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ersten Mal sah ich sie eines Abends bei den Eltern, als ich zum Essen kam. Obwohl etwas verspätet, setzte ich mich im Salon kurz an den Flügel und modulierte ein paar Akkorde, weil ich wusste, dass am Nachmittag der Klavierstimmer dagewesen war. Als ich hierauf das Esszimmer betrat, sass da eine jüngere Frau mit der Familie am Tisch. Wir wurden einander vorgestellt, wobei sie leichthin sagte: «Sie spielen grossartig.»

      Ich entschuldigte mich für die Verspätung, worauf mich Vater fragte, warum ich dann, wenn schon verspätet, vorher noch Klavier spiele? Paolo nahm mich in Schutz, ich hätte vermutlich schauen wollen, wie der Flügel jetzt tönt. Und zum Fräulein: «Das ist ein Bösendorfer, schon siebzig Jahre alt und dementsprechend ein bisschen heiser.»

      «Ja, heiser», sagte Vater, «aber das nennt man Patina. Davon versteht ihr nichts. So ein Instrument wird immer edler.»

      «Da hast du recht, Papa», sagte Paolo, «das ist wie bei alten Herren.»

      Ich erinnere mich, dass während der Mahlzeit unter anderem von unserem Bauerngut in Falön, Unterengadin, die Rede war, von unserem Pächter, von Bergbauern und ihrem harten Leben. Sonja fragte sich, ob man dem Mann nicht den Pachtzins erlassen könnte, damit er mit der Familie überhaupt existieren könne und nicht eines Tages davonlaufe; heute müsse man froh sein, einen zuverlässigen Landwirt gefunden zu haben. Paolo erzählte dem Fräulein die Geschichte von Falöns Feuersbrunst, das heisst von jenem Bauernknecht, der mit der Tochter des Meisters verlobt war und dann, als sie ihm untreu wurde, den Verstand verlor, eines Nachts das Haus in Brand steckte und dadurch eine grössere Feuersbrunst auslöste.

      «An sich eine fantastische Geschichte», sagte er. «Das wäre ein Thema für dich, Hannes – das grosse Feuer als Symbol des allmächtigen Eros.»

      Sie, die Besucherin, war offenbar Physiotherapeutin. Zuerst, erzählte sie, habe sie in einer organisierten Praxis gearbeitet, sich dann bald selbständig gemacht – aus Freiheitsdrang. Nur nicht gebunden und von andern abhängig sein! Sie wäre gern Tierärztin geworden, scheute aber das mühsame Studium. Tiere liebte sie nach wie vor, vor allem Pferde. Reiten war ihre Leidenschaft …

      Sie sass mir am Tisch schräg gegenüber. Eine gut ­aussehende Brünette, ihr plastisches Gesicht sonnengebräunt; sie hatte starke, leicht flache Lippen, braune Goldglanzaugen. Übrigens wirkte sie an diesem Abend eher still, jedenfalls keine Schwatzbase. Während hin und her geplaudert wurde, fiel mir einmal auf, wie sie mich halb abwesend betrachtete. Auch später, als ich vom Teller aufschaute, traf mich wieder die Stille dieser Augen.

      Zum Dessert, erinnere ich mich, gab es Apfelstrudel mit Vanillesauce. Die Geschichte mit der Feuersbrunst von Falön kannte ich seit Langem. Ich dachte an den Bauernknecht, der zum Brandstifter wurde, ins Gefängnis kam, jedoch seine Tat erst auf dem Sterbebett beich­tete.

      Während wir noch beim Dessert sassen, erschien Philipp, Sonjas Exmann. Sie hatten sich, wie gesagt, scheiden lassen, ohne den Kontakt abzubrechen; wahrscheinlich standen sie einander näher, als sie es in der Ehe gedacht hatten. Von Zeit zu Zeit tauchte er auf, ein bisschen wie ein Hund, den man weggegeben hat und der nachher immer wieder da ist.

      Später sassen wir bei Kaffee und Kuchen im Salon. Vater war jetzt gut gelaunt, offenbar gefiel ihm das Fräulein. Auf Lilles Wunsch holte er seine Fotografien, auf denen man ihn mit prominenten Leuten abgebildet sah. Er hatte, wie schon erwähnt, die Begabung, Berühmtheiten ken­nenzulernen, ohne selber eine zu sein. Er korrespondierte mit Künstlern und Schriftstellern, lobte ihre neuesten Werke, gratulierte zu einem Preis. Traten in der Stadt bekannte Interpreten auf, so war er immer der erste, der nach dem Konzert ins Solistenzimmer eilte und Lob spendete – dies mit bestimmten Floskeln, die mir (weil er mich oft mitnahm) von klein auf bekannt waren: «Mein Gott, wie Sie zu Werke gehen! Sie sind ein Rubinstein re­divi­vus!» Zu einem Cellisten: «Sie spielen wie ein Casals re­divivus!» Dieses «redivivus» kam immer wieder. Oder zu einem Sänger, von Ergriffenheit erschlagen: «Grossartig! Mir fehlen die Worte. Ich habe einst noch den unvergesslichen Wunderlich gehört, aber Sie singen mindestens so schön.»

      Bei einer japanischen Geigerin ging es leider daneben. Er hatte von einem Tokioter Kunsthändler ein ja­panisches Kompliment notieren lassen und dieses auswendig gelernt; doch als er abends nach dem Konzert als Erster im Künstlerzimmer erschien und seinen Spruch vorbrachte, starrte ihn das zierliche Fräulein an, legte die Hand an den Mund und unterdrückte ein nervöses Lachen. Sie lachte noch, während bereits andere Leute hereinkamen und er wie ein begossener Pudel davonging. Nachträglich fragte er sich, was ihm der freundliche Japaner aufgeschrieben hatte.

      Schon sein Vater, Grossvater André, war ein Verehrer berühmter Leute gewesen. Von ihm hatte Vater eine Autografensammlung geerbt – unter anderem ein Dankschreiben von Jaspers, eines von Musil, ein paar Zeilen von Paul Klee, ein signiertes Foto von Wilhelm Kempff; Max Brod zeigte sich erfreut über eine ihm zugesandte Broschüre, in der ein Spezialarzt Brods Wirbelsäulenverkrümmung beschrieb. In einem Brief von Thomas Mann, der für eine Einladung dankte, stand zu lesen: «Wir schiffen uns nächstens nach Amerika ein und sind froh, wenn es vorher noch für Hermann Hesse reicht. Doch wenn der Welt dieses bescheidene Mass von Ruhe, das wir Friede nennen, erhalten bleibt, dann sage ich, Gesundheit vorausgesetzt: wir werden uns noch sehen.» Die gleichen Sätze, wörtlich, empfing offenbar kurz danach auch ein Feuilletonredaktor, der sie dann in der Sonntagsbeilage seines Blattes abdruckte.

      Fanden irgendwo Musikwochen statt, so weilte Vater tagelang dort, war bei Empfängen und Banketten dabei, unterhielt sich mit Musikern und Sängerinnen, die den weisshaarigen Herrn für einen der Organisatoren halten mochten. Auf den Fotos sah man ihn im Gespräch mit Maurizio Pollini oder Heinz Holliger, irgendeiner Sän­gerin die Hand küssend. Auf einem älteren Bildchen (da war er noch relativ jung), stand er, in Gstaad, zwischen Menuhin und Karajan, die ihm freundlich den Arm hielten. Dieses schwarz-weisse Foto gab er jeweils nur halb aus der Hand, aus Angst, man könnte es ihm entwenden.

      «Mein Gemahl ist Weltmann», sagte Lille. «Wie du es nur anstellst, an diese Grössen heranzukommen.»

      «Das tust du ja auch», sagte er. «Du hast sogar den Barenboim heimgesucht. Übrigens sind das Menschen wie wir. Vor Gott sind alle gleich.»

      «Stimmt nicht», sagte Paolo. Auf der Toilette mögen sie alle gleich sein, aber vor Gott? Ich glaube, Gott ist sogar sehr parteiisch, sonst hätten nicht die einen immer Glück und andere immer Pech.»

      Lille holte Paolos Porträt, ein noch nicht ganz fertiges Werk von Jean Möcklin. Sie stellte das Bild ins Licht. Franziska war aufgestanden.

      «Für mich ist er fertig», meinte Lille, «aber vielleicht will er ihm mit zwei Pinselstrichen noch etwas einhauchen.»

      «Vielleicht die Seele», sagte Sonja.

      «Er hat aber schon Seele, das sieht man doch.»

      Franziska zu Sonja: «Ich glaube, Sie malen doch auch? Da hätten doch Sie Paolo porträtieren können.»

      «Wir wollten eben einen richtigen Künstler», sagte Lille. «Sonja kann schon etwas, aber ihre Bilder sind immer so düster.»

      Nachher spielten sie Karten. Philipp war gegangen, ich selber sass mit Sonja im kleineren Nebenzimmer, dessen Schiebetür immer offenblieb. Sie erklärte mir anhand des Atlasses eine Skandinavienreise, die sie mit zwei Freundinnen plante, teils mit Schiff, teils mit Reisebus, durch Norwegen und Schweden bis nach Lappland hinauf, dann durch Finnland zurück. Sie wünschte von mir touristische Ratschläge, die ich ihr, noch nie in Skandinavien gewesen, beim besten Willen nicht geben konnte. Zudem war ich etwas zerstreut. Den Namen des Fräuleins hatte ich vergessen oder gar nicht recht mitbekommen.

      Paolo, auf seine Karten schauend, fragte mich, ob ich nicht etwas spielen möchte auf unserem Patina-Flügel, zum Beispiel Liszts Liebestraum. Ich mochte jetzt weder Liszt noch Träume. Ich blätterte in Sonjas Reiseführer, betrachtete die Karte von Skandinavien, bemerkte wieder einmal, wie die Besucherin herüberschaute. Im Licht der Deckenlampe hatte sie dunkel umschattete Augen. Sonja fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen zu kommen? Etwas später wieder Paolo: «Gaspard de la nuit, wo bleibt die Musik?»

      Als das Telefon läutete, ging ich hinaus. Es war Rehberg, mein

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