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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer
Читать онлайн.Название Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
Год выпуска 0
isbn 9783159617954
Автор произведения Bernd-Jürgen Fischer
Жанр Документальная литература
Серия Reclam Taschenbuch
Издательство Bookwire
Sie schreiben von meiner Kunst des winzigen Details, des Nichtwahrnehmbaren, usw. Ich weiß nicht, was ich tue, aber ich weiß, was ich tun will; ich unterdrücke vielmehr (außer in den Passagen, die mir nicht gefallen) jedes Detail, tatsächlich wende ich mich nur dem zu, was mir […] irgendeine allgemeine Gesetzmäßigkeit zu offenbaren scheint. Und da diese uns niemals vom Verstand enthüllt wird und wir nach ihr sozusagen nur in den Tiefen unseres Unbewussten fischen können, ist sie in der Tat nicht wahrnehmbar, denn sie ist entfernt, sie ist schwierig wahrzunehmen, aber sie ist keineswegs ein winziges Detail. Ein Gipfel in den Wolken kann, obwohl ganz klein, sehr wohl höher sein als eine benachbarte Fabrik. Beispielsweise ist dieser Geschmack des Tees, den ich zuerst nicht wiedererkenne und in dem ich die Gärten von Combray wiederfinde, so eine nicht wahrnehmbare Sache. Aber sie ist keineswegs ein winziges beobachtetes Detail, sie ist eine ganze Theorie der Erinnerung und der Wahrnehmung (das ist jedenfalls mein Anspruch), die nur nicht in Begriffen der Logik verkündet wird (das alles wird noch im 3. Band wiederauftreten). (Corr. XII, S. 231.)
Im gleichen Sinne schreibt Proust am 28. oder 29. Dezember 1913 an Robert Dreyfus: »Dein Freund und Nachbar [der Redakteur Raymond Recouly der Tageszeitungen Le Temps und Le Figaro], ein im übrigen ausgezeichneter Schriftsteller, hat mir einen liebenswürdigen und ungerechten Brief geschrieben. Er sagt zu mir: ›Sie bemerken alles‹. Aber nein, ich bemerke nichts. Er ist es, der bemerkt. Keine meiner Personen schließt jemals ein Fenster oder wäscht sich die Hände, zieht einen Mantel an oder sagt eine Vorstellungsformel. Falls es irgendetwas Neues in diesem Buch geben sollte, dann ist es das, und im übrigen gänzlich ungewollt; ich bin einfach nur zu faul, um Dinge aufzuschreiben, die mich langweilen« (Corr. XII, S. 394), und am 6. März 1914 an André Gide: »[…] ich selbst kann nicht, wenn ich schreibe – sei es aus Faulheit, Trägheit oder Langweile – Dinge erzählen, die nicht einen poetischen Zauber auf mich ausgeübt haben oder in denen ich nicht eine allgemeingültige Wahrheit glaubte erfassen zu können. Meine Personen binden sich niemals die Krawatte oder erneuern auch nur deren ›Sortiment‹« (Corr. XIII, S. 108). Der Vorwurf der Detailverliebtheit scheint Proust gewaltig gewurmt zu haben, denn ganz gegen Ende von WZ erteilt er seinen Widersachern schließlich die letztgültige Antwort:
Bald schon konnte ich einige Skizzen vorweisen. Niemand begriff auch nur ein bisschen davon. Selbst diejenigen, die meiner Sicht der Wahrheiten, die ich später in den Tempel meißeln wollte, wohlwollend gegenüberstanden, gratulierten mir dazu, sie mit dem »Mikroskop« entdeckt zu haben, während ich mich im Gegenteil eines Teleskops bedient hatte, um die Dinge wahrzunehmen, die zwar tatsächlich sehr klein waren, aber nur, weil sie sich in großer Entfernung befanden und jedes für sich eine eigene Welt darstellten. Dort, wo ich nach den großen Gesetzen suchte, nannte man mich einen Kleinigkeitenkrämer. (WZ, S. 492.)
Zu dem anderen Vorwurf Ghéons und anderer Kritiker, dem der Planlosigkeit, schreibt Proust am 6. Februar 1914 an den Schriftsteller und Mitarbeiter der Nouvelle Revue Française Jacques Rivière, der Proust vorbehaltlos bewunderte: »Endlich finde ich einen Leser, der errät [divine], dass mein Buch [WS] ein dogmatisches Werk und eine Konstruktion ist!« (Corr. XIII, S. 98.) In diesem Zusammenhang kann man allerdings den anderen Kritikern keine allzu großen Vorwürfe machen, denn der erste Band allein oder auch im Zusammenhang mit den spärlichen Ankündigungen zu den in Aussicht gestellten beiden Folgebänden lässt den Plan des Architekten kaum erahnen:
Erst am Ende des [ganzen] Buches, wenn die Lehren des Lebens verstanden worden sind, wird sich mein Denken enthüllen. Was ich zu Ende des ersten Bandes ausdrücke, in diesem Nebengedanken über den Bois de Boulogne, den ich dort wie einen Wandschirm hingestellt habe, um einen Band zu beenden und abzuschließen, der aus materiellen Gründen nicht über 500 Seiten hinausgehen durfte, ist das Gegenteil meiner endgültigen Schlussfolgerung. Es ist eine allem Anschein nach subjektive und oberflächliche Zwischenstation auf dem Weg zur objektivsten und gläubigsten aller Schlussfolgerungen. […] In diesem ersten Band haben Sie gesehen, welches Vergnügen mir die Empfindung der in Tee getunkten Madeleine bereitet, ich sage, dass ich aufhöre, mich sterblich zu fühlen usw. und dass ich nicht verstehe, warum. Das werde ich erst am Ende des dritten [nach damaliger Planung letzten] Bandes erklären. Alles ist in dieser Weise konstruiert. Wenn Swann Odette so arglos Charlus anvertraut […], dann deshalb, weil Charlus weit davon entfernt ist, Odettes Liebhaber zu sein, und vielmehr ein Homosexueller ist, der Frauen verabscheut, was Swann weiß. Ebenso werden Sie im dritten Band die tieferen Hintergründe für die Szene zwischen den beiden Mädchen [Mademoiselle Vinteuil und ihre Freundin] erkennen, für die fixen Ideen meiner Tante Léonie usw. (Corr. XIII, S. 99.)
Proust dagegen hatte bei Erscheinen des ersten Bandes den Grundriss des Ganzen bereits im Kopf: »Dieses Werk […] ist so peinlich genau ›komponiert‹ (ich könnte Ihnen dafür zahlreiche Beweise liefern), dass das letzte Kapitel des letzten Bandes unmittebar im Anschluss an das erste Kapitel des ersten Bandes geschrieben wurde« (Brief an Paul Souday vom 17. Dez. 1919; Corr. XVIII, S. 536).
Auch bei diesem »alles« in »alles ist in dieser Weise konstruiert« in dem oben eingerückten Zitat aus dem Brief an Rivière ist eine Prise Salz angebracht. Denn wenn Proust auch Herr des Ganzen ist, so ist er doch auch Paladin des Textes:
Ich denke, […] dass Sie enttäuscht gewesen sind, ihn [Swann] weniger sympathisch und sogar lächerlich werden zu sehen. Ich versichere Ihnen, dass es mir großen Schmerz bereitet hat, ihn derart zu verwandeln. Aber es steht mir nicht frei, gegen die Wahrheit zu verstoßen und die Gesetze der Charaktere zu verletzen. Amicus Swann, sed magis amica Veritas [Swann ist mir teuer, doch die Wahrheit ist mir teurer; nach Platon]. Die nettesten Menschen machen manchmal abscheuliche Perioden durch. Ich verspreche Ihnen, im nächsten Band wird Swann als Dreyfus-Anhänger wieder sympathisch werden. Unglücklicherweise stirbt er im vierten Band, und das bereitet mir großen Kummer. Und die Hauptperson des Buches ist nicht er. Ich hätte es gern gesehen, wenn er es wäre. Aber die Kunst ist ein ständiges Opfer des Gefühls an die Wahrheit. (Brief an Violet Schiff vom 2. Juli 1919; Corr. XVIII, S. 295 f.)
Oder doch zumindest Juniorpartner: »[…] während ich mein Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, dass ich, wenn Swann mich gekannt hätte und es ihm möglich gewesen wäre, Gebrauch von mir zu machen, Odette sich in ihn hätte verlieben lassen können.« (Brief an André Gide vom 22. März 1914; Corr. XIII, S. 119.)
Titelblatt des ersten Teilbandes (von zwei) der ersten deutschen
Übersetzung von Bd. 1 durch Rudolf Schottlaender.
Übersetzungen
»Ein Französisch, in dem alle Wörter leicht und alle Sätze schwierig sind.« (The Spectator, 11. November 1922, anlässlich des Erscheinens von Scott-Moncrieffs Übersetzung von WS.)
Ins Deutsche
Der ›Entdecker‹ Prousts für Deutschland war sicherlich Rainer Maria Rilke, der bereits in einem Brief vom 21. Januar 1914 der Prinzessin Marie-Auguste von Thurn und Taxis die Lektüre empfahl31 und in einem Brief vom 3. Februar 191432 den Verleger Anton Kippenberg aufforderte, unverzüglich die Übersetzungsrechte für den Insel-Verlag