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als von den Farblosen, von denen es bei Dante heisst: «Quelli che mai non furon vivi, non ragioniam di lor …»

      Heute Mittag eine Weile auf dem Friedhof. Um diese Zeit sieht man da relativ wenige Leute. Da und dort eine trauernde Witwe, ein vereinsamter Senior. Oben bei der Mauer die beiden Gräber. Zwei verwelkte Kränze sind noch da, dazu frische Blumen. Es war regnerisch und kalt. Unglaublich, wie wir auf das Wetter reagieren.

      In der Zeitung wieder ein Artikel über jenen Gattenmord in der Westschweiz, der vor Jahren viel zu reden gab. Der Angeklagte – in einem ersten Prozess für schuldig ­befunden und hinter Gitter gekommen – war bei einem Revisionsverfahren freigesprochen worden, der Fall vom Kassationsgericht ad acta gelegt. Als der Staatsanwalt kurz danach ein neues Gerichtsverfahren anvisierte, fragte man ihn, ob er da nicht Zwängerei betreibe. Er sagte, er sei dafür verantwortlich, dass Verbrechen aufgeklärt werden, es störe ihn, dass der Mörder frei umherlaufe. Auf die Frage eines Journalisten, ob überhaupt noch eine Erfolgsaussicht bestehe, meinte er, der Handlungsspielraum sei in der Tat schmal geworden, aber es gebe nach wie vor die Möglichkeit des Zufalls.

      Ich frage Kommissar Grädel (der mich wieder zu einem Glas Bier eingeladen hat), was er darüber denke. Er hat eine Art, auf gewisse Fragen mit einem Lachen zu antworten, als wäre sein Beruf eigentlich eine heitere Sache.

      «Ja, ja, der Zufall», sagt er. «Kann manchmal sehr merkwürdig sein, hat oft etwas Mysteriöses, wie ein Wink aus dem Unbekannten. Ich bin zwar nicht sehr gläubig, aber manchmal frage ich mich doch, woher die Zeichen kommen.»

      ***

      Ich habe nicht die Absicht, in diesem Bericht mich selbst darzustellen. Die viel gerühmte Selbsterkenntnis – ich glaube nicht daran. Und sogar wenn wir sie hätten, was würde sie uns nützen? Wichtig ist nur, dass wir uns selbst akzeptieren, so wie wir sind, mit allen Schwächen und Fehlern. Letzten Endes eine Frage der Gerechtigkeit uns selbst gegenüber.

      Auch ich hatte meine Jugendträume. Vor allem einen: Konzertpianist. Ich sah mich auf dem Podium, ruhig am Instrument sitzend, ohne in den Tasten zu wühlen, ohne wie die Russen mit den Armen zu fuchteln, ohne die Grimassen von Alfred Brendel, ohne wie Glenn Gould halblaut mitzusingen. Ich spielte Bach, zum Beispiel das ar­chaisch stille Präludium in es-Moll, oder «Nun kommt der Heiden Heiland». Mein Ideal war Dinu Lipatti. Die verhaltene Spannung, mit der er zum Beispiel jenes Nocturne in Des-Dur von Chopin spielte, als Zugabe; jemand hatte das am Radio aufgenommen, wobei man aus einem störenden Nebenkanal die Stimme einer hastig redenden Frau hört; ich frage mich, wer war diese Frau und was hatte sie so dringend zu sagen. Sonst kann man bei Tonträgern ­störende Geräusche entfernen, doch diese Stimme liess sich offenbar nicht ganz löschen. Man versteht zwar kein Wort, doch im Hintergrund ist sie immer da, wie für immer mit Lipatti verbunden. Er selber, unersetzlich wie wenige, starb erst 33-jährig, an Leukämie. Auserwählte, die zu früh dahingehen.

      Ich betrachtete meine nervigen Hände, fragte mich, ob mir vielleicht durch sie eine Lebenschance geschenkt worden wäre. Schon als Zwanzigjähriger beherrschte ich ein ordentliches Repertoire, mit dem ich mehrere Kla­vier­abende hätte bestreiten können. Einer der Professoren, dem ich am Konservatorium Ravels «Gaspard de la nuit» vorspielte, sagte mir nachher: «Weitermachen, Mon­stein.» Wenn der das sagte, bedeutete es etwas.

      Leider zeigte der eigene Vater kein Verständnis. Sonst rannte er Solisten, Dirigenten und Sängerinnen nach, schlich sich buchstäblich in ihre Gesellschaft, schrieb ihnen Lobeshymnen, liess sich mit ihnen fotografieren, doch der eigene Sohn zählte nicht. Kein Ehrgeiz, kein Vaterstolz. Wenn jemand meine Begabung lobte, meinte er fast mitleidig: «Ach, was heisst schon Begabung? Die Konkurrenz ist heute viel zu gross. Wenn jetzt ganze Scharen hochbegabter Russen und Asiaten daherkommen, lauter Ausnahmetalente, verschwindet er daneben wie ein Schatten. Abgesehen davon ist er bereits zu alt, sein Zug ist längst abgefahren.» Und ein anderes Mal: «Man muss in Gottes Namen seine Grenzen sehen und sich bescheiden können. Warum sich zu Tode quälen, um zuletzt als braver Klavierlehrer für Anfänger bei Clementi zu landen und bei Czernys ‹Schule der Geläufigkeit›. Er kann doch zu Hause spielen, warum gleich an die Carnegie Hall denken?»

      Ich schluckte wortlos Scham und Wut, doch einmal, in Anwesenheit von Abendgästen, wurde es zu viel. Ich spielte den am Tisch Sitzenden etwas vor, am Ende gab es Applaus und Lob, worauf er, wie in einer blöden Gewohnheit, mit seinem üblichen Kommentar kam, als geniesse er es geradezu, mich vor den Leuten zu demütigen. Diesmal beherrschte ich mich nicht, begann in einem Zornanfall loszuschreien, war dabei selber erstaunt, wie die Leute zusammenfuhren. Ich warf ihm vor, er behandle mich wie Dreck, er habe es darauf abgesehen, mich zu beschämen – ich war sein zufälliger Nachkomme und sonst nichts, gerade gut genug, seinen Möbelladen weiterzuführen und dabei zu verdummen wie er selbst. Ich schrie stotternd und halb weinend, sah dabei sein verstörtes Gesicht und die Betroffenheit der Gäste. Da mir zuletzt nichts mehr einfiel, ging ich die Tür zuknallend ­hinaus.

      Während Tagen wechselten wir kein Wort miteinander. Am schlimmsten waren die Mahlzeiten. Als Lille zu mir kam und mich dazu bewegen wollte, ihn um Ver­zeihung zu bitten, fragte ich sie, für wie dumm sie mich halte? Sonja hielt es mit mir: «Nur nicht nachgeben! Du hast ganz recht, ohne Revolte kommst du unter die Räder. Übrigens fand ich es toll, wie du geschrien hast.»

      Nur hatte die Revolte einen bitteren Geschmack, das Leben schien auf einmal verpfuscht. Ich hatte Selbstmordgedanken, fragte mich, wie gross die Angstschwelle wäre, wenn man die geladene Pistole in der Hand hielte? Wie es wäre, wenn ich mich in seinem Zimmer erschiessen würde und er mich dort am Boden fände?

      Eines Nachts hatte ich einen verrückten Traum:

      Zusammen mit drei anderen, die ich nicht kannte, führte man mich eine Treppe hinab und zuunterst in einen kellerartigen Raum. Jemand erklärte uns, dass wir hingerichtet werden müssten, es handle sich um ein Sühneopfer. Urteilsvollstrecker war mein Vater. Er sass grau in grau auf dem Boden, an die Mauer gelehnt, hielt in der Hand eine Pistole, mit der er leichthin spielte. Er machte mir ein Zeichen, flüsterte mir zu, er werde mich als seinen Sohn separat behandeln, ich dürfte noch für einen Augenblick ins Wartezimmer. Ich weiss nicht, wie ich dorthin gelangte, ich war einfach dort, wurde dann von einer weiss gekleideten Krankenschwester mit himmelblauen Augen abgeholt. Sie nahm gut gelaunt meinen Arm, sprach mir Mut zu, nur keine Angst, alles werde sehr schnell vonstatten gehen und dann sei die Sache erledigt. Als wir den Keller betraten, waren meine drei Schicksalskollegen bereits tot, lagen wie Bleistifte am Bo­den nebeneinander. Vater forderte mich ganz ruhig auf, nieder­zuknien. Ich gehorchte, kniete nieder, ihm den Rücken zuwendend, das Gesicht zur Mauer. Ich wartete, dass er schiesse. Wahrscheinlich zielte er schon, wobei mich plötzlich eine grauenhafte Angst befiel. Ich dachte: Wenn es Gott nicht gibt, dann beginnt hier das Nichts, und du bist für immer ausgelöscht. Fragte mich noch: Was wird Mutter sagen?, erinnerte mich dann, dass sie schon längst gestorben war. Es herrschte Totenstille, ich sagte Vater, er solle endlich schiessen. Man hörte keinen Knall, aber ich spürte, wie die Kugel in meinen Körper eindrang; ich wollte noch etwas sagen, konnte aber nicht mehr reden und fiel wie eine Stoffpuppe auf den Boden hin.

      Einmal streifte mich der Gedanke: Wie wäre es, wenn er sterben würde? Ich hatte schon davon gehört, dass Söhne den Tod des Vaters herbeiwünschten. An sich wäre es ja plausibel gewesen, in seinem Alter. Vermutlich wäre dann das Geschäft verkauft worden, ich wäre frei gewesen, meinen eigenen Weg zu gehen. Doch solange er lebte, war nicht an Verkauf zu denken, und er konnte noch lange leben. Oft dachte ich an Flucht, weg von hier, irgendwohin, in eine Weltgegend, wo man etwas Nützliches hätte leisten können, zum Beispiel in einem Kata­strophengebiet, beim Roten Kreuz, Hilfe für Notleidende und Bedrohte, auf die Gefahr hin, mit ihnen unterzu­gehen – weg von dieser dekadenten, Spass- und Luxusgesellschaft, weggehen und ihren verdammten Wohlstand samt Kultur und seichter Unterhaltung dem Teufel überlassen.

      Doch ich beging nicht Selbstmord, ich floh nicht in Katastrophengebiete, ich war zu feige, zu mutlos, zu verwöhnt wie alle andern. Als ich Vater erklärte, ich hätte beschlossen, auf meine Pianistenlaufbahn zu verzichten und im Familiengeschäft zu bleiben, bekam er feuchte Augen, machte dabei ein komisches Gesicht, wie Kinder, wenn sie nicht wissen, ob sie weinen sollen oder nicht.

      Aus Dankbarkeit überliess er

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