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Daskind - Brandzauber - Angeklagt. Mariella Mehr
Читать онлайн.Название Daskind - Brandzauber - Angeklagt
Год выпуска 0
isbn 9783038551287
Автор произведения Mariella Mehr
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Jetzt hat es die Stelle erreicht. Hier ist der Bach ein friedliches Gemurmel, schön anzuschauen mit den bunten Steinen und den Blumen, die am Bachrand blühen: Dotterblumen, weiße Waldanemonen und Engelwurz. Ein gelbes Licht verzaubert das Gebüsch, Frieda Kenels Gebüsch, Frieda Kenels Beeren, die sie in kleinen Körben nach Hause trägt. Daskind muss die Puppe finden. Starrt angestrengt in den Bach. Sucht mit weiten Augen das Wasser ab, das Ufer. Im Moos liegt die Puppe, der Bach hat sie nicht fortgetragen, hat sie achtlos ans Ufer gespült, wo sie sich in abgebrochenen Zweigen verfing. Von den Zweigen gehalten, liegt sie im Moos, sanft gleiten kleine Wellen über ihren Stoffkörper, manchmal verschwindet der Kopf in den Wellen. Daskind klettert vorsichtig die Böschung hinunter, greift nach der nassen Puppe, zieht sich wieder hoch. Mustert die Puppe, schüttelt sie und schwingt sie in der Luft. In den Wassertropfen bricht sich das Licht, kleine, regenbogenfarbene Kugeln, ein lebendiger Kreis um Daskind und die Puppe.
Aber Daskind verlässt den Kreis, will nicht vom Regenbogen, nicht vom Licht und den Farben gefangen werden. Nimmt einen dicken Prügel und die Puppe, läuft hastig in den Wald. Dort, weitab vom Bach, haut Daskind auf die Puppe ein, langsam, entschlossen. Blind. Findet den Rücken der Puppe blind. Schreit und haut. Jedem Schrei folgt ein tiefes Knurren aus dem Innern des Kindes. Prügelt die Puppe in den weichen Waldboden. Kann nicht aufhören, muss und muss. Schreit und knurrt. Das hat es von den Wölfen gelernt, dass da kein Erbarmen ist, wo Blut fließt. Schlägt jetzt schneller, Daskind, verbeißt sich im Stoff, zerreißt den Fetzen Stoffleib, bis nicht mehr zu sehen ist, was es war.
Pocht das Herz rasend.
Ist ein Zorn im Kind.
Zittert Daskind.
Schreit weiter, Daskind.
Bis eine Hand es streift und seine schreiende Stimme in der ruhigen Stimme der fremden Waldfrau verschwindet.
Starren sich an, die Frau und Daskind. Fremdlinge im Wald, der ein Tor ist zu den Gesängen der Fee. Führt eine Einsamkeit die andre durchs Tor, ein Fremdling den andern, eine Not die andere Not, führt eine Hand die andere tief in den Wald, wo das Holzhaus steht. Jetzt beide stumm.
Kocht die Waldfrau Kakao. Stellt Kuchen auf den Tisch. Bittet das Kind zuzugreifen. Nie hat jemand Daskind um eine Gefälligkeit gebeten, nicht am Tisch und nicht in der Nacht ohne Sinn. Daskind stopft sich den Kuchen ins Maul. Schluckt süß und süß, will wiederkommen. Bald.
4
Ein Frostflaum auf den Lippen des Kindes. Auf der Suche nach dem ordentlichen Leben wandert es zum Friedhof, der hinter der Michaelskirche liegt. Kann sich selbst nicht gelingen, wenn es die Toten zu lange meidet. Der Friedhof, für Daskind die siebente Tür, hinter der das Paradies sich befindet. Von der Welt abgenabelt, liegen sie unter der Erde, harren geduldig der Zersetzung durchs Gewürm. Das muss das Paradies sein, diese passive Art, sich des lästigen Körpers zu entledigen. Die einzige Möglichkeit, dem Herrn die Macht über das gewesene Fleisch zu stehlen, sich zurückzuholen, was ihm angeblich gehört. Weil keine Maden zur Hand sind, legt sich Daskind rote Regenwürmer auf die nackten Beine, hofft es auf die Gier der roten Fresser und bietet ihnen seine Haut bedingungslos zum Fraß. Aber die wollen nichts vom Kind, fallen vom Bein, verschwinden in der Erde. Bedauernd verfolgt Daskind ihren Rückzug.
Im hintern Teil des Friedhofs, unweit der Friedhofsmauer, die alte Eibe. Der Baum wächst in den Himmel wie die Tannen. Daskind weiß nicht, was für ein Schmerz so hoch hinauf zwingt, wie viel Glanz man ihm genommen oder welchem Gesang er sich so verzweifelt entgegenstreckt. Jedenfalls scheint er ein trauriger Baum zu sein. Daskind streicht mit den Händen über die rötlich braune Rinde, umfasst den Stamm, um das Herz schlagen zu hören. Mit den Bäumen kennt es sich aus. Und die Bäume mit dem Kind. Dieser hier ist nicht nur ein trauriger Baum, in der Blüte wird er ausgesprochen freundlich, wenn sich ein Mensch in seinen Schatten legt. Das tut Daskind im Frühling, wann immer es kann, denn auch für die Friedhofspaziergänge muss man sich davonschleichen, Frieda Kenel überlisten, das Haus ungesehen verlassen und dafür sorgen, dass die Gartentür nicht knarrt. Bleibt der Weg durchs Dorf, an Kellers Laden vorbei zum Italiener, der in seinem Schaufenster Kämme, hübsche Frauenfrisuren, Scheren, Rasiermesser, Seifen und dicke Pinsel aus Dachshaar feilbietet. Dann der Hauptstraße entlang zur alten Schule, wo jetzt im Dachgeschoss die zwei Lehrerinnen wohnen, Nonnen in schwarzen Gewändern und Schleiern. Schwester Guido Maria betreut die erste Klasse, Schwester Eva die zweite und dritte, die höheren Klassen werden von Lehrern unterrichtet.
Die unteren Stockwerke des alten Holzbaus dienen nicht mehr als Schule. Daskind liebt diese Räume, die knarrenden Bretter unter den Füßen, das weiche Licht, wenn die Sonne die langen Fensterreihen mit den staubigen Scheiben bescheint. Die niedrigen Bänke sind mit Nachrichten vollgekritzelt; Bruno libt Mari, die Vreni den Josef, auch: Rösi ist eine tume Kuh, Zahlen, pfeildurchbohrte Herzen, Gedächtnisstützen, Fratzen und Karikaturen. In den Tintenfässern vertrocknet die Tinte zu unansehnlichen Klümpchen, da und dort liegen noch angekaute Federhalter, gebrauchte Löschblätter, alte Schulbücher. An den Wänden hängen Zeichnungen, das Papier schon etwas vergilbt und brüchig.
Der blau gekachelte Holzofen ist nicht ausgeräumt. Niemand hat sich nach dem Umzug die Mühe genommen, die Schulräume zu reinigen. Als hätten die Kinder in letzter Minute flüchten müssen, alles zurücklassend, was nicht unbedingt notwendig war, so sieht es aus, und das liebt Daskind, das nicht flüchten kann.
Den Kiesplatz vor dem neuen Schulhaus durchquert Daskind im Laufschritt. Das rhythmische Knirschen unter den Sohlen nicht achtend, huscht es an den blank geputzten Fensterreihen vorbei und übersieht die glotzenden Kinder hinter den Scheiben. Dann ist das Schulhausportal zu überwinden, wo der Schulwart mit der Pfarrhaushilfe plaudert und mit der Faust droht, wenn Daskind zu nahe kommt. Das Schulhaus, den Schulwart und die Pfarrhaushilfe im Rücken, streicht es auf Zehenspitzen der Rosenhecke des Kirchgartens entlang, am schlafenden Köter des Sigristen vorbei, dringt zur St. Michaelskirche vor und nähert sich endlich dem Friedhofstor. Das heisere Geräusch des eisernen Tors zerschneidet Stille und Zeit, dem Kind fällt das Dorf ab, es ist für die Eibe bereit.
Die Freundlichkeit des Baumes liegt in seinem Duft, den er großzügig verströmt. Ein bitterer, schwerer Geruch, der sich zuerst auf Gaumen und Nasenschleimhäute legt und das Irdische in den Gedanken begrenzt. Nach einem leichten Brechreiz und einer kurzen Dumpfheit in Gehirn und Gliedmaßen füllen sich die Lungen mit weicher, leicht salziger, fließender Luft. Diese Luft nimmt dem Körper die Schwerkraft und gibt ihm die Bedürfnislosigkeit der Zeit im mütterlichen Bauch zurück. Der Duft der blühenden Eibe bemächtigt sich der Haut, macht sie fügsam und willig, dringt in die Poren vor, in jene Bereiche, die selbst Liebenden verborgen bleiben. Mit unsichtbaren Händen streichelt er die Haut und das Verborgene, beruhigt das gequälte Geschlecht, Daskind lächelt im Schlaf.
Abgestorbene Nadeln der Eibe bedeckten die am nächsten gelegenen Gräber und das grüne Band hinter der Friedhofsmauer. Hier waren des Kindes liebste Toten zu Hause, die Selbstmörder, Verbrecher und die Ungetauften. Ihre Leichen wurden im Morgengrauen verscharrt. Kein Pfarrer war zugegen, wenn der Ochsner Toni den schmucklosen Sarg in das Loch versenkte. Das war es ja gerade, was man den Unglücklichen vorenthalten wollte, den Segen der Kirche. Schweigend ließen der Sigrist und der Ochsner Toni die Särge ins Loch gleiten, schütteten das Grab zu und bedeckten die im Morgengrauen dampfende Erde mit den vorher ausgestochenen Grassoden. Dann klopften sie sich die Hände an den Hosen sauber, gingen wortlos davon.
Solche Begräbnisse sind selten. Seit Daskind ins Dorf geholt wurde, musste man nur drei Menschen hinter der Friedhofsmauer verscharren. Wenn die Frauen im Dorf davon sprachen, bekreuzigten sie sich und murmelten amen. Einmal wurde ein Neugeborenes verscharrt, der Sarg war so klein, dass ihn der Ochsner Toni wie ein Postpaket unter den Arm geklemmt trug und dabei nicht einmal ächzte.
Nachts scheinen die Pflegeeltern schwerhörig zu sein. Nichts stört ihren Schlaf in der Kammer gegenüber der Küche. Hören nicht das leise Knarren der Treppenstufen, nicht die vorsichtigen Schritte