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vergessen, dass man sich immer und überall vorzusehen hat, weil immer und überall Gefahr droht. Kari Kenel aber hatte Heimweh und gab damit zu verstehen, dass er sich in seiner Welt nicht vorzusehen hatte. Er konnte sich eine Zeitreise nach Idaho leisten, Daskind an seiner Seite vergessen. In sich gekehrt schritt er dem Vorderberg zu, dessen Waldgürtel unterhalb des breiten Bergrückens ihm die Illusion verschaffte, in den Wäldern Idahos zu wandern.

      Daskind war verwirrt. Die Hände auf dem Rücken, wie es Erwach­sene tun, versuchte es, mit dem Pflegevater Schritt zu halten. Der da neben ihm lief, war nicht der Mann, der weinende Gott, dessen Tränen seinen nackten Körper benetzten, wenn er mit bedächtigem Zorn auf es einschlug, oft bis Blut floss. Der hier glich jenem melancholischen, jungen Mann mit dem großen, breitrandigen Hut, von dem die Waldfrau, zu der sich Daskind ab und zu flüchtete, behauptete, dass er ihr Bruder sei. Dann leuchteten ihre Augen, und liebevoll glitten ihre Hände über die leicht vergilbten Fotografien und Ansichtskarten in der Schuhschachtel, die griffbereit in der Küche, auf einem hohen Stapel alter Zeitungen aufbewahrt wurde. Auf dem Deckel war eine Landschaftsansicht aufgeklebt, die aus einer Zeitschrift stammen musste. Im Vordergrund waren düstere Gebäude zu sehen, die sich wie verlassene Katzen aneinanderschmiegten. Sie schienen dem Kind bedrohlich und fremd. An einem Brunnen wuschen sich Männer mit nackten Oberkörpern. Ihre lachenden Gesichter glänzten schwarz, und aus diesem Schwarz leuchteten weiße, gefährliche Raubtierzähne. So jedenfalls empfand es Daskind. Wie Neger, schmunzelte die Waldfrau, aber einer von ihnen sei Kari, der da, sie zeigte auf einen der lachenden Männer; der hochgewachsene, der schöne Kari, so habe man ihn in seiner Jugend genannt. Daskind, das nicht spricht, denkt an den weinenden Silbergott, dem das Blut nicht aus dem Herzen fließt wie dem Silberleider über dem Sofa.

      Ein Kind wie Daskind ist leicht zu verwirren, wenn keine Ordnung herrscht. An jenem Tag, einem hellen Frühsommertag, trottet das Kind neben dem Mann her, der es verwirrt. Sie haben die Häuser hinter sich gelassen, in der ersten Steigung wird ihr Schritt langsamer. Weil Daskind auf dem nassen Laub ausrutscht, versucht es, die Hand des Mannes zu fassen, der, weit entfernt, zwischen sich und dem Kind ein Ozean, einen andern Weg geht und dem Kind die Hand nicht reichen kann. Also hält sich Daskind an die Gerüche des Waldes. Und an das Zwitschern, Zirpen und Trillern der Vögel. Manchmal flieht ein Hase ins niedrige Gebüsch, ein Eichhörnchen auf den nächsten Baum. Eichhörnchen, sagt der Mann, oder Hase, ein Wind streicht ihm das graue Haar aus dem Gesicht, sodass die gefurchte Stirn zu sehen ist. Und die Augen, grau wie das Haar. Der Wind hält den Himmel in Bewegung. Das heisere Bellen eines Fuchses ist zu ­hören. Kari Kenel berührt Baumstämme, betrachtet ihren Wuchs, runzelt ab und zu unwillig die Stirn. Daskind tut es ihm nach, bleibt ihm auf den Fersen, stumm. Die Bäume singen ihre Lieder; Buchen, Birken, hohe, schlanke Tannen miteinander im Gespräch, das jedenfalls behauptet Kari Kenel, wenn er dem Kind den Wald erklärt. Der bewundert das helle Grün der jungen Buchenblätter, ohne, vom Gedanken ans Grünezimmer aufgeschreckt wie Daskind, wegschauen zu müssen. Der sieht ein anderes Grün, einen andern Wald, weit entfernt im fremden Land.

      Sie erreichen die Lichtung. Das Weiberfeld. Vor vielen Jahren, erzählen sich die Dörfler, habe sich hier eine am eigenen Fleisch und Blut versündigt, das Gesetz Gottes verachtend. Da sei der Teufel in die Lichtung eingebrochen und habe die Mächler Olga geholt. Noch heute, bei klarer Vollmondnacht, höre man das brünstige Geschrei der Hure.

      Den Sohn habe keiner im Haus gewollt. Als Knecht habe er nichts getaugt, nicht richtig im Kopf sei er gewesen. Irgendwann nachdem sich der Mächler Marti zu Tode gesoffen habe, sei auch der Sohn verschwunden.

      Daskind setzt sich ins Gras, rupft am blühenden Thymian, atmet den bittersüßen Duft, denkt ans Geschick der Hure. Es muss das Grün sein, denkt Daskind, Kind Selberschuld, das Grün. Ein Wolkenschatten zerlöchert die Grasfläche. Schweigend kauen Kind und Mann.

      An wuchernden Berberitzen und Sanddorn vorbei nehmen sie den Abstieg. Den schwierigeren Weg, sagt Kari Kenel, der sei ihm lieber. Der Weg führt einer Schlucht entlang. Aus dieser Schlucht soll der Teufel gekommen sein, um die sündige Mächlerin zu holen. Tief unten im Gestein orgelt der Bach, schleift sich durch den Fels dem Dorf zu, wo er, seiner Gewalt beraubt, die Bewohner mit seinem reichen Fischbestand erfreut.

      Langsam setzt Kari Kenel Fuß vor Fuß. Hier im Schattloch bleibt der Saumpfad den ganzen Sommer über nass und glitschig. Es ist also trotz der genagelten Militärschuhe Vorsicht geboten. Leichtfüßig hinter ihm Daskind. Macht sich ein Spiel daraus, möglichst nah am Abgrund zu gehen. Hört das Orgeln des Bachs als ein grünes Gebet. Lästergebet, Lichtfressergebet. Hört die Brunstschreie der Mächlerin und die des Entsetzens. Greift nach dem Rücken des Mannes vor ihm, der, auf den Stoß nicht gefasst, auf dem nassen Waldschlick ausgleitet, stolpert und schwer in die Zweige über dem Abgrund fällt. Eine Ewigkeit Erschrecken in den Augen Kari Kenels, der – von den Zweigen aufgehalten – erst in den Abgrund unter ihm und dann ins Gesicht des Kindes starrt. Dunkel ist das Grau vom Erschrecken. Schaut Daskind durch die Angst hindurch mit festem Blick bis zum jubelnden Schrei der Mächlerin, zum Schrei, der ein Tier ist in eisiger Nacht. Kind Ohnegrund. Kann den jetzt unbewegten Himmel über sich einatmen. Und die Angst des Mannes im Gezweig. Könnte zutreten, die Hand, ins Holz verkrampft, zertreten. Müsste fallen, in jene Nächte zurückfallen, aus denen es emporgestiegen ist, in jene eisigen Nächte, die Daskind bewohnt und schon immer bewohnt hat. Wäre Ordnung für lange im Kind.

      Aber einer wie Kari Kenel ist ein Widergänger. Bannt den Blick des Kindes trotz der Angst, überrascht das Kind mit stiller Ergebung. Schon löst sich das Bild auf, wird zum Schatten, als der Mann die Hand ausstreckt und dann wieder auf festem Boden steht. Neben dem Kind. Die Hand des Kindes in der Hand des Mannes. Das weint jetzt, Daskind. Hat einen neuen Schmerz gefunden.

      3

      Aufmerksam betrachtet Daskind die Kiesel. Der Dorfbach macht hier keine großen Sprünge, sanft umspült er Stein um Stein. Umsichtig beleckt er die Wurzeln der Butterblume, sättigt großzügig das blühende Moos. Bunt leuchten die Kiesel im Bach, vom Wasser zurechtgeschliffene Werkzeuge, deren das Kind bald bedarf.

      Im Rücken des Kindes das Haus der Waldfrau. Unter dem Giebel haben wie jedes Jahr Schwalben genistet. Daskind weiß nicht, wann die jungen Schwalben verschwanden, aber das aufgeregte Flattern und Jammern des Vogelpaars war tagelang zu hören. So ist’s im Wald, sagt die Waldfrau, frisst jeder jeden, je nach Bedarf. Sie greift ins Innere des Hasen, tastet nach Lungen und Herz. Legt das stumme ­Hasenherz zu den zierlichen Nierchen auf einen Bakelitteller. Füllt den nun leeren Hasenbauch mit Kräutern und Knoblauch, streicht ihm sanft über die prallen Schenkel, ehe das Tier im Ofen verschwindet. Die Lunge landet hinter dem Haus im Brombeergestrüpp. Für den Waldschrat, lacht die Waldfrau. Daskind will nichts hören vom Schrat, denkt, wenn die Frau lacht, dass sie den Wald mit dem Waldschrat teilt und ihn mit der Lunge des Hasen zufrieden stimmt, damit er unsichtbar bleibt. Grad so wie der Immergrüne im nächtlichen Dunkel verschwindet, wenn er mit dem Gewicht seines Körpers die Lungen des Kindes zerquetscht und den Schleim zwischen die magern Schenkel des Kindes gespuckt hat.

      Daskind könnte auf das Hausdach der Waldfrau klettern, sich einfach und heiter hinunterfallen lassen. Das wäre ein Staunen im Auge des Immergrünen, sähe er die gebrochenen Schenkel, die zerfetzte Haut. Könnte Daskind auflachen, jubeln vor Freude. Hätte Daskind eine Frist zu nutzen. Doch Gott sieht alles, sagen sie im Dorf, wenn eines der Kinder Schlechtes treibt, und dass ihnen der Leib von Gott gegeben, der allein ihn zurücknehmen darf. Am Herzen Jesu bergen. Das Herz Jesu will keine gebrochenen Schenkel, keine zerfetzte Haut, keinen besudelten Leib. Lacht da der Immergrüne und jubelt.

      Endlich findet Daskind den Stein. Der graue Kiesel liegt gut in der Hand. Zärtlich betrachtet Daskind die Maserung, misst mit geübtem Blick die Rundung des Funds. Mit Schleuder, Stein und Ziel zu verwachsen, hat es gelernt, dann verwittert das Herz nicht beim Schuss. Und dass das Ziel eines ganz bestimmten Steins bedarf.

      Daskind wandert mit dem Stein und der Schleuder in den Wald. Ums Kind wimmelt’s von Absicht. Da ist ein Leben und Leben im Wald, das zueinanderdrängt und findet. Dornige Ranken zerkratzen die nackten Beine des Kindes. Vögel schrecken auf und fliegen hoch aus dem Niedergehölz. Das Beben der Luft will überall sein, ein Überallbeben berührt Daskind. Das ist nun im Wald aufgehoben, mit sich und mit dem Stein

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