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sie wurden vereidigt und erhielten eine Pension.1 Um die Ausbildung kümmerte man sich ab Mitte des 16. Jahrhunderts, aber das waren meist punktuelle Ansätze. In der Mehrheit handelte es sich bei den Hebammen um ältere Frauen, die selbst geboren hatten, oftmals Analphabetinnen waren und vor allem wegen ihrer Erfahrung bei Geburten halfen. Eine stetige Professionalisierung setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Nun rekrutierte man jüngere Frauen, die lesen und schreiben konnten, und in den meisten Kantonen wurden dreimonatige Kurse angeboten, die Ende des 19. Jahrhunderts auf neun bis zwölf Monate verlängert wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es ein halbes Dutzend Hebammenschulen in der Schweiz, und auch anschliessend entwickelte sich das Hebammenwesen laufend weiter.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Spitalgeburten zu dominieren, und eine immer stärkere Bedeutung der Ärzte machte die Hebamme mehr und mehr zur untergeordneten Hilfskraft. Die Weiterentwicklung des Hebammenberufs führt mit der Akademisierung in der ganzen Schweiz seit 2008 bis in die Gegenwart: Heute braucht es eine Matura für den Abschluss Bachelor of Science Hebamme an einer der vier Fachhochschulen in Genf, Bern, Lausanne oder Winterthur. Die Ausbildung steht selbstverständlich auch Männern offen. Da ist es nur folgerichtig, dass es in der Schweiz mittlerweile auch ein paar wenige männliche Hebammen gibt.

      Ist Gebären immer noch die natürlichste Sache der Welt, wenn 2015 in der Schweiz fast 98 Prozent der Babys in einem Spital zur Welt kamen und ein Drittel davon per Kaiserschnitt? Ein Kind zu bekommen, ist heute in unserem Land ein von viel moderner Technik begleiteter Prozess, in dem kaum mehr etwas dem Zufall überlassen und kein Risiko eingegangen wird; weitgehend sicher für Mutter und Kind. Doch es gibt viele Ecken dieser Welt, in denen Kinder unter anderen Umständen geboren werden. Geburten ohne Ultraschalluntersuchungen, ohne Anästhesien und unter prekären sozialen und hygienischen Bedingungen.

      Angesichts des medizinischen Fortschritts geht leicht vergessen, dass auch in der ländlichen Schweiz vor noch nicht allzu langer Zeit vorwiegend zu Hause und nicht im Spital geboren wurde, es keine Verhütungsmittel gab, Frauen zehn und mehr Kinder gebaren, die Gefahr bestand, im Kindbett zu sterben, und Kaiserschnitte nur im äussersten Notfall und ohne Narkose durchgeführt wurden. Eine andere Welt, eine andere Zeit – und sie ist gerade mal gut 100 Jahre her.

      Hebamme Augusta Theler, von der das Buch handelt, sind diese Unterschiede sehr bewusst. Einerseits, weil ihre Grossmutter mütterlicherseits, Anna Heynen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hebamme im Walliser Dorf Ausserberg war; und anderseits, weil sie neben ihrer wohlgeordneten Arbeit im Spital Thun, wo sie umgeben ist von moderner Technik, genügend Medikamenten und einem qualifizierten Team, Notfalleinsätze in Krisengebieten im Ausland leistet. So erlebt sie, wie in Kamerun ein Zwilling bei über 40 Grad Celsius Hitze wenige Tage nach der Geburt wegen mangelnder Flüssigkeitsversorgung stirbt, und dann, in Thun, wie ein Kind bei gedämpftem Licht in komfortabler Umgebung im warmen Wasser geboren wird.

      Die Spanne zwischen den Welten, in denen sich Augusta Theler bewegt, ist gross. Die Verarbeitung des im Ausland Erlebten fällt nicht immer leicht, aber sie nimmt von ihren Einsätzen vieles mit. Sie lernt dazu und ist sich der schnellen medizinischen Entwicklung seit der Zeit, als ihre Grossmutter Hebamme war, bewusst. In diesem Spannungsfeld zwischen moderner Geburtshilfe in der Schweiz, Einsätzen in den Krisenregionen der Welt und dem Blick in die Vergangenheit bewegt sich die folgende Geschichte.

Augusta Thelers Spitalalltag

      Im Spital Thun kommen durchschnittlich drei Kinder pro Tag zur Welt; 2016 zählte man über 1000 Neugeborene. Und obschon sich die Geburtshilfe in den letzten 100 Jahren stark entwickelt hat, kann man nicht wissen, wie jede einzelne Geburt ausgeht. Jede Schwangerschaft und jede Geburt verläuft in jener geheimnisvollen Sphäre zwischen Leben und Tod, die als zauberhaft in Erinnerung bleibt, wenn alles gut gegangen ist. Umso schlimmer ist es, wenn sich Lebensträume zerschlagen, wenn Schmerzen und Enttäuschungen verkraftet werden müssen, wenn Glück zerrinnt. Augusta Theler weiss, dass Schwangerschaften und Geburten mit vielen Unwägbarkeiten verbunden sind – auch in unserer Zeit und in unseren Breitengraden, wo die Medizin so viele Möglichkeiten bietet wie nie zuvor und wo durch intensive Forschung laufend Fortschritte gemacht werden. Dennoch wird die Tätigkeit der Hebamme nie zur Routine. Nie verläuft eine Geburt genau gleich wie eine andere, denn nicht der Mensch, sondern die Natur gibt den Takt an. Augusta Theler sagt, dieses Bewusstsein rufe bei ihr auch nach vielen Jahren der Erfahrung eine gewisse Anspannung hervor. Jedes Mal begibt sie sich in eine Situation, in der sie nicht weiss, was auf sie zukommt und was passieren wird.

      Der Himmel ist an diesem Tag mit Wolken verhangen, während sie ihr Auto auf der Autobahn nach Thun steuert, wo sie am Nachmittag die Spätschicht antreten wird. Bald wird es im Unterland zu regnen beginnen. Die Hebamme ist, bedingt durch ihre Familiensituation und ihren Beruf, viel unterwegs. Sie lebt mit ihrem Partner, einem Arzt, in der Stadt Bern, arbeitet im Spital Thun und pendelt wöchentlich ins Wallis. Dort pflegt sie im Turnus mit ihren Geschwistern ihre demente Mutter. An das viele Herumreisen hat sie sich gewöhnt, zumal sie mitunter grössere, schwierigere Reisen unternimmt. In den vergangenen Jahren hat sie, unter anderem für das Schweizerische Rote Kreuz, mehrere Hilfseinsätze bei Katastrophen geleistet. So reiste sie nach dem schweren Erdbeben 2010 nach Haiti und im Jahr 2015 zwei Mal nach Nepal. Während diesen Einsätzen hat sie gelernt, unter prekärsten Umständen, oft nur in einem eiligst aufgestellten Zelt, Geburten zu leiten und medizinische Notfälle zu bewältigen.

      Jetzt, an diesem Nachmittag, daheim in der Schweiz, empfindet sie die Parkplatzsuche vor Schichtbeginn als grössten Stress. Die Autos stehen kreuz und quer auf dem Trottoir der Zufahrtsstrasse zum Spital. Da in der Nähe gerade einige Baustellen sind, ist das Parkplatzangebot knapper als sonst. Mit Glück gelingt es der Hebamme, eine Lücke zu finden. Sie steigt aus, nimmt ihre Tasche vom Rücksitz und eilt schnellen Schrittes in Richtung Frauenklinik, die sich in einem grauen Betongebäude befindet. Augusta Theler hat Jahrgang 1965. Sie bewegt sich flink, ist von schlanker Gestalt und strahlt neben einer jugendlichen, zupackenden Stärke auch Empfindsamkeit aus, einen Sinn für die Fragilität des Lebens. Sie nimmt die Hühnerleiter, wie sie sie nennt, die Feuertreppe, die zum Hintereingang führt, und gelangt durch einen menschenleeren Arbeitsraum in die Gebärabteilung. Im Stationszimmer begrüsst sie gutgelaunt drei Kolleginnen, die auf der einen Seite des Raums am Computer arbeiten. In der Mitte befindet sich ein grosser Tisch, auf dem ein Teller mit Salat und Besteck liegt. Es sieht aus, als wäre jemand während des Essens weggerufen worden. Für den Spätdienst, der um 15 Uhr beginnt, sind an diesem Tag drei Hebammen und eine Praktikantin eingeteilt. Noch haben sie keine Ahnung, was sie während dieser Schicht erwartet, die bis in die Nacht hinein dauert. Augusta Theler verlässt kurz den Raum, um sich für die Arbeit umzuziehen. Minuten später ist sie zurück, in schwarzen Hosen und mit grünem Oberteil. An den Füssen trägt sie Schnürsandalen, mit denen sie in den folgenden Stunden in den langen Gängen der Klinik einige Kilometer zurücklegen wird.

      Um Punkt 15 Uhr sitzen die Hebammen der Früh- und der Spätschicht rund um den Tisch in der Mitte des Stationszimmers: Übergabe der Patientinnenakten. In Nummer 2 von insgesamt vier Gebärzimmern liegt eine 23-jährige Frau. «Primäre Sectio, Beckenendlage», ein geplanter Kaiserschnitt, wie eine Kollegin von Augusta Theler berichtet, die etliche Papiere vor sich liegen hat. Die Patientin hat um 12.30 Uhr ihr zweites Kind geboren. Für den Kaiserschnitt hat man sich entschieden, da das Mädchen mit dem Kopf nach oben im Mutterleib lag. In der Regel dreht sich das Baby während der Schwangerschaft, sodass der Kopf nach unten zu liegen kommt. Tut es das nicht, spricht man von einer Beckenend- oder Steisslage. Nach der Operation hat man die Frau auf die Gebärabteilung gebracht, wo sie nun ein paar Stunden bleibt, bevor sie auf die Wochenbettstation verlegt wird. «Alles ist gut gegangen», erklärt die Hebamme der Frühschicht. Nach der Operation sei kaum eine Blutung feststellbar gewesen. Allerdings sei der Blutdruck der Patientin während der Operation vorübergehend recht stark gesunken, worauf man ihr ein Medikament verabreicht habe. «Sie ist immer noch weiss im Gesicht und sieht nicht gut aus, aber sie fühlt sich nicht schlecht», schliesst die Hebamme ihre Ausführungen, nicht ohne zu erwähnen, dass das Baby «super ausgestiegen» sei. «Es wollte schon im Operationssaal an die Brust.»

      Im Spital Thun befinden sich die Geburts- und die Wochenbettabteilung

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