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weshalb auch audiovisuelle Geschichte immer auf eine breite öffentliche Wahrnehmung ausgerichtet ist (Public HistoryPublic History). Das bedingt, dass es sich bei ihr um allgemeinverständliche Geschichte handelt (Popular HistoryPopular History). Populärgeschichte verzichtet auf Fachbegriffe und wissenschaftliche Analysen. Ihr geht es um spannende Geschichten aus der Vergangenheit, sie ist zu allererst erzählte Geschichte. Erzählte Geschichte(n) in Film und Fernsehen knüpfen meist an historische Ereignisse an: konkrete Personen, Orte und Situationen stehen im Mittelpunkt. Audiovisuelle Geschichte ist also die populäre Erzählung von historischen Ereignissen im Medium Film und deren Verbreitung und Rezeption mittels Kino, Fernsehen und Internet.

      Audiovisuelle Geschichte findet entweder als szenische Erzählung (Spielfilm) statt, die historische Ereignisse dramatisiert, oder als verbale Erzählung eines leibhaftigen oder unsichtbaren (Voice-OverVoice-Over) Erzählers, der die Geschichte mit Hilfe historischer Quellen darstellt (Dokumentation). Aus diesen zwei Grundtypen des audiovisuellen Erzählens entstehen dann vermehrt seit den 1980er Jahren verschiedene hybride ErzählformenHybride Erzählformen, die dokumentarisches und szenisches Erzählen vermischen (→ Kap. 2.1 und 2.3.1). Audiovisuelle Geschichte beginnt in dem Moment, in dem im Kinosaal der Projektor anläuft oder die Aufzeichnung beim Fernsehsender ‚abgefahren‘ wird und auf der Leinwand oder dem Bildschirm eine vergangene Lebenswelt sicht- und hörbar wird. Nur während ein Film läuft, wird er als Erzählung zu einem tatsächlichen audiovisuellen Ereignis – zu einer sich in Raum und Zeit entfaltenden filmischen Vergangenheitserzählung. Mit Beginn dieser Erzählung setzt beim Publikum ein komplexer Prozess der Wahrnehmung, Decodierung und Interpretation der sicht- und hörbaren filmsprachlichen Zeichen ein, in dessen Verlauf der Film sowohl als kollektive Erzählung rezipiert als auch mit den je individuellen Erfahrungen und Erinnerungen der Zuschauer und Zuhörer in Einklang gebracht wird. Erst im konstruktiven Zusammenwirken von Erzähler und Publikum wird die Erzählung soziale Realität und Teil der kollektiven Erzähl- und ErinnerungskulturErinnerungskultur. Das ist der Grund, warum sich der folgende Bericht über den Forschungsstand nicht nur auf die geschichtswissenschaftliche Betrachtung des Geschichtsfilms beschränkt, sondern auch Forschungen anderer Wissenschaften zu den Themen Erinnerung, Gedächtnis, ErinnerungskulturErinnerungskultur, Vergangenheitserzählungen etc. einbezieht.

      [5]Gedächtnis und Erinnerung

      Audiovisuelle Geschichtsdarstellungen sind Erzählungen, die selbst wieder in großem Umfang auf erzählende Quellen zurückgreifen, um vergangene Lebenswelten wieder ‚lebendig‘ werden zu lassen. Da diese Vergangenheitserzählungen zentrale Bestandteile von kollektiven und individuellen Erinnerungsprozessen sind, weil sie zur Festigung gesellschaftlicher und personaler Identität beitragen, beschäftigen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften u.a. mit den Fragen, wie Erzählungen überhaupt entstehen, wie sie im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis gespeichert und erinnert und wie sie in die von den Massenmedien verstärkten Erinnerungsprozesse integriert werden.

      Der Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer schrieb 2002 das sehr beachtete Buch „Das kommunikative Gedächtniskommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung“. Welzer ging darin der Frage nach, „wie sich unser Gedächtnis bildet, wie es arbeitet und wie es verarbeitet“, schilderte die sozialen Prozesse der Erfahrungs- und Vergangenheitsbildung und klärte schließlich, „wie sich lebensgeschichtliche Erinnerung über die Zeit hinweg verändert.“ (Welzer 2002, 11f.). Diese Veränderung tritt nicht nur dadurch ein, dass der Einzelne immer neue, lebensgeschichtlich wichtige Ereignisse abspeichert, sondern auch dadurch, dass er normalerweise seine Erinnerungen kontinuierlich mit anderen austauscht. Welzer zeigte, dass Kinder im Zuge des Spracherwerbs, ca. ab dem vierten Lebensjahr, in die familiäre Erzählgemeinschaft integriert sind. Voraussetzung ist die nach und nach erworbene Fähigkeit des Kindes, wahrgenommene Geschehensabläufe im Medium der Sprache so zu codieren und zu strukturieren, dass sie als Ereignisablauf mit einem Anfang und einem Ende, einem Schauplatz und den dort handelnden Personen erzählt werden können. Eigene Erfahrungen, aber auch audiovisuelle Vorlagen (z.B. TV-Nachrichtenbilder) und fremde Erzählsegmente (z.B. Zeitungsartikel) werden ins Gedächtnis importiert und zu Erinnerungsepisoden montiert. Von besonderer Bedeutung ist dabei, „dass unsere autobiografischen Erzählungen Organisationsprinzipien folgen, die sozial gebildet sind. Wir alle haben im Prozess des ‚memory talk‘, in der gemeinsamen Praxis des konventionellen Erinnerns, durch jedes gelesene Buch und jeden gesehenen Film gelernt, dass eine richtige Geschichte bestimmten Grundmustern zu folgen haben muss, um vom Zuhörer unmittelbar verstanden zu werden.“ (Welzer 2002, 172) Dazu gehört die Bedeutsamkeit des erzählten Ereignisses, die Einhaltung der Zeitenfolge, eine klare Strukturierung der einzelnen Erzählelemente auf einen Endpunkt hin, eine Botschaft etc. Das Erzählen von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen ist in diesem Sinne eine „diskursive Leistung“ zum Zweck der Teilhabe an der kulturellen Tradition (Gergen 1998, 191) und zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft, die sich zu allererst als Erzählgemeinschaft versteht. Der gesellschaftliche Erzählfluss verläuft einerseits in die Breite, indem [6]die millionenfachen tagtäglichen Erzählungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten als In- und Exporte zeitgleich ablaufen und dabei von den Mainstreamerzählungen der Massenmedien begleitet werden. Andererseits verläuft er zeitlich aber auch in die Tiefe: Erzählungen gehen Erzählungen voraus, die selbst wieder auf Erzählungen beruhen und wiederum Erzählungen werden. Alles in allem ist somit das „gesamte Verhältnis von Erzählvorlagen, Erlebnissen, Weitergaben von Erlebnisberichten und Bebilderungen mit vorhandenem visuellen Material unentwirrbar komplex“ (Welzer 2002, 173). Da sich also menschliches Gedächtnis und die Erinnerung von Kindheit an über sinnliche Wahrnehmungen, das Medium der Sprache und über die Praxis des Erzählens formt und ein Leben lang anhält, ist leicht zu verstehen, warum sehr viele Menschen tagtäglich Geschichten in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern lesen oder sich audiovisuell im Kino, Fernsehen und Internet erzählen lassen.

      ErinnerungskulturErinnerungskultur und kulturelles GedächtnisKulturelles Gedächtnis

      Mit den Fragen der Bedeutung von Erzählungen zur Konstruktion von gesellschaftlicher Identität und zur Abgrenzung (oder manchmal auch für den Brückenschlag) nationaler Kulturen zu anderen Kulturen befassen sich seit vielen Jahren auch die Kulturwissenschaften. Ausgangspunkt waren Forschungen von Aleida und Jan Assmann in den 1980er Jahren zum kulturellen und zum kommunikativen Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis stand dabei als „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.“ (Assmann 1988, 9) Zum ‚Wissen‘ gehört somit auch das über Generationen tradierte geschichtliche Wissen, das in großem Maße auf (erforschten) Erzählungen beruht. Das kommunikative GedächtnisKommunikatives Gedächtnis ist demgegenüber weniger festgelegt und organisiert. Es ist noch im Fluss und unfertig wie die Erinnerung (ebd. 10). Im Unterschied zur Alltagsferne des kulturellen Gedächtnisses ist es an Personen und Erfahrungen gebunden und durch Alltagsnähe gekennzeichnet. Das kommunikative Gedächtnis beruht auf mündlicher Kommunikation und lässt sich als fortlaufender Prozess des Erzählens verstehen. Es hat keinen festen Zeithorizont, sondern durchwandert gewissermaßen die Lebenszeit der Erzählgemeinschaften. Jan Assmann geht davon aus, dass das kommunikative GedächtnisKommunikatives Gedächtnis 80 bis 100 Jahre, also etwa drei Generationen umfasst. Es funktioniert als eine Art kommunikativer Arbeitsspeicher der Gesellschaft, in dem Erzählungen über Gegenwart und Vergangenheit kursieren, temporär gelagert und immer wieder ergänzt und umgeschrieben werden.

      Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat das Gedächtnis zunächst hauptsächlich als Speichermedium für Wissen und Erzählungen betrachtet und sich für seine Funktion als Verbreitungsmedium von Wissen und [7]Erzählungen weniger interessiert. Das betraf auch die Geschichtsfilme im Kino und Fernsehen, bei denen das Augenmerk mehr auf der Archivierung als auf der Verbreitung lag. Astrid Erll und Stephanie Wodianka haben 2008 deshalb vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit innerhalb der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung von den Speichermedien stärker auf die Verbreitungsmedien, von den Symbolsystemen hin zu den Sozialsystemen zu verlagern und nicht mehr allein das Produkt (Gedächtnis), sondern in erster Linie die Prozesse (ErinnerungsdiskurseErinnerungsdiskurs) der kulturellen Erinnerung zu untersuchen

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