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Wutausbrüche immer gemocht. Harro, ihr schwarzer Neufundländer, scheint ihre Wesensart assimiliert zu haben. Am liebsten liegt er auf ihrem Bett, obwohl er genau weiss, dass er das nicht darf. Sie schimpft dann mit ihm und jagt ihn weg. Einmal liess er es auf eine Kraftprobe ankommen, biss ihr in den Arm; sie schlug ihn mit einer bronzenen Statuette auf den Kopf, worauf er laut bellte und endlich ging. Aus Rache zerfetzte er, als er allein war, ein auf dem Boden liegendes Kunstlexikon.

      In meiner Jugend hatte ich kaum mit jemandem eine so enge Beziehung wie mit ihr. Hier zögere ich, aber um ganz ehrlich zu sein, will ich zugeben, dass wir einmal die Grenze der geschwisterlichen Zuneigung überschritten. Ich meine, wie Sonja und ich, damals noch halbwüchsig (ich dreizehn und sie zwölf), das älteste Spiel entdeckten, das uns die Natur mitgegeben hat. Ich sehe unseren Garten, irgendwo im Gebüsch das morsche Bänkchen, auf den sich sonst niemand mehr setzte. Begonnen hatte es damit, dass mir Sonja mein Taschenmesser entwendete und sich damit davonmachte. Es war schon fast dunkel, ich rannte ihr nach, bis sie irgendwo stolperte und ich sie erwischte. Sie hielt das Messer fest in der Hand, eine Weile balgten wir uns am Boden, richteten uns endlich auf, beide ausser Atem; ich umklammerte sie, worauf sie das Messer wegwarf. Da war dieses schiefe Bänkchen, wir liessen uns darauf nieder. Ich erinnere mich, wie ich trotz Dämmerung ihre Röte sah, wie ich (vielleicht ohne zu wissen, was ich tat) zwischen ihren Beinen eine bestimmte Stelle suchte und bald auch fand, wie sie zusammenzuckte, die Knie aneinanderpresste, dabei mit zischendem Atem sich an meinen Arm krallte. Ich erinnere mich an den Duft ihrer Haare, an den Duft von feuchtem Laub, dann, wie drüben das Licht anging und man nach uns rief. Auch daran, wie uns Mutter in den folgenden Tagen argwöhnisch beobachtete, weil ihr aufgefallen sein mochte, dass wir abends beim Einnachten immer wieder im Garten verschwanden und man nichts hörte. Bis sie uns einmal, als wir wieder auf jenem Bänkchen sassen, buchstäblich in flagranti ertappte. Wir sahen ihre Gestalt im Dunkeln, wir duckten uns wie Adam und Eva. Sie holte uns hurtig ins Haus, wo sie uns auf Romanisch eine fürchterliche Szene bereitete; für mich, bei meiner starken Mutterbindung, eines der schlimmsten Erlebnisse meiner Jugend, zumal sie tagelang nicht mehr mit mir redete. Sonja, mit ihrer wilderen Natur, bewältigte alles wahrscheinlich leichter.

      Die Sünde hat ein gutes Gedächtnis; an nichts erin­nere ich mich so gut wie an meine Vergehen. Abgesehen davon bin ich froh um diese Schwester. Wir sind uns in vielem ähnlich, beide wechselhaften Gemüts, wankend zwischen Aufschwüngen und stillen Verzweiflungen. Sie ist musikbegabt, spielt ordentlich Violine, nur übt sie leider zu wenig, Geduld ist nicht ihre Stärke. Hie und da musizieren wir miteinander … Eigentlich müsste ich sagen: Wir musizierten. Das wird nun vorbei sein.

      Mein Stiefbruder Paolo ist etwa gleich gross wie ich, vielleicht etwas kräftiger, nicht zu schlank und nicht zu dick, ein gut aussehender Mann mit lebhaften Augen und selbstbewusster Miene, einer, der überall rasch auffällt, auch bei den Frauen.

      Ich selber habe weder seine Lebhaftigkeit noch seine Erscheinung. Bei der eigenen Geburt (oder beim fatalen Moment unserer Entstehung) hat man Glück oder Pech, und der Herrgott schert sich einen Teufel um unser Aussehen. Man sagt mir, dass ich ein interessantes Gesicht habe und dass ich dem jüngeren Jean Gabin gleiche. Ich beklage mich nicht über mein Äusseres, leide höchstens an einer leichten Asymmetrie: meine linke Schulter ist ein kleines bisschen höher als die rechte, das eine Bein ­zudem eine Idee kürzer als das andere, daher mein unmerkliches Hinken, ein leicht federnder Gang, was Paolo gelegentlich zu lustigen Bemerkungen veranlasst: «Unser tänzelnder Gaspard de la nuit.» In Kleiderläden gehe ich denkbar ungern, weil es für mich keine Konfektion gibt. Leide ich an einem Komplex? In meinen Knabenjahren war alles noch kein Problem, zumal ich an Kraft und Wen­digkeit niemandem nachstand. Ich konnte Ski fahren, spielte gern Fussball, ich fürchtete keine Rauferei. Selbstskepsis, das begann erst in den Jünglingsjahren, im Alter der Selbstbetrachtung. Holde Jugendzeit, mit deinen verräterischen Spiegeln!

      Als Paolo, damals achtzehnjährig, einen Tanzkurs be­suchen durfte, wollte man es mir verheimlichen, doch er selber, mitteilsam wie er war, erzählte mir davon, im Schlafzimmer. Am schönsten, sagte er, sei es immer mit der Eva Kühne aus meiner Klasse: «Wenn ich die in den Armen halte und ihre Brust spüre, rinnt mir das Blut ganz warm durch die Adern; ich könnte mich nächtelang mit ihr im Kreise drehen, oder auch nur stillstehen und ein bisschen hin- und herwiegen, einfach so, verstehst du? Sie hat einen sanften und zugleich festen Körper, was man sogar durch die Kleider spürt. Ab und zu kann es passieren, dass man sich zufällig mit den Beinen berührt – völlig ­unabsichtlich. Eigentlich etwas Irrsinniges, Hannes! Ich weiss nicht, ob du dir das vorstellen kannst.»

      Ich lag im Bett, Hände unter dem Kopf. Ich konnte es mir durchaus vorstellen. Eines Abends stand ich vor dem Gebäude, in welchem sein Tanzkurs stattfand. Von einem erhöhten Parkplatz sah ich in den Saal hinein, durch die Ritzen der Vorhänge ein Schaukeln und Drehen, dazu Musik, dazwischen die laute Stimme des Tanzlehrers.

      Ich blieb, bis es zu Ende war und die Gesellschaft ­herauskam. Zu Hause wartete ich auf Paolos Heimkehr. Mitternacht war schon vorbei, als er leise ins Zimmer trat, sich auszog und ins Bett schlüpfte. Ich schlief. Damals lernte ich einen Schmerz kennen, der wie Kohlenglut brannte und von dem ich nicht wünschte, dass er nicht wäre.

      Ich weiss nicht, was aus der Eva Kühne (mit ihrem sanften und zugleich festen Körper) geworden ist. Ich weiss nur, dass Paolo seit damals mit einer ganzen Reihe von Evas getanzt hat und noch immer tanzt. Der Erfolg bleibt ihm treu, wobei es keine Rolle spielt, ob das mit seinem Äussern zu tun hat, mit seiner Redegewandtheit oder mit einer Ausstrahlung der Person, von der man nie genau weiss, woher sie kommt. Wenn ich zum Beispiel mit ihm ein Lokal betrete, wo uns niemand kennt, fällt mir gleich auf, wie er die Blicke auf sich zieht. Es ist etwas wie Magnetismus. Ein seelisch ausgeglichener Mensch ist er überhaupt nicht, im Gegenteil, seine Stimmungen wechseln wie Wetterlaunen, eine Weile heiter und gut gelaunt, dann von einem Moment zum andern unwirsch und aggressiv, als hätte man ihn beleidigt oder nicht ernst genommen.

      An sich plaudere ich gern mit ihm, weil er enorm viel weiss. Leider kann er den Schulmeister nie ganz abstreifen. Je nachdem, wenn jemand etwas erzählt, sagt er leichthin: «Donnerwetter, Donnerwetter!», oder: «So, so, sieh mal da – hätte ich nie gedacht.» Bei ungefährlichen Gegnern kann er seine eigene Meinung zum Schein preisgeben. Hat er es aber mit einem Überlegenen zu tun, so schüttelt er den Kopf, verzieht den Mund, winkt mit der Hand ab und lächelt ironisch. Doch wenn es ihm gelingt, den andern mundtot zu machen, so entspannt er sich rasch und gibt ihm ohne weiteres zu, dass auch seine Ansicht etwas für sich hat, nur dürfe man dies oder jenes nicht vergessen, man müsse immer alles ein bisschen kompliziert darstellen usw.

      Das Gespräch ist sein Element, seine Stärke die Improvisation. Je mehr Leute da sind, desto lebhafter setzt er sich in Szene. Er ist imstande, einen vollen Saal zu unterhalten, bald ernst und tiefsinnig, bald witzig und clown­esk. Er hat einen Hang zum Theatralischen, kann irgendein Thema geistvoll oder komödiantisch variieren, mit einer Anekdote Staunen oder Lachen hervorrufen.

      Er ist in vielem bewandert, aber eigentlich ohne den Dingen auf den Grund zu gehen. Was er weiss, kann er glänzend vortragen und man neigt rasch dazu, ihm recht zu geben. Es kommt sogar vor, dass Sachkundige trotz besseren Wissens auf seine Suggestivität hereinfallen. Natürlich gibt es auch solche, die ihm nicht alles abnehmen, zum Beispiel sein Freund Henlin, ein begabter Spötter, der ihm etwa sagt: «Paolo, nicht so viel Butter», oder: «Verzapfe keinen Tiefsinn.»

      Wie dem auch sei: In Gesellschaft kommt es einzig ­darauf an, nicht langweilig zu sein, alles andere wird verziehen. Eines der schlimmsten Weltübel ist die Langeweile, und deshalb niemand so beliebt wie der Langeweile-Vertreiber.

      Es ist haarsträubend, wie zuletzt alles vergeht. Eines Tages merken wir, dass sich etwas gründlich verändert hat, und wir verstehen nicht warum. Im Grunde verstehen wir überhaupt nichts. Wahrscheinlich habe ich auch Paolo nicht verstanden, solange ich ihn gekannt habe. Heute, da er nicht mehr lebt, denke ich oft mit einer leisen Melancholie an ihn zurück.

      De mortuis nil nisi bene – einverstanden, aber ich versuche nur, ihn zu charakterisieren, was hoffentlich noch erlaubt sein wird. Ich sage nur, dass er es einem nicht immer leicht machte. Er gehörte zu jenen, die andere am Ärmel zupfen, ihnen die Krawatte zurechtrücken, bald auf die Schulter klopfen und bald übers Maul fahren.

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