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selbst ein Gegensatz zwischen unmittelbarer Darstellung und mittelbarer Erzählung existiert. Denn sowohl der Spielfilm als auch die Dokumentation konstruieren zwar audiovisuelle Welten, doch unterscheiden sie sich in den Erzählmodi. Der szenische Geschichtsfilm ist bemüht, ohne einen verbalen Erzähler auszukommen, der dokumentarische Geschichtsfilm benötigt ihn dagegen dringend. Aber dieser Unterschied besteht nur graduell. Das Doku-DramaDoku-Drama ist eine hybride audiovisuelle ErzählformHybride Erzählformen, bei der dramatische Lebenssituationen historischer Personen (meist) der Zeitgeschichte in einer ausgewogenen Mischung aus szenischem Spiel und dokumentarischer Darstellung vergegenwärtigt werden.Denn es gibt durchaus szenische Geschichtsfilme, in denen ein (außerfilmischer) verbaler Erzähler eine wichtige Rolle spielt, während es umgekehrt dokumentarische Geschichtsfilme gibt, in denen der verbale ErzählerVerbaler Erzähler sehr zurückhaltend agiert und stattdessen leibhaftige Erzähler aus der tatsächlichen Gegenwartswelt die Geschichte vorantreiben. Beide Formen können also dicht aneinander heranrücken oder sogar miteinander verschmelzen, wie das Doku-DramaDoku-Drama zeigt, bei dem showing und telling ineinander übergehen. Verbales [28]Erzählen ist also bei genauer Betrachtung ein Mittelding zwischen filmischem und literarischem Erzählen, weil es einerseits ‚Worte‘ benutzt und insofern sprachliche und nicht visuelle Zeichen verwendet, andererseits folgt es aber dem Prinzip der Mündlichkeit, ist ein stimmsprachliches, hörbares und kein literarisches, buchstäbliches Erzählen. Das stimmsprachliche Erzählen ist seit der Erfindung des Tonfilms aber ein ganz selbstverständlicher Teil des audiovisuellen filmischen Erzählens. Allerdings ist trotz mancher Gemeinsamkeiten und Überlappungen beim szenischen und dokumentarischen Geschichtsfilm doch festzuhalten, dass der dokumentarische Film in der Regel dem telling und der szenische Film dem showing näher steht.

      Eine Sonderrolle spielt der klassische ‚Dokumentarfilm‘, der meist Spielfilmlänge hat und Menschen bzw. Ereignisse der gegenwärtigen tatsächlichen Welt zeigt, ohne dass dabei ein verbaler ErzählerVerbaler Erzähler zu Wort kommt. Wie der Spielfilm, so erzählt sich also auch der klassische Dokumentarfilm scheinbar selbst. Es gibt allerdings auch einige Ausnahmen, insbesondere wenn es im Dokumentarfilm um historische Themen geht. Dann setzen auch viele Dokumentarfilmer auf einen verbalen Erzähler, der die historischen Zusammenhänge verdeutlicht.

      Beginnen wir mit einem Beispiel, dem Doku-DramaDoku-Drama „Flick“ (Arte/ARD 2010) (Abb. 1), und betrachten wir zunächst den Anfang des Films: Bild und Ton blenden auf: Auf der visuellen Ebene erscheinen seltene Archivbilder eines Mannes aus dem Jahr 1969, Filmaufnahmen des 86-jährigen Großindustriellen Friedrich Flick, der allein auf der Konstanzer Seestraße spazieren geht. Die Trickkamera springt in einer Montage an die Archivaufnahmen (Fotos und Filme) heran, zeigt den Protagonisten in Großaufnahme, entfernt sich wieder, kommt erneut näher usw. Es entsteht ein ‚verwackeltes‘, sprunghaftes Bild von Flick. Auf der auditiven Ebene beginnt der Film mit Musik, die sich dem SchnittSchnittrhythmus anpasst, und auf die das Voice-OverVoice-Over eines verbalen Erzählers geblendet wird. Er ist kein innerfilmischer Erzähler, sondern ein unsichtbarer außerfilmischer Erzähler. Er beginnt seine Erzählung mit der Nennung von Ort, Zeit und Person und authentifiziert so das Archivmaterial auf der visuellen Ebene: „Konstanz 1969. Seltene Aufnahmen von einem der umstrittensten Männer Deutschlands. Friedrich Flick, Unternehmer und Multimilliardär.“ Das Voice-OverVoice-Over verstärkt das unstete Bildergemisch durch den Hinweis, dass Flick einer der „umstrittensten“ Männer Deutschlands sei. Diese Divergenz unterstreichen mehrere knappe Statements von ZeitzeugenZeitzeugen und Flick-Forschern in Bild und Ton: „Er war ein Genie“ (Otto Kaletsch, Patensohn Flicks), „Das war ein brillanter Kenner, ein unglaublich fleißiger Mann“ (Eberhart von Brauchitsch, Generalbevollmächtigter Flicks), „Friedrich Flick ist sicherlich eine Ausnahmegestalt“ (Norbert Frei, Historiker), „Er war ein großer Manipulator“ (Tim Schanetzky, Historiker), „Man traute ihm eigentlich alles zu“ (Johannes Bähr, Historiker). Im Anschluss an die Statements folgt ein Bild-Ton-SchnittSchnitt in zeitlich noch weiter zurückführendes Archivmaterial: [29]Bilder der US-Wochenschau von 1946 zeigen Flick als Angeklagten vor dem Nürnberger Militärtribunal. Der Richter fragt ihn: „Friedrich Flick, how do you plead to this indictment? Guilty or not guilty?“ Flick antwortet: „Ich bin unschuldig.“ Auf ein grafisch gestaltetes Foto von Flick wird der Filmtitel geblendet: „Flick. Der Aufstieg.“

      Abb. 1 DVD-Cover des Doku-Dramas „Flick“ (Arte/ARD 2010).

      Der Film „Flick“ fokussiert von Beginn an den Protagonisten. Die visuelle Ebene zeigt ihn am selben Ort in unterschiedlichen Einstellungen. Die Bilder verstehen sich aber nicht von selbst, da weder Ort, Zeit noch Person den meisten Zuschauern gegenwärtig sind. Die Bildebene benötigt einen verbalen Erzähler, der den Bildinhalt erklärt. Der Voice-Over-Erzähler versteht sich dabei als ein populärer Erzähler, er geht nicht auf Distanz zu den Bildern, sondern baut mit ihnen erzählerische Spannung auf. Die Spannung wird durch die widersprüchlichen Statements von ausgewiesenen Flick-Kennern verstärkt und erreicht mit Flicks Auftritt vor dem Nürnberger Tribunal ihren Höhepunkt. Flick, als Kriegsverbrecher angeklagt, erklärt sich für „unschuldig“ – eine Selbsteinschätzung, die er, so lässt der Filmanfang vermuten, offensichtlich bis zu seinem Lebensende beibehält. Die unausgesprochene Botschaft des verbalen Erzählers an das Publikum lautet: Dieser Friedrich Flick ist eine tatsächliche historische Person, ein interessanter, umstrittener Mann, dessen audiovisuell erzählte Geschichte sich anzusehen lohnt (Flick 2010, Teil 1, TC: 00:11–01:05).

      Tatsächliche Welt und erzählte Welt

      Das Feld historischer Tatsachen ist das Metier der an Geschichte interessierten Dokumentarfilmer. Sie erzählen nur das, was sich durch Quellen belegen lässt. Ihnen ist auch nicht daran gelegen, in der dokumentarischen Erzählung die zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben. Im Gegenteil, die Dokumentarfilmer wollen die Vergangenheit nicht filmisch inszenieren, sondern dokumentarisch von ihr erzählen. Dabei müssen sie zwei Probleme lösen. Das erste Problem ist ein narratives. Die Erzähler müssen eine erzählerische Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit bauen, sie müssen zwischen dem [30]Hier und Jetzt ihrer Erzählung und dem, „was damals passiert ist“, vermitteln. Das geschieht mit Hilfe von historischen Quellen, die in die dokumentarische Erzählung eingebaut werden. Als Überreste sind sie gegenwärtige Zeugnisse der Vergangenheit. Verwendet werden vor allem Bild-, Film- und Tonquellen aus der erzählten Zeit, die einen Eindruck vermitteln sollen, ‚wie es damals war‘. Eine große Rolle spielen aber auch ZeitzeugenZeitzeugen, die dem gegenwärtigen Publikum erzählen, was sie ‚damals‘ erlebt haben, und die so ebenfalls eine Brückenfunktion übernehmen (→ Kap. 2.3.2 und Kap. 3.7). Das zweite Problem ist ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die dokumentarischen Erzähler müssen sicher stellen, dass ihrer Erzählung Vorgänge zugrunde liegen, die sich in der Vergangenheit tatsächlich ereignet haben, dass sie eine Tatsachenerzählung ist. Das geschieht auf ganz unterschiedliche Weise: Außerfilmisch wird durch das Label ‚Dokumentation‘ darauf aufmerksam gemacht, dass der Film sich auf tatsächliche Ereignisse und Sachverhalte bezieht; filmisch wird der verbale ErzählerVerbaler Erzähler als ein der historischen Wahrheit verpflichteter Erzähler etabliert, er ist in gewisser Weise nüchterner Historiker und ambitionierter Erzähler in einer Person; darüber hinaus sollen die vom Erzähler verwendeten visuellen, auditiven und verbalen Quellen (Film- und Tondokumente, ZeitzeugenZeitzeugen, ExpertenExpertenstatements) die AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung der Erzählung belegen (→ Kap. 2.3.1).

      Der verbale ErzählerVerbaler Erzähler

      Charakteristikum des dokumentarischen Geschichtsfilms (Geschichtsdokumentation) ist der verbale ErzählerVerbaler Erzähler, der entweder sichtbar als ‚PresenterPresenter‘ bzw. ‚Moderator‘ auftritt oder unsichtbar als Voice-OverVoice-Over agiert. Hin und wieder tritt der verbale ErzählerVerbaler Erzähler auch in beiden Rollen auf. Ein Erzähler ist deswegen unverzichtbar, weil der dokumentarische Geschichtsfilm meist ein Konglomerat aus heterogenem Filmmaterial ist: Bild-, Film-, und Ton- und Textdokumente aus diversen Archiven in unterschiedlicher Qualität stehen nebeneinander. Dazu

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