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Vorgeschichten verbunden sind. Nicht bei allen Paaren klappt es sofort mit dem Kinderkriegen. Manche haben einen Leidensweg voller Bangen und Hoffen hinter sich, bis die Frau endlich schwanger ist. Nicht selten haben die Paare viel Zeit und Energie, manchmal auch viel Geld investiert, bis die Schwangerschaft geglückt ist, etwa durch eine künstliche Befruchtung. «Dann lastet ein doppelter, meist unausgesprochener Druck auf uns Hebammen, dass alles gut geht.»

      Die Ansprüche und Erwartungen der werdenden Eltern würden immer grösser, sagt Augusta Theler. «Durch die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik wiegen sich viele Leute in Sicherheit. Die instinktive, natürliche Beziehung mancher Frauen zum werdenden Leben ist damit gestört worden. Bluttests, Chromosomenuntersuchungen und Baby Watching dank Ultraschall vermitteln das Gefühl, jederzeit alles unter Kontrolle zu haben. Doch die absolute Sicherheit gibt es nicht.» Auch romantisch verklärte Vorstellungen von einer sanften Geburt bei Kerzenlicht seien verbreitet, stellt sie fest. «Gebären ist aber ein natürlicher Prozess, der nicht immer nach Plan abläuft. Wenn die Geburt beispielsweise nicht voranschreitet und es dem Kind zunehmend schlechter geht, muss man etwas unternehmen, um den Verlauf zu beschleunigen.» Unter Umständen wird der Arzt mit der Saugglocke oder der Zange nachhelfen, oder es wird ein Notfallkaiserschnitt durchgeführt – nicht das, was sich die Frauen wünschen. «Man darf nicht vergessen, dass die meisten Geburten normal und ohne Komplikationen verlaufen», sagt Augusta Theler. «Hier in der Schweiz bin ich als Spitalhebamme trotzdem froh um die Diagnose- und Operationsmöglichkeiten, die für den Notfall vorhanden sind.»

      Ein Notfall mit einem Kampf um Leben und Tod geht ihr noch heute unter die Haut. «Es war 6 Uhr morgens, gegen Ende der Nachtschicht, und es war wenig los im Spital», erinnert sie sich. «Meine Kollegin wollte mich schon heimschicken. Sie meinte, sie käme gut allein zurecht. Ich bestand darauf, bis zur Ablösung zu bleiben, und zog mich ins Stillzimmer zurück, um ein wenig zu schlafen. Ich lag noch nicht lange auf der Couch, da kam die Meldung aus dem Notfall, sie würden eine schwangere Frau zu uns hinaufbegleiten. Die Frau war mit ihrem Mann im Privatauto zum Spital gefahren. Sie konnte nicht selbst aus dem Auto steigen, so schlecht war ihr Allgemeinzustand. Vom Notfall brachte man sie mit der Bahre auf die Gebärabteilung: ein schlechtes Zeichen.

      Ich erschrak. Die Frau war fahl im Gesicht und fast nicht mehr ansprechbar. Ich legte ihr die Hand auf den Bauch, um die Spannung der Gebärmutter oder Wehen zu spüren. In diesem Augenblick merkte ich, dass die Bauchdecke weich war wie ein Schwamm. Schlagartig wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Ich rief nach der Ärztin und meiner Kollegin. Die Patientin wurde immer fahler und grauer, sie war fast bewusstlos. Ihr Puls war sehr hoch, der Blutdruck sehr tief, alles Anzeichen für einen Schock. Die Herztöne des Kinds waren schwach. Wir brachten die Frau sofort nach unten in den Operationssaal. Notfallsectio. Ich machte mir grosse Sorgen um die Mutter und das Kind. Die beiden Leben hingen an einem seidenen Faden. Es ging alles so schnell, ich hatte nicht einmal Zeit, um dem Mann die Dramatik der Situation zu erklären. Die Gebärmutter war gerissen – eine seltene, lebensgefährliche Komplikation: Der Bauchraum füllt sich mit Blut und Fruchtwasser, und die Versorgung des Kinds wird unterbrochen. Schliesslich überlebte die Frau die Operation, doch für den Säugling kam die Hilfe zu spät. Wir haben noch versucht, das Kind zu reanimieren, konnten es jedoch nicht zurückholen.

      Ich musste dem Mann, zusammen mit dem Arzt, die traurige Nachricht überbringen. Tragödien wie diese machen mich sprachlos, es tat mir so weh, dass das Kind gegangen war. Ich konnte meine Ohnmacht und meine Fassungslosigkeit nicht verbergen. In diesen Momenten trauern wir mit den Eltern mit. Aber ich war auch erleichtert, dass die junge Frau überlebt hatte. Sie hatte eine grössere Tochter zu Hause. Diese Geschichte war für mich sehr prägend. Ich bin froh, mich auf mein Gefühl verlassen zu haben; zum Glück war ich nicht nach Hause gegangen und hatte meine Kollegin nicht allein gelassen.» Augusta Thelers Stimme wird brüchig, wenn sie davon erzählt. «Das kennt man ja heute in unseren Breitengraden kaum mehr, extreme Sachen wie einen Gebärmutterriss, der für die Schwangere tödlich ausgehen kann.»

      Der Notfall im Spital brachte die Hebamme vollkommen aus der Fassung. Sie haderte mit sich und mit dem Unglück. Die Walliserin sieht sich als starke Person, doch sie sagt, in manchen Situationen wirke sie stärker, als sie sei.

      Sie lache gern, sei temperamentvoll, fröhlich und gesellig. Aber sie sei auch ein emotionaler Mensch, manchmal dünnhäutig, mit einer nachdenklichen Seite.

Eine Grossfamilie im Wallis

      Zwei Frauen spielen in Augusta Thelers Leben eine wichtige Rolle: ihre Mutter Julie Theler und ihre Grossmutter Anna Heynen, geboren 1895 als Anna Schmid. Anna Heynen war lange Jahre die Dorfhebamme von Ausserberg im Kanton Wallis gewesen. Bei Wind und Wetter eilte sie in ihren Kleidern, die an eine Tracht erinnerten, und nur mit ledernen Halbschuhen an den Füssen zu Frauen, die in den Wehen lagen und auf ihre Hilfe warteten. Strassen und Autos wie heute gab es damals noch nicht. So marschierte Anna Heynen mit ihrem Hebammenkoffer viele Kilometer allein durch die dunkle Nacht. Die Entbehrungen, welche die Grossmutter auf sich nahm, und die Kraft, die sie in die Ausübung ihres Berufs steckte, müssen immens gewesen sein. Als Hebamme ist die Grossmutter, die 1981 gestorben ist, für Augusta Theler ein grosses Vorbild geworden – davon später mehr.

      Zu ihrer Mutter Julie Theler pflegt Augusta Theler eine enge Beziehung. Der Vater, Lukas Theler, ist 2008 gestorben. Julie Theler hat Jahrgang 1926 und lebt in ihrem eigenen Universum. Sie ist dement, doch lichte Augenblicke, in denen sie ganz in der Gegenwart ist und sich mit einer starken Präsenz am Gespräch beteiligt, sind nicht etwa rar. Immer wieder, manchmal ganz unerwartet, blitzt der Schalk aus ihren Augen, die voller Licht und Lebensfreude sind.

      Julie Theler lebt im Briger Stadtteil Glis im Haus, das sie 1958 mit ihrem Mann gekauft hatte und in das sie damals mit den ältesten drei Kindern gezogen waren. Sieben weitere Kinder sollten folgen. Lukas Theler hatte eine neue Anstellung als Schlosser und Schmied im Zeughaus von Brig-Glis gefunden. Im Zeughaus reparierte er Werkzeug fürs Militär. Für den Kauf des bescheidenen Häuschens an der Zenhäusernstrasse mussten sich Augusta Thelers Eltern in Schulden stürzen. Viel Geld, um zu sparen, war nicht vorhanden, und je grösser die Familie wurde, desto schmaler wurde das Haushaltsbudget. Vor dem Umzug nach Brig-Glis hatten Julie und Lukas Theler ihr Heimatdorf Ausserberg nie für längere Zeit verlassen.

      Augusta Theler und ihre neun Geschwister sind also in diesem kleinen, in die Jahre gekommenen Einfamilienhaus aufgewachsen; in dem Haus mit dem Giebeldach und der Rampe zur Garage, mit dem Weg durch den Vorgarten und der Treppe, die hinauf zum Eingang führt. Das Häuschen wirkt in dem bis auf den letzten Meter überbauten Quartier wie eine Insel in einem Meer von wahr gewordenen Architektenträumen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Lässt man den Blick in die Ferne schweifen, sieht man hohe Berge mit ewigem Schnee, die sich steil in den blauen Himmel erheben. Der Garten von Familie Theler ist ein romantisches Plätzchen, und er ist perfekt gepflegt. Da und dort spriessen ein paar Blumen, und man sieht, dass die kleine Grasfläche regelmässig geschnitten wird.

      In der Küche stehen eine massive Eckbank aus Holz und ein paar Stühle um den Esstisch. Allerdings sass früher nicht oft die ganze zwölfköpfige Familie am Tisch. Es seien selten alle zehn Kinder gleichzeitig zu Hause gewesen, erklärt Augusta Theler. Kari, der älteste Sohn mit Jahrgang 1954, war bereits 15 Jahre alt, als 1969 die Jüngste, Hildi, zur Welt kam. Wenn trotzdem einmal alle da waren und es eng wurde, verbannte man Nesthäkchen Hildi vom Tisch. Augusta Theler erzählt, wie die Mutter den Küchenschrank mit dem Pfannenauszug öffnete und die Kochtöpfe neben den Kochherd räumte. Hildis Teller stellte sie auf den Schubladenauszug und platzierte einen Stuhl davor, sodass das Mädchen seine Suppe dort auslöffeln konnte. Beschwert habe sich die kleinste Schwester nie.

      «Meine Mutter war eine Weltmeisterin im Improvisieren», erinnert sich Augusta Theler. Die Eltern mussten die Schulden vom Hauskauf abzahlen, sodass Julie Theler auch am Essen sparte. Fleisch gab es in der Familie immer, weil die Männer auf die Jagd gingen. Die grosse Tiefkühltruhe steht jetzt noch in der Garage. Zudem bewirtschaftete Julie Theler zwei Gärten: einen hinter dem Haus an der Zenhäusernstrasse, einen zweiten weiter unten in der Ortschaft, eine Viertelstunde Fussmarsch

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