Скачать книгу

den Besuch einer ungewöhnlichen Frau, die vermutlich nur meinetwegen da sei. Vielleicht sei ich der Mann ihres Lebens.

      Er sagte: «Sie witzeln natürlich, aber passen Sie auf. Mit Frauen soll man nicht scherzen.»

      Als ich aufgelegt hatte, wusste ich nicht, ob ich bleiben oder gehen solle. Um etwas zu tun, begab ich mich ins Badezimmer und wusch mir die Hände, blickte flüchtig in den Spiegel, kam wieder heraus, zog meine Jacke an und ging geräuschlos davon.

      Draussen nieselte es. Während ich heimwärts wanderte, hörte ich Sonja rufen, sah sie mit ihrem Hund kommen. Ich wartete.

      «Du hast dich nicht einmal verabschiedet», sagte sie. «Bist du geflohen?»

      «Wieso geflohen?»

      Sie hatte sich eingehängt, nur war das für beide ­unbequem, weil sie Harro an der Leine führte und man immer wieder warten musste. Zudem redeten wir aneinander vorbei – sie von der Besucherin, ich vom Schnüffelinstinkt der Hunde.

      Sie begleitete mich bis nach Hause, wollte aber nicht hereinkommen. Ich ging ins Wohnzimmer, zog die Jacke aus, setzte mich ans Klavier, doch ohne die Tasten zu berühren. Musik geht nicht immer. Ich zündete eine Zi­garette an, stand dann eine Weile am offenen Fenster. Draussen nach wie vor Nieselregen, leichtes Tropfen im Laub der Bäume. Ich sah den Rauch meiner Zigarette entschweben, bald hell, bald dunkel. Dann immer wieder dieses Gesicht. Ich rauche sonst praktisch, ohne zu inhalieren; diesmal tat ich es, spürte dabei, wie das süsse Aroma in mich drang. Zuletzt warf ich den Stummel hinaus, setzte mich aufs Sofa. Vor mir mein komfortables Wohnzimmer, Steinway, Fernseher, Stereoanlage, Bücher und Stehlampe, daneben das von meiner Mutter geerbte Eisbärenfell. Ich wusste nicht recht was tun. Es war erst halb zehn, ich überlegte, ob ich doch noch Rehberg aufsuchen sollte. Aber eigentlich mochte ich jetzt mit niemandem reden. Endlich stand ich auf, zog wieder die Jacke an, den Regenmantel, verliess das Haus, wanderte auf nassen Strassen umher. Beim Elternhaus brannte nach wie vor Licht. Vielleicht spielten sie noch immer. Irgendwo betrat ich eine Beiz, bestellte ein Bier und blieb dort bis um Mitternacht.

      Am nächsten Tag kamen die erwarteten Vorwürfe. Es sei nicht gerade vornehm, meinte Vater, sich einfach sang- und klanglos davonzustehlen.

      «Ich will aber nicht vornehm sein», sagte ich, «das überlasse ich euch.»

      Lille fand es schade, dass ich nicht etwas vorgespielt hatte, zum Beispiel das Regentropfenprélude. Paolo hatte Franziska nach Hause begleitet, wobei sie ihm gesagt hätte, sie fände mich merkwürdig.

      «Das ist ihr gutes Recht», sagte ich, «die soll mich finden, wie sie will. Was habe ich mit der Person zu schaffen?»

      Ich tat, was ich nicht sollte: Ich suchte sie, vor allem in der Fussgängerzone. Fragte mich dabei, ob ich sie überhaupt wiedererkennen würde. Es war so, dass ich mir ihr Gesicht nicht mehr vorstellen konnte. Und falls wir uns begegneten, was würde ich zu ihr sagen? An einem Kiosk kaufte ich Zigaretten, irgendwo trank ich im Freien Kaffee, die Zeitung lesend. Sie kam nicht.

      Kurz vor Mittag betrat ich eine alte, gediegene Buchhandlung, in der ich seit Langem nicht gewesen war, hatte dabei nicht die geringste Absicht, Bücher zu kaufen. Eine Weile stand ich vor dem Tisch mit den Neuer­scheinungen. Es wimmelte von Autoren und Autorinnen, Etablierten und Newcomers, Shoutingstars, die eben von potenten Verlagshäusern lanciert wurden. Poetenschwemme, eine nach wie vor ins Kraut schiessende Belletristik. Nichts gegen Belletristik, sofern sie etwas taugt, aber das meiste, man weiss es, kommt und vergeht. Ich dachte an meine eigene Schriftstellerei, und wie oft in Buchhandlungen überkam mich ein Gefühl der Ohnmacht.

      Um diese Zeit herrschte in den Räumen eine gewisse Stille. Ich blätterte in einer Anthologie, als sich jemand näherte und neben mir stand. Obwohl ich sie gleich erkannte, überkam mich ein Gefühl des Irrealen. Ihr Gesicht vor mir, ein seidenes Halstuch, auf dem Kopf ein rotes Béret. Ich weiss nicht mehr, worüber wir redeten, erinnere mich nur, dass sie sehr erstaunt war, als ich sie fragte, warum sie mich, wie es Paolo erzählte, merkwürdig finde.

      «Ich?», sagte sie. «Aber das stimmt doch nicht! Warum erzählt er so etwas? Ja, wir haben über Sie geredet, aber ich sagte ganz etwas anderes. Glauben Sie mir? Übrigens waren Sie an jenem Abend sehr still. Sind Sie immer so?»

      Während wir gemeinsam hinausgingen, fragte sie, ob ich ihr einmal etwas vorspielen werde, irgendetwas, Klassik oder Jazz, vielleicht auch ein einfaches Volkslied. «Versprechen Sie es mir?» Die Art, wie sie mir dabei ins Gesicht schaute. Sie verabschiedete sich sehr rasch, mit Gruss an meine Familie. Ich sah sie die Strasse hinuntergehen, in der Menge verschwinden, irgendwo ihr rotes Béret. Beim Abschiednehmen hatte ich zuerst gemeint, ihre Handfläche, das heisst ihre Haut zu berühren, dann aber gemerkt, dass sie sehr feine Handschuhe aus weichem Wildleder trug.

      Laut Telefonbuch wusste ich, wo sie ihre Physiotherapie-Praxis hatte. Eines Tages wartete ich fast eine Stunde, bis sie gegen sechs Uhr aus dem Gebäude trat. Ich wollte sie nur sehen, sonst nichts. Sie kam eine Steintreppe herunter, überquerte die verkehrsreiche Strasse, fast ohne sich umzublicken. Auf dem Parkplatz gegenüber blieb sie stehen, suchte etwas in ihrer Handtasche, ihre Silhouette im Gegenlicht, das bewegte Haar. Endlich hatte sie es gefunden, stieg in ein dort geparktes Auto und fuhr davon.

      ***

      Du sollst nicht schwören, ich weiss. Und doch hatte ich, nach zwei unglücklichen Liebschaften, hoch und heilig geschworen: Nie wieder Frauen!

      Bei Jovita H., die mich vielleicht geliebt hätte, war es nur eine Blick-Bekanntschaft gewesen, ein Lied ohne Worte, weil ich, damals noch Gymnasiast, nicht den Mut hatte, sie einmal anzureden, ganz schlicht und einfach, von Schüler zu Schülerin. Sie war von mittlerer Grösse und anmutiger Schlankheit. Ich sehe noch ihre Gestalt, sehe den Schulplatz, wo wir in den Pausen unter Kastanienbäumen auf und ab spazierten, scharenweise, sodass man immer wieder ein bisschen ausweichen musste. Ich suchte sie mit den Augen, entdeckte irgendwo ihren braunen Mantel. Ich erinnere mich, wie sie im Vorbeigehen einmal den Kopf wandte und mir ins Gesicht schaute. Oder wie sie, mit Freundinnen die Treppen hinaufsteigend, nahe an mir vorbeikam und mich flüchtig grüsste. Oder eines Abends im Theaterfoyer, wie sie am Saaleingang im Programmheft blätterte, einmal flüchtig her­überschaute, als warte sie, dass ich sie anrede. Doch da erschien eine Frau, vielleicht ihre Mutter, mit der sie, kurz zurückblickend, in den Saal ging. Ich war immer zu langsam, zu scheu, zu zaghaft. Ich hätte nicht Angst gehabt, in den Krieg zu gehen, doch hier war der Feind in mir selbst.

      Während der Sommerferien wünschte ich den Schulbeginn herbei, um sie wiederzusehen, entschlossen, endlich einmal meine Befangenheit zu überwinden. Doch Ende August, als man wieder auf dem Schulplatz spazierte, suchte ich sie vergebens. Ich kannte einen ihrer Klassenkameraden, erkundigte mich wie nebenbei nach Jovita H. – Jovita? Die sei doch gemütskrank, sagte er, als wäre das allgemein bekannt. Sie habe wieder einmal einen Schub und müsse eine Zeit lang aussetzen; das sei bei Depressiven eben so, da könne man nichts machen.

      Ich sah sie nie wieder. Sie befand sich in einer Berner Klinik, machte in zuverlässiger Begleitung ihren täglichen Spaziergang. Wiederholt wünschte sie, die hohe Kirchenfeldbrücke zu sehen, weil diese, wie sie sagte, von einem ihrer Vorfahren gebaut worden sei. Man ging nicht darauf ein, Brücken standen nicht auf dem Programm, schon gar nicht die Kirchenfeldbrücke. Doch da sie immer wieder damit kam und sich ihr Zustand deutlich gebessert hatte, erfüllte man ihr den Wunsch. Zwei Pflegerinnen begleiteten sie hin. Irgendwo in der Mitte blieben sie stehen. Jovita schaute in die Tiefe, schien dabei von ei­nem Glücksgefühl ergriffen. «Wie wunderbar», sagte sie, «so hoch oben, als schaute man vom Himmel auf die Erde hinab.» Plötzlich versuchte sie zu fliehen, die Schwestern hielten sie fest, doch sie drehte sich leicht herum, schlüpfte spielend aus ihrem Mantel und warf sich übers Geländer.

      Natürlich hatte ich die Szene nicht miterlebt, es wurde mir nur davon erzählt. In Gedanken war ich dort, sah einen nebligen Dezembermorgen, die leicht geschwun­gene Brücke, das Geländer, die Silhouetten dreier Frauen. Dann diese Sekundenszene, die fallende Gestalt – ein flüchtiger Flash vor dem grauen Winterhimmel.

      Verliebt war ich eigentlich immer, Eros, der Übermäch­tige, begleitete mich wie ein anhänglicher Dämon. In ei­nem

Скачать книгу