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würden wir eine Reise unternehmen.» Im Garten, wo es einen kleinen Teich hatte, gab es für die Kinder ständig neue Sachen zu entdecken. «Wir spielten am Wasser und fingen Kaulquappen, die wir in Konfitüregläsern mit nach Hause nahmen.»

      Als Kinder hätten sie die meiste Zeit im Freien verbracht, sagt Augusta Theler. Hinter dem Haus spielten sie mit den Nachbarskindern, kletterten auf Bäume und bauten Hütten aus alten Militärdecken. Im Haus war nur wenig Platz. Neben der Küche und einer Stube im Erdgeschoss sind im oberen Stockwerk vier Zimmer. Eines davon ist nur eine kleine Kammer: wenig Raum für zehn Kinder und zwei Erwachsene. Zeitweise schliefen die Kinder zu dritt in einem Zimmer. «Wir hatten eine einfache, aber wunderschöne Kindheit», fasst Augusta Theler zusammen und fügt an, sie seien streng erzogen worden. «Am Sonntag gingen wir immer in die Messe, wo wir mäuschenstill sein mussten und uns nicht bewegen durften. Die Eltern legten Wert darauf, dass wir die Leute auf der Strasse freundlich grüssten und ihnen in die Augen schauten, wenn wir ihnen die Hand gaben.» Das Leben in der Grossfamilie habe sie geprägt, sagt Augusta Theler. Als Kind mit neun Geschwistern habe sie sich meist den anderen angepasst. «Wenn ich mich durchsetzen wollte, konnte ich aber ein Trotzkopf sein.» Viel Erfolg habe sie mit diesem Verhalten jedoch nicht gehabt. «Unsere Eltern haben uns beigebracht, dass es nichts bringt, wenn jeder nur für sich schaut.» Diese Einstellung habe sie übernommen. Egoismus sei ihr zuwider, und sie ertrage es fast nicht, wenn jemand falsch oder ungerecht sei.

      In den Ferien war an eine Reise ans Meer nicht zu denken, zu knapp war das Geld. Fast alle Kinder der Familie Theler arbeiteten, sobald sie alt genug waren, einige Sommer in einem einfachen Berghotel auf der Almagelleralp. Während die Mädchen die Zimmer putzten und hungrigen Wanderern Mahlzeiten servierten, brachten die Buben Lebensmittel und andere Waren mit Maultieren auf die Alp. Als Jugendliche lagen die Geschwister am Abend auf den warmen Steinen und schauten zu, wie die Sonne hinter den Berggipfeln verschwand. Anschliessend spielte man ein paar Musikkassetten ab und tanzte. Manchmal fand sich unter den Gästen, zu denen stets einige Bergführer gehörten, auch einer, der Handorgel oder Mundharmonika spielen konnte. Das Geld, das die Kinder während der Ferien auf der Almagelleralp verdienten, behielten sie nicht etwa für sich. Sie gaben den Eltern den Verdienst ab, wenn der Sommer vorüber war.

      Eine Ahnung von der grossen, weiten Welt bekamen die zehn Kinder durch einen Cousin des Vaters. Er war Mönch im Kapuzinerkloster in Brig-Glis und begab sich mit einem Mitbruder auf Missionsreisen. In Tansania schlossen sich die beiden einmal einer Safari an. Fasziniert erzählt Augusta Theler von den Dia-Abenden, welche die Klosterbrüder nach ihrer Rückkehr im Haus an der Zenhäusernstrasse veranstalteten. Dafür hängte man ein weisses Leintuch an die Wand, über das alsbald Elefanten und Leoparden zu ziehen schienen. Kiloweise schleppten die zwei Mönche Dias an, und sie vermochten die Kinderschar damit zu begeistern: Die Dia-Abende waren für alle ein grosses Vergnügen, das die Familie, die finanziell nicht auf Rosen gebettet war, keinen Rappen kostete.

      Augusta Theler erinnert sich, dass die Mutter nachts, wenn die Kinder schon schliefen, oft wach blieb und nähte. Aus alten, an einzelnen Stellen abgenutzten Erwachsenenkleidern seien in diesen einsamen nächtlichen Stunden kleine Röcke oder Hosen für die Kinder entstanden. Der Vater, ein geselliger Mann, habe einen grossen Freundeskreis gehabt. «Da er handwerklich sehr begabt war, bat ihn ständig jemand, etwas zu flicken», erzählt Augusta Theler. «Manchmal brachte er mitten in der Nacht Besuch nach Hause, was aber nie ein Problem war. Weil sich das Elternschlafzimmer direkt über der Küche befand, wurde die Mutter wach und ging nach unten, um Kaffee zu kochen.» Ihre Eltern, erzählt Augusta Theler, seien ein starkes Paar gewesen; zwei Menschen, die miteinander durch dick und dünn gingen. Zu einem Arbeitskollegen, der sich einmal über die Kinderzulagen mokierte, die Vater Theler erhielt, sagte er einmal mit leiser Anspielung: «Ich habe zehn Kinder, aber mir reicht eine Frau.»

      Augusta Thelers Vater hatte bereits als Kind erfahren, was es heisst, kein Geld zu haben. Sein eigener Vater war bei der Chemiefabrik Lonza in Visp tätig gewesen, wo er einen Unfall erlitt, durch den er arbeitsunfähig wurde. Man erzählte sich, dass der Grossvater kein Geld von der Versicherung bekommen habe, sodass er sich im «Konsum» in Ausserberg verschuldet habe. Um die Familie zu ernähren, wilderte der Grossvater das ganze Jahr über. Der Wildhüter liess ihn gewähren, weil allgemein bekannt war, dass die Familie Hunger litt. Lukas Theler hatte demnach als Kind echte Armut erlebt. Umso mehr schien er es als Familienvater zu geniessen, wenn er Frau und Kinder mit seinen beschränkten Mitteln verwöhnen konnte. Den Zahltag im Zeughaus liess er sich immer auf die Hand auszahlen, erzählt Augusta Thelers Schwester Olga: «Als Erstes ging er in die Beiz und dann in die Metzgerei, wo er Sauschwänzchen, Wädli oder frisch geschnittenes Euter kaufte. Anschliessend besorgte er im Laden schwarze Schokolade, Erdnüsse und ein Pfünderli Weissbrot, eine Büchse in Tomaten eingelegte Sardellen und gedörrte Feigen. Je nachdem, wie lange sein Aufenthalt in der Beiz gedauert hatte, kamen diese Köstlichkeiten früher oder später zu Hause auf den Tisch.» Die Eltern und die Kinder versammelten sich am Küchentisch und schnabulierten, egal, ob sie die Zähne vorher schon geputzt hatten.

      Sonntags, nach der Messe, brachte der Vater jeweils zwölf Crèmeschnitten nach Hause, und das traditionelle Sonntagsmahl bestand aus zwei Poulets und Bratkartoffeln. Auch sonst wurden bei Familie Theler zu bestimmten Anlässen oder Festivitäten besondere Esswaren aufgetischt. Augusta Thelers Schwester Olga, mit Jahrgang 1957 die Drittälteste, erlebte sieben Mal, wie die Mutter schwanger war und ein Kind zur Welt brachte. Die meisten Kinder, darunter Augusta im Jahr 1965, gebar die Mutter zu Hause in Brig-Glis. «Wenn die Mutter geboren hatte, gab es immer Gschwellti mit Käse und Cervelats», erzählt Olga. Und wie erfuhren die Kinder jeweils, dass Julie Theler wieder schwanger und ein neues Geschwister unterwegs war? «Die ganze Familie versammelte sich im Schlafzimmer der Eltern. Dann wurde gebetet, damit mit dem Kind alles gut kommt. Das genügte, damit wir Bescheid wussten.» Die jüngste Schwester, Hildi, übernachtete nach ihrer Geburt aus Platzgründen im «Graben» im Ehebett der Eltern. Dass dies der Grund war, weshalb die Mutter danach kein weiteres Mal schwanger wurde, ist nur eine Vermutung. Fragt man Julie Theler nach solchen Dingen, lächelt sie verschmitzt und sagt, sie könne sich nicht erinnern.

      Zum Leben der zwölfköpfigen Familie in Brig-Glis gehörten stets auch Tiere. Da waren einerseits die Haustiere der Kinder wie Tauben, Katzen, Hamster, Meerschweinchen oder Kaninchen. Letztere wurden vom Vater regelmässig geschlachtet und kamen auf den Tisch. Anderseits sind die Thelers seit Generationen leidenschaftliche Jäger. Jedes Jahr im Herbst verwandelt sich das Häuschen der Familie heute noch ins Basislager der Jagdbegeisterten, die noch vor dem Morgengrauen losziehen. Zwei Wochen lang herrscht fast ununterbrochen, Tag und Nacht, Betrieb. In der Garage werden die erbeuteten Gämsen, Rehe oder Hirsche ausgenommen und halbiert, anschliessend lässt man sie im Erdkeller abhängen. Die Tradition wird von den Kindern und Kindeskindern fortgeführt.

      Die Wochen der Jagd fordern Augusta Theler einiges ab. Sie kocht für die Jäger, die sich nach Stunden der Pirsch hungrig und durstig an den Küchentisch setzen. Und sie betreut ihre demente Mutter, die in dieser Zeit besonders fordernd sein kann, weil sie die Jägerszenen an früher erinnern. Sie will dann anpacken, ist unruhig und sucht Beschäftigung, und hin und wieder läuft sie auch weg. Jetzt ist nicht mehr Augusta Theler das trotzige Kind. Nun ist Julie Theler die Trotzige. Dennoch empfindet es die Tochter als Privileg, ihrer Mutter im hohen Alter so nahe zu sein und diesen Weg bis zum Schluss mit ihr gehen zu dürfen. Um sie zu beruhigen, erfindet Augusta Theler Geschichten, taucht mit ihr ein in die Vergangenheit, packt sie ins Auto, fährt mit ihr nach Ausserberg und lässt die Erinnerungen an früher nochmals lebendig werden.

      Julie Theler spricht mit grosser Bewunderung von ihrer Mutter Anna Heynen. «Meine Mutter war Hebamme», wird die demente Frau nicht müde zu betonen, und sie wiederholt auch immer wieder, dass sie streng gearbeitet hatte, im Haus und auf dem Feld. Als Augusta Theler ihrer Mutter eine Radiosendung über Hebammen vorspielt, die sie auf ihren Computer geladen hat, möchte Julie Theler sich die Sendung immer und immer wieder anhören. Noch Tage später verlangt sie, ihre Mutter müsse die Sendung unbedingt auch zu hören bekommen. Die alte Frau, die doch selbst Hebamme war, sei bestimmt interessiert an dem Gesagten.

      Dem Vergessen, das die Demenz mit sich bringt, lassen sich auch positive Seiten abgewinnen. Julie Theler durchlebt noch einmal ihre Vergangenheit und scheint dabei nur das Schöne

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