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ich meinen Arbeitsplan so einrichten, dass mir noch etwas freie Zeit für private Interessen blieb. Ich besuchte Vorlesungen an der Uni, machte später meine ersten schriftstellerischen Versuche. Sieben bis acht Halbtage verbrachte ich im Laden.

      Paolo, der Jus studierte, war jeweils in den Semesterferien auch da. Er hatte sich eine eindrückliche Hornbrille zugelegt, die er überhaupt nicht gebraucht hätte, der er aber eine suggestive Wirkung zutraute. Der Absatz stockte, vor allem die Teppiche gingen nicht, die Preise lagen im Keller. Einmal, dynamisch wie er war, fasste er den Entschluss, fortes fortuna adjuvat, neuen Schwung in die Bude zu bringen. Es sei höchste Zeit, ein effizienteres Marketing zu lancieren, die Räumlichkeiten zu moder­nisieren und vor allem, in hoc signo vinces, eine attraktive Verkäuferin anzustellen. Als die Eltern für ein halbes Jahr nach Amerika reisten, erklärte er mir, er werde das Heft in die eigene Hand nehmen und den Laden mit ei­nem Geniestreich auf Kurs bringen. Mir selber (was mir durchaus recht war) erteilte er Urlaub, um ungestört seine Strategie starten zu können – eine Inseratenkampagne lan­cieren und die Preise massiv senken, was sich rasch herumreden und die Kunden herbeilocken würde. Unterdessen hatte er auch schon ein appetitliches Empfangsfräulein gefunden, das zwar vom Geschäft nichts verstand, dafür umso gewinnender lächelte. Ihre Aufgabe bestand darin, die Kunden freundlich zu begrüssen und den Chef zu holen, der dann mit seiner Hornbrille erschien, mit den Leuten redete und ihnen das Gewünschte zeigte. Einem jungen Ehepaar – symbolische Geste eines Neubeginns – gewährte er für eine Wohnzimmermöblierung einen sagenhaften Rabatt von 33 Prozent. Zwei Tage später wiederholte er die gleiche Taktik beim Verkauf einer Büroeinrichtung mit lauter Mahagoni, dann wiederum 25 Prozent Rabatt für eine Schlafzimmerausstattung. Büchergestelle, Sessel, Treppenläufer, Fenstervorhänge, alles zu Vor­zugspreisen. Sogar Teppiche, die sonst überhaupt kaum mehr interessierten, brachte er wieder an den Mann. Vier da­von (zwei Schirwan und zwei persische Bidjar, alles Grossformat) verkaufte er, diesmal zu halbem Preis, dem befreundeten Immobilienhändler Plözzer, der ihm dafür, ebenfalls preisgünstig, eine komfortable Eigentumswohnung beschaffte.

      Innerhalb von vier Monaten hatte sich der Absatz fast verdoppelt. Die zwei Angestellten merkten mit Staunen, dass der Laden wieder lief. Doch als die Eltern heim­kamen und der Vater bei einem Einblick in den Geschäftsgang feststellte, was da passiert war, ging ein Gewitter los: «Du bist ja wahnsinnig!», schrie er. «Was fällt dir ein? Das ist ja billigster Ausverkauf – ein Verlust von ein paar hunderttausend Franken! Willst du mich mit Schleuderpreisen ruinieren?»

      Paolo versuchte umsonst, seine Strategie zu rechtfertigen, indem er auf den gesteigerten Absatz hinwies und zudem meinte, man könne die Preise jederzeit wieder sach­te anziehen. Doch der Alte, ausser sich vor Zorn, war unerbittlich, erklärte ihm klipp und klar, er solle den Laden von nun an nicht mehr betreten, sonst sei der Konkurs vorprogrammiert.

      Die von Plözzer günstig erworbene Wohnung wurde nicht erwähnt. Paolo verreiste. In einem Brief aus Mallorca bat er Vater um Verzeihung: Er gab zu, die Lage falsch eingeschätzt zu haben, obwohl er nur das Beste gewollt hatte. Am Schluss hiess es: «Ich gehöre zu jenen Unglücklichen, die ihre Fehler erst im nachhinein erkennen, ich gleiche meinem Namensvetter Paulus, der von sich sagte: ‹Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will …› Ich gebe meine Fehler offen zu. Welch Glück, dass Ihr zu Hause keine Sünder seid.»

      Nach seiner Heimkehr richtete er sich in seiner neuen Wohnung ein. Wochenlang sahen wir ihn kaum. Später, auf Lilles Wunsch, schloss er mit dem Alten Frieden, kam jeweils auch zu den Mahlzeiten. Er war stiller geworden, ging wieder täglich zur Uni. Nach seinen Examen arbeitete er eine Zeit lang in einem Advokaturbüro, bestand seine Anwaltsprüfung und eröffnete mit zwei Kollegen eine eigene Praxis.

      Ein Jahr später verliess auch ich den Familienbetrieb und ging zu Dr. Rehberg, Druck und Verlag AG, unter anderem als Mitarbeiter der von ihm und der Verlegerin Raïssa Höhne gegründeten FAVILLA. Vater war enttäuscht, doch als kurz danach Fräulein Lina Rauch, eine 45-jährige, gewinnende Bündnerin, die Leitung des Geschäfts übernahm, heiterte er sich rasch auf und fand meinen Berufswechsel durchaus sinnvoll. Unter vier Augen erklärte er mir auch, dass ich das Einfamilienhaus weiterhin behalten dürfe und auch solle; das sei für ihn wichtig, zumal Paolo, mit mütterlicher Hilfe, schon Anspruch auf Mitbesitz angekündigt habe.

      Mein Haus (das natürlich nach wie vor ihm gehört) ist achtzig Jahre alt. Fünf Zimmer und zwei Mansarden, grosser Garten, bevorzugte Lage mit Blick in die Alpen. Unweit von hier, oben am Waldrand, befindet sich ein Bauernhof mit weidenden Kühen und Pferden. Sonja besitzt den Hausschlüssel, kommt oft auch unangemeldet, je nachdem auch wenn ich nicht da bin. An sich könnten wir ohne weiteres zusammenleben, Platz wäre genug vorhanden, doch sie will entschieden nicht. Einmal wöchentlich ist die Putzfrau da, Alicia, eine Spanierin; die Gartenar­beit besorgt ein Gärtner.

      Ab und zu lade ich Bekannte zu einem gemütlichen Abendessen ein. Einer meiner regelmässigen Gäste ist Leon W., ein ehemaliger Klassenfreund, jetzt seit Jahren Dozent für Komparatistik. Er hat etwas Asketisches, kurz geschnittenes Haar und stahlblaue Augen. Übrigens der beste Gesprächspartner, den ich je hatte. Das liegt nicht nur an seiner Intelligenz, sondern an einer natürlichen Dialog-Begabung, die man bei so vielen vermisst, oft auch bei Studierten. Er stellt Fragen, oft unerwartete, er kann auch schweigen, kann vor allem aufmerksam zuhören, nicht nur aus Anstand, sondern aus menschlicher Neugier. Einmal hatte er mich an die Uni zu einem Kollo­quium eingeladen, hin und wieder schenkte er mir ein interessantes Buch, einmal eine Eintrittskarte für eine Opernaufführung. Ich schätze seine Offenheit, seine Spon­taneität, doch trotzdem muss ich gestehen, dass unsere Beziehung manchmal ein bisschen gefährdet war. Ich spüre seine intellektuelle Überlegenheit, leider oft auch seine Übellaunigkeit, einmal ist er freundlich, ein andermal unterschwellig gereizt, als ginge ich ihm auf die Nerven. Alles in allem ein ambivalentes Verhältnis, sodass ich mich manchmal frage, ob wir eigentlich Freunde oder Feinde sind. Nur ist es vielleicht so, dass eine Freundschaft von vornherein den Konflikt in sich birgt. Meine literarischen Erzeugnisse, etwa Zeitungsartikel, Kolumnen oder Skizzen, scheinen ihn nicht zu interessieren, jedenfalls erwähnt er sie nie, was ich ihm nicht übel nehme. Trotzdem muss ich sagen, dass mir gerade von seiner Seite eine kleine, wenn auch nur angedeutete Aufmerksamkeit guttun würde.

      Dankbar, wie gesagt, bin ich für dieses wohnliche Haus, nur wird mir klar, wie schwierig es ist, allein zu leben. Manchmal, besonders abends, sterbe ich vor Einsamkeit. Man stirbt ein Leben lang. Seit dem Ende meiner Pianistenträume spiele ich seltener Klavier, übe auch nicht mehr konsequent. Meistens bleibt es bei einfachem Improvisieren. Keine Sturmsonate mehr, keine Appassionata, kein Gaspard de la nuit. Irgendwie ist mir die Lust vergangen, und ohne Lust geht nichts. Vielleicht wäre ich neben jungen Russen, Polen, Chinesinnen und Chinesinnen doch chancenlos. «Entbehren sollst du, sollst entbehren …», auf Tourneen verzichten, auf fremde Länder und Menschen, auf Metropolen und Begegnungen. Verzichten, vor allem auf die Frau. Seit meinem Erlebnis mit Gertrud habe ich auch hier kapituliert. Was zuletzt bleibt, ist der bittere Likör der Resignation. Ich versuche, die paar kleinen Dinge zu geniessen, die für mich erreichbar sind – das tägliche Frühstück, die Morgenzeitung, die erste Pfeife, arbeiten, wandern, ein paar Bekannte, eine Plauderei.

      Und so, mittelmässig und bedeutungslos wäre das Leben dahingegangen, wenn ich nicht Franziska begegnet wäre.

      ***

      Eigentlich passte sie besser zu Paolo als zu mir. Paolo sagte zwar von sich selbst, er sei ein Mensch des erfüllten Augenblicks, weshalb eine definitive Bindung für ihn unerträglich wäre; sobald ihm eine Frau zu nahe komme, rege sich in ihm gleich sein Abwehrinstinkt. Ich weiss nicht, ob er diesen Instinkt auch Franziska gegenüber spürte. Wieso es dazu kam, dass Franziska mich und nicht ihn suchte, das verstehe der Himmel. Ich weiss auch nicht, wieso Paolo, als er sie kennenlernte, ihr geradezu emphatisch von seinem Stiefbruder erzählte und mich als eine Art Phänomen hochstilisierte; ich sei zwar als Typus ein asymmetrischer Mensch, doch dessen ungeachtet ein ­faszinierender Kerl, hochintelligent, übrigens ein fabelhafter Pianist, dessen hoffnungsvolle Karriere der Vater ahnungslos verhindert habe. Sie sollte einmal hören, wie ich die Mondscheinsonate oder Franz Liszts «Liebestraum» spiele, daneben seien Horowitz und sogar eine ­Argerich geradezu Dilettanten usw. Das alles hat mir Franziska später erzählt. Ich bin überzeugt, dass

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