicher gewinnen seine Bilder eine universelle Bedeutung. Die Tausende von Notizen, ihrerseits von diesem geduldigen Visionär ausgewählt aus Abertausenden, zeigen uns die Wahrheit, und die ist der Heilige Gral der Kunst.« In diesem Sinn äußerte sich auch schon im Figaro vom 19. September 1919 Henri de Régnier, der vor allem von der Soiree der Prinzessin von Guermantes hingerissen war: »Dieser Bericht von einem Diner bei den Guermantes mit all seinen Verwicklungen und Gesprächen, mit den detailliertesten Details, mit seinen Momenten der Stille und seinen Anspielungen, liefert ein erstaunliches Bild des privaten gesellschaftlichen Lebens in seinen fein abgestuften Tönen und Nuancen. […] Prousts Realismus verhält sich zum gewöhnlichen Realismus wie eine Apothekerwaage zur Gepäckwaage im Bahnhof.« Auch Henry Bidou weist in seinem Beitrag für die Revue de Paris vom 1. Juni 1922 auf diese »Kunstfertigkeit des Uhrmachers, Dinge auseinanderzunehmen« hin, hebt aber noch einen weiteren Aspekt hervor, Prousts »Talent eines Malers, Zeichen zu beachten«, und illustriert diesen mit einem in der Tat bemerkenswerten

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