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Geschichte in Film und Fernsehen. Thomas Fischer
Читать онлайн.Название Geschichte in Film und Fernsehen
Год выпуска 0
isbn 9783846346617
Автор произведения Thomas Fischer
Жанр Документальная литература
Серия Public History - Geschichte in der Praxis
Издательство Bookwire
So oder so ähnlich könnte eine Erzählung beginnen, die von den Schreckensereignissen des 11. September 2001 in New York erzählt. Ein Leser, der sich nicht nur für den Inhalt und Verlauf der Ereignisse interessiert, sondern auch für das Erzählen selbst, wird bemerken, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Erzählung, die er gerade liest, und dem Ereignis, das ihr zugrunde liegt. Dieser Unterschied wird in vielen alltäglichen Erzählsituationen erfahrbar, wenn jemand ankündigt, „ich erzähle dir jetzt mal, was passiert ist.“ Der Erzähler unterscheidet nämlich dabei zwischen seiner Erzählung, die gleich folgen wird („Ich erzähle Dir jetzt mal,…“) und einem ‚Ereignis‘, das sich in der unmittelbaren oder früheren Vergangenheit ereignet hat („… was passiert ist“) und das Ausgangspunkt der Erzählung ist. Die Unterscheidung markiert einen fundamentalen Sachverhalt: Tatsächliche Ereignisse sind Unikate, die es nur einmal gibt. Sie haben ihre Zeit, ihren Ort, ihre Akteure und Abläufe, sind aber zum Zeitpunkt ihres Geschehens noch nicht erzählbar. Erst durch die Fähigkeit der Menschen, [16]sichtbare und hörbare Geschehensabläufe aus der sie umgebenden Welt mit den Sinnen zu erfassen (Wahrnehmung), sprachlich zu benennen (Codierung, Formung) und zu erzählen (Vermittlung), wird die Welt meist amorpher sprachloser Geschehnisse zu einer erzählten Welt. In dieser erzählten Welt werden die als ,wichtig‘ eingestuften Ereignisse als bedeutsame Zustandsänderungen im raumzeitlichen Ablauf des Weltgeschehens dargestellt (Mauerfall, 9/11, Brexit). Sie markieren einen Unterschied zwischen einem Zustand ‚davor‘ und einem ‚danach‘, haben einen Anfang und ein Ende. Dennoch kann es von einem einzigartigen tatsächlichen Ereignis zahlreiche verschiedene Erzählungen geben, abhängig davon, wie viele Erzähler sich des Ereignisses im Laufe der Zeit annehmen und von welchem Standpunkt aus sie erzählen.
So war es auch am 11. September 2001, als die Kameraleute der Brüder Naudet zufällig Zeugen des Einschlags der Flugzeuge in die Twin Towers wurden. Damals dauerte es nicht lange, bis auch die kommerziellen News-Sender mit ihren Übertragungswagen (Ü-Wagen, ausgestattet mit Aufzeichnungs-, Schnitt- und Sendetechnik) vor Ort waren. Sie richteten ihre Kamera(s) auf die Twin Towers und ihre Antennen auf den Satelliten aus und sendeten die Bilder live als ‚cleanfeed‘ (unbearbeitet) an ihre Fernsehstationen. Dort wurde der große Nachrichtenwert der Bilder sofort erkannt und entschieden, das laufende Programm sogleich zu ändern und die Bilder vom Geschehen als ‚breaking news‘ mit maximaler Reichweite zu verbreiten. Als die Bilder öffentlich wurden, wollten weltweit auch viele andere Fernsehsender das Live-Signal übernehmen, aber es gab die üblichen rechtlichen, technischen und redaktionelle Probleme: Nachrichtenteams mussten zusammengerufen, die Leitungen angemietet und geschaltet, die Studios besorgt und hochgefahren, die Lizenzkosten für Bilder ausgehandelt werden – alles Dinge, die einige Zeit brauchen. Auch bei deutschen Fernsehsendern gab es Schwierigkeiten. Als man dort über die Live-Bilder verfügte, mussten die Nachrichtensprecher aus ihren 6000 km entfernten Studios einen ‚livestream‘ von schockierenden Bildern kommentieren, zu denen die Hintergrundinformationen noch weitgehend fehlten.
Erzähler
Aktuelle Ereignisse werden in audiovisuellen Medien meist von Nachrichtenerzählern (Moderatoren) präsentiert. Bei Auslandsberichten treten neben dem Moderator weitere Erzähler auf: die Reporter oder Korrespondenten. Am Ort des Geschehens beobachten sie Akteure und Handlungsabläufe und formen die Geschehnisse zu Ereignissen um, indem sie Zeit, Ort und Akteure des Geschehens präzise benennen und die von ihnen wahrgenommenen Unterschiede im raumzeitlichen Geschehensablauf festhalten. Die Beachtung der raumzeitlichen Abläufe ist deshalb wichtig, weil (verständliche) Erzählungen nur dann entstehen, [17]wenn der Erzähler die Geschehenselemente schlüssig auseinander hervorgehen lässt (Kausalität), die zu erzählenden Inhalte nachvollziehbar einander zuordnet (Kohärenz) und sich insgesamt an die genaue zeitliche Abfolge der Geschehnisse hält (Chronologie). Der Erzähler vor Ort steht dabei vor einigen Problemen: Erstens, weil er sich selbst am Schauplatz des Geschehens befindet, das Geschehen also nicht nur beobachtet, sondern es auch erlebt (und indirekt nicht selten auch beeinflusst). Zweitens muss er sich auf dem Schauplatz einen Standpunkt suchen, von dem aus er das Geschehen beobachtet. Wer einen Standpunkt hat, bekommt damit aber auch eine bestimmte Sichtweise (Perspektive) auf das Geschehen, er sieht nur einen Ausschnitt des Geschehens (Selektion) und verfügt deshalb auch nur über ein begrenztes Wissen von dem, was geschieht (Fokalisierung). Drittens ist das Geschehen in der Regel noch im Fluss, wenn der Reporter den Schauplatz betritt. Als erfahrener Beobachter und Erzähler kann er zwar einschätzen, ob es sich bei dem Geschehen um ein wichtiges Ereignis mit großem Nachrichtenwert handelt, aber er kennt nur den Anfang des Ereignisses und noch nicht sein Ende. Diese Ungewissheit über den Ausgang eines Ereignisses ist nahezu tagtäglich in den Fernsehnachrichten wahrnehmbar, wenn Auslandskorrespondenten von Kriegs- oder Katastrophenschauplätzen berichten und über den weiteren Verlauf von Ereignissen spekulieren. Viertens ist ein Reporter zwar ein unmittelbarer Beobachter, aber er kann seine Beobachtung nicht unmittelbar, sondern nur sprachlich oder bildlich vermittelt weitergeben. Der Erzähler kann also immer nur mittelbar von einem Ereignis erzählen, was die Frage aufwirft, in welcher Relation die erzählte Welt der Ereignisse zur tatsächlichen Welt der Geschehnisse steht. Fünftens schließlich muss sich der Erzähler eines technischen Mediums bedienen, um seine Erzählung zu vermitteln. Von der Wahl des Mediums hängt es ab, ob eine Erzählung etwa als fortlaufender Text sichtbar wird oder, wie das bei den audiovisuellen Medien der Fall ist, als komplexe Bild-Ton-Abfolge mit verschiedenen Erzählkanälen (visuelle, auditive und verbale Kanäle), die erst synchronisiert werden müssen, damit eine Erzählung entsteht.
Erzählung
Katastrophen, die die Normalität der Alltagswelt aus den Angeln heben und zu einem verzweifelten Überlebenskampf der betroffenen Opfer sowie zu dramatischen Rettungsaktionen der herbeieilenden Helfer führen, finden sich zu allen Zeiten und sind, gerade wegen ihrer Dramatik, häufig Erzählinhalt von Kinofilmen und Fernsehdokumentationen. Vor allem das Erzählschema der Spielfilme wiederholt sich dabei meist stereotyp: Am Anfang der Erzählung steht ein Schreckensereignis, das einen bestehenden Zustand radikal verändert und bestimmte Personen oder Personengruppen zum Handeln zwingt. Sie müssen gegen die Katastrophe ankämpfen. Einzelne Akteure (z.B. Polizisten, Ärzte, Forscher) treten [18]dabei in den Vordergrund und nehmen entscheidenden Einfluss auf das Handlungsgeschehen. Die Helfer sind bemüht, in einem Wettlauf gegen die Zeit möglichst viele Menschen zu retten und das katastrophale Geschehen schnell zu beenden. Dennoch können sie nicht verhindern, dass viele Menschen der Katastrophe zum Opfer fallen. Bei solchen oft als Actionfilm inszenierten Ereignissen rücken ‚Erzählzeit‘ (Zeit der Erzählung) und ‚erzählte Zeit‘ (Zeit des Ereignisses) eng zusammen, weil der Kampf gegen die (ablaufende) Zeit die Handlung strukturiert. Ein Katastrophenfilm lässt sich natürlich auch aus der Opferperspektive erzählen. Dies versucht anlässlich von 9/11 beispielsweise der Film „Extrem laut und unglaublich nah“ (USA 2011). Aber auch dort gibt es Protagonisten, Antagonisten und weitere Handlungsfiguren sowie innere und zwischenmenschliche Konflikte, die die Handlung vorantreiben und das Ende der Erzählung bestimmen. Das sich in vielen Katastrophenfilmen wiederholende Erzählschema verweist wiederum auf die raumzeitliche Struktur der Ereignisabläufe selbst, die sich nicht nur in den Erzählungen wiederfindet, sondern auch schon den tatsächlichen Geschehnissen innewohnt, auf die sich die Erzählungen beziehen. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass es bei Geschehensabläufen, Ereignissen und Erzählungen immer um dasselbe geht, um handelnde Akteure in Zeit und Raum oder, etwas erzählerischer formuliert, um konkrete Menschen, die zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Schauplätzen handeln müssen, weil ein Ereignis ihren Lebensalltag destabilisiert hat und sie zwingt, die Stabilität auf neuer Grundlage