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von der Welt. Er habe, erzählte sie, in seinem Sarg trotz Brandwunden wie ein Schlafender ausgesehen … Heute, als Hannes nach seiner längeren Abwesenheit erschien, beteuerte sie, sie habe die ganze Zeit an ihn denken müssen: «Wissen Sie, Herr Monstein, es trifft immer diejenigen, die es am wenigsten verdienen, aber Gottes Wege sind unergründlich.» Sie hielt seine Hände, es sah fast aus, als wünschte sie eine Umarmung. Bevor er wegging, fragte sie leise: «Gibt es schon eine heisse Spur?»

      Sein Vater fragte ihn, ob er nicht für ein paar Tage wegmöchte – ein Kulissenwechsel, frische Luft, zum Beispiel bei ihrem Pächter im Unterengadin? Hannes antwortete, er sei jetzt nicht gerade auf Ferien erpicht, zudem müsse er für die Polizei jederzeit erreichbar sein. Der Alte, im Polstersessel sitzend, fragte: «Wie lange dauert das noch?»

      «Ich weiss es nicht, Vater, ich weiss es wirklich nicht. Das kann noch lange dauern.»

      Abends beim Einnachten wanderte er, wie schon immer, etwas umher. Betrachtete dabei die Leute, die auf ihn zukamen, als wäre es noch immer möglich, unverhofft ein bestimmtes Gesicht zu sehen. An der Kaibrüstung blieb er stehen und schaute auf den Fluss hinunter, sah in der Dämmerung die lautlose Strömung, das Weiss von Möwen. In einer Seitenstrasse wurde noch gearbeitet – Geräusch einer Maschine, warmer Rauch, ein Duft von Teer, italienische Stimmen. Weiter hinten kam ein stilleres Quartier, irgendwo die Bahnpasserelle. Er stieg hinauf, blieb eine Weile oben, während unten beleuchtete Züge vorbeifuhren. Man sah schimmernde Geleise, irgend­wo ein rotes Signallicht. Rechts unten, unweit der Bahnlinie, das kleine Café, in welchem er eines Abends mit Franziska gewesen war, kurz nach ihrer Bekanntschaft; beim Weggehen hatte sie ihren Schal vergessen, er war zurückgeeilt, um ihn zu holen. Sie wartete auf der Passerelle, er sah ihre Silhouette; als er oben war, hatte sie sich versteckt, näherte sich von hinten, schnappte ihm den Schal aus der Hand und legte ihn blitzschnell um seinen Hals, wie eine Schlinge. Dabei lachte sie.

      Am schwierigsten immer die Abende zu Hause, wenn es nichts zu tun gab. Er mochte weder Fernsehen noch Radio, Lektüre ging nicht, schreiben noch weniger; Musik ertrug er überhaupt nicht, nicht einmal Bach. Klavier spielen kam ohnehin nicht in Frage, zumal er das Aufenthaltszimmer, wo sein Flügel stand, nicht betreten mochte. Das eigene Haus schien unbewohnbar zu werden. Einmal wollte er in Franziskas Tagebuch lesen. Er nahm es aus der Schublade, blätterte kurz darin und legte es wieder zurück.

      Eines Nachmittags, als er heimkam, waren Lille und Francine da, mit dem Einpacken von Franziskas Sachen beschäftigt. An sich wusste er, dass sie hier sein würden, doch unterdessen hatte er es vergessen. Er grüsste, warf ei­nen Blick in das Zimmer, sah offene Schränke und Schubladen, am Boden zwei offene Koffer. Hierauf begab er sich in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Tisch und machte sich daran, noch ein paar letzte Kondolenzbriefe zu beantworten; er benutzte hierzu die gedruckten Karten mit der Danksagung und den Namen der zwei Hingeschiedenen, versah sie mit seiner Unterschrift, fügte da und dort etwas Persönliches hinzu. Oben vernahm er die Stimmen der beiden Frauen, fragte sich, wie lange ihre Einpackerei noch dauern würde.

      Einmal klopfte Lille an die Tür, fragte ihn, ob er ihr helfen könnte, einen Koffer ins Freie zu tragen. Er ging hinaus. Zu zweit ging es nicht gut, sodass er das schwere Ding allein die Treppe hinunterschleppte; Lille öffnete ihm die Haustür, draussen den Kofferraum von Francines Auto. Nachher, wieder in seinem Zimmer, tat ihm die rechte Hand so weh, dass er nicht mehr schreiben konnte. Er steckte sich eine Zigarette an, rauchte, zum Fenster hin­aus schauend. Sein Garten war mit Löwenzahn übersät, irgendwo blühte eine gelbtolle Forsythie.

      Als er wieder das Zimmer verliess und auf den Balkon hinausging, hing da an einer Leine Franziskas rotes Abendkleid, dasjenige, das sie oft auf Partys getragen hatte. Eine Weile, halb abwesend, stand er da und schaute. An sich war nichts dabei, ein karminrotes Frauenkleid, das sich sanft im Frühlingswind bewegte. Doch ohne zu wissen, wie es kam, begann er auf einmal zu schreien. Die zwei Frauen eilten herbei, bleich vor Schreck. Was war denn passiert? Er schrie wie ein Übergeschnappter, als hätten sie etwas verbrochen, nur verstanden sie kein Wort. Hierauf kehrte er in sein Zimmer zurück, die Tür laut zuknallend.

      ***

      Entschuldige, Leser, ich erzähle dies so, als handelte es sich um einen andern. «Je, c’est un autre», wie es der ge­nia­le Rimbaud gesagt hatte. Aber man kann sich nicht auf andere abschieben – ich spüre, dass ich auf schreckliche Weise ich selber bin. So bleibe ich besser bei der ­ersten Person, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.

      Ich notiere, was mir so in den Sinn kommt, ohne Plan, eine Art écriture automatique, so kunstlos wie möglich. Von der Familie nur en passant, also nur die Eltern, meine Schwester Sonja und mein unterdessen zu Tode gekommener Stiefbruder Paolo.

      Franziska selber, die mit ihm dahingegangen ist, wird erst später auftreten, obwohl sie mir dauernd vor der Seele schwebt. Ich sehe sie Tag und Nacht, manchmal nur schemenhaft, dann wieder deutlich wie ein lebendes Wesen. Letzthin zum Beispiel, als ich nach Hause kam, sass sie auf dem Bänkchen vor dem Eingang; wie ich betroffen stehen blieb und hinstarrte, winkte sie kurz mit der Hand, verschwand hierauf wie ein Luftgespinst. Im Traum sehe ich ihr Gesicht, ihre Goldglanzaugen, ihren auf mich gerichteten Blick. Sie war für mich alles in allem ein sehr dunkler Engel, durch den ich Himmel und Hölle kennenlernte.

      Ich versuche es zunächst mit der Gegenwart, das heisst mit der Gegenwart von einst, obwohl diese Gegenwart natürlich für immer vorbei ist. Es ist überhaupt etwas Merkwürdiges mit der Zeit, die uns dauernd zu schaffen macht: bald sind wir froh, dass sie vorbei ist, dann wieder möchten wir, dass sie zurückkäme.

      Mein Vater, Hans Rudolf Monstein, Inhaber eines Möbel- und Teppichladens, ist ein noch stattlicher Herr mit dem Gesicht einer Respektsperson, obwohl er genau ge­nom­men zu jenen gehört, die äusserlich mehr vorstellen, als was sie in Wirklichkeit sind. Sonst ein ehrlicher Mann, zu Hause gelegentlich ein Polterer mit altersbedingten Zornstimmungen. Als ich zwölfjährig war, starb meine liebe Mutter, worauf er eine um zehn Jahre jüngere Witwe heiratete, Lilian Blum, geborene Brändli. Meine Stiefmutter (wir nennen sie Lille), ist an sich eine herzens­gute Person, freigebig und hilfsbereit, hat öfters armen Familien mit Geld oder Lebensmitteln geholfen. Von Natur eher extravertiert, erzählt gern von Partys und Small Talks, umschwärmt Künstler, Erfolgsautoren, Schauspieler – ein Fimmel, den sie übrigens mit Vater teilt. Ich erinnere mich an die Geschichte mit Daniel Barenboim. Wir machten Ferien in Pontresina, Barenboim gastierte als Pianist und Dirigent bei den Engadiner Konzertwochen. Vater hätte den berühmten Mann gern getroffen, doch wurde ihm mitgeteilt, Herr Barenboim könne niemanden empfangen. Lille hingegen, ohne uns ein Wort zu sagen, fuhr nach St. Moritz hinüber, suchte ihn zuerst im Hotel Kulm, dann in Badrutts’s Palace, fand ihn schliesslich im grossen Saal der Laudinella, wo er, von der Aussenwelt abgeschirmt, am Klavier übte. Sie fand eine Putzfrau, die sich von ihr bestechen liess und ihr eine Hintertür öffnete. Ich stelle mir vor, wie Barenboim erstaunt innehält, während sich die Dame aus dem Hintergrund nähert, ihn um Entschuldigung bittet und gleich zu reden beginnt, während er, am Flügel sitzend, mit der linken Hand leicht über die Tasten klimpert. Übrigens hat sie mein Noten­album (‹Daheim am Klavier›) mitgenommen, bittet um ein Autogramm für ihren hochbegabten Stiefsohn, ein Wunsch, den ihr der Pianist rasch und wortlos erfüllt, sich dann wieder dem Instrument zuwendet und weiterübt, während sie noch eine Weile auf Distanz zuhört und dann leise verschwindet. Abends erzählt sie uns in einer Wolke von Enthusiasmus, wem sie begegnet ist. «Ein herr­licher Mensch!», sagte sie. «Er hat sanfte Augen wie viele Juden, auf dem Schädel noch einen leichten Flaum, wie Wollgras. Ich fand ihn reizend – weltberühmt und so menschlich.»

      Ich sehe noch Vaters frustrierte Miene. Er war buchstäblich sprachlos.

      Meine Schwester Sonja arbeitet in einem Warenhaus als Leiterin der Haushaltsabteilung, hat ihre Dreizimmerwohnung in der oberen Etage des Elternhauses, im Estrich ein Atelier, wo sie ihre bald düsteren, bald skurrilen Bilder malt. Sie war mit Philipp (Journalist) verheiratet, allerdings nicht lange, weil sie wie Hund und Katze zueinander passten. Ich frage mich, wie sie damals überhaupt zueinander gefunden hatten, doch ich weiss gut genug, wie rasch man Feuer fängt. Bei der Frau ist es zudem so, dass die Verliebtheit manchmal schon vor der Bekanntschaft da ist. Nach einem Jahr trennten sie sich wieder, aber ohne den Kontakt abzubrechen.

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