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vorwiegend Pflegefachfrauen. In hektischen Zeiten mit vielen gleichzeitigen Geburten hilft man sich gegenseitig aus. Schon bald ins Wochenbett verlegt wird an diesem Nachmittag eine 24-jährige Frau. «Sie ist gestern mit vorzeitigem Blasensprung eingetreten», erklärt eine zweite Hebamme der Frühschicht. Ist die Fruchtblase geplatzt, ist dies in der Regel ein Anzeichen, dass die Geburt bevorsteht. Die Schwangere habe zunächst nur schwache Wehen gehabt, erzählt die Hebamme weiter. Nach dem Wechsel in die Badewanne seien sie plötzlich stärker geworden, und kurze Zeit später sei das Kind, ein Bub, zur Welt gekommen. «Er macht es gut, hatte allerdings Stress bei der Geburt.» Dies habe die Kardiotokografie (CTG) gezeigt, die gleichzeitige Aufzeichnung der Herztöne des Kinds und der Wehentätigkeit der Mutter. Die beiden Fälle werden unter den Hebammen der Spätschicht aufgeteilt: «Ich übernehme gern die Frau nach der Sectio», sagt Augusta Theler. Nach der Übergabe verabschieden sich die Kolleginnen des Frühdiensts.

      Augusta Theler geht durch den breiten Korridor vom Stationszimmer ins Gebärzimmer 2. Sie gratuliert der frischgebackenen Mutter, die im Bett liegt, zur Geburt. Die Frau, die aus Albanien stammt, lächelt zwar, scheint aber kaum ein Wort zu verstehen. Die Hebamme beginnt, mit den Händen zu sprechen. Auf ihre Fragen bekommt sie zur Antwort ein Lächeln. Der Blutdruck der Patientin hat sich inzwischen stabilisiert. Augusta Theler hebt die Decke und das Nachthemd der Frau etwas an. Sie tastet am Bauch die Gebärmutter ab, um zu prüfen, ob sie sich nach der Geburt gut zusammengezogen hat und eine schöne Kugel bildet. Dann wirft sie einen Blick auf die Naht des Kaiserschnitts, die von Klammern zusammengehalten wird, und auf die Binde. Es blutet nur wenig. Sie kontrolliert die Urinausscheidung durch den Katheter.

      Das Baby, das seit gut drei Stunden auf der Welt ist, schläft in seinem Bettchen. Behutsam hebt die Hebamme das Kind, das in ein weisses Frotteetuch eingewickelt ist, in die Höhe und legt es auf die Waage. 2,9 Kilogramm. Dann bettet sie das Baby auf eine Wickelunterlage, über der eine Heizlampe Wärme spendet. Vorsichtig platziert sie ein Thermometer unter dem Arm des Babys, dann misst sie mit einem Messband den Kopfumfang und die Länge des Neugeborenen, streicht über die Fontanellen, prüft mit ein paar geübten Handgriffen die Reflexe. Die Ergebnisse der Untersuchungen notiert sie auf einem Blatt.

      Inzwischen ist der Vater, der Deutsch spricht, ins Zimmer getreten. Augusta Theler streift sich Handschuhe über und nimmt eine sterile Schere aus der Verpackung. Nachdem sie die Nabelschnur des Neugeborenen desinfiziert und gekürzt hat, setzt sie die Lesebrille auf und begutachtet das abgeschnittene Stück, das sie in der Hand hält. Drei Gefässe führen durch die Nabelschnur, die im Mutterleib über die Plazenta die Versorgung des Babys gewährleistet. Die Hebamme fragt den Vater, ob er erfahren möchte, wie sich das Durchschneiden der Nabelschnur anfühlt. Während dies die Männer bei Spontangeburten häufig im Gebärsaal übernehmen dürfen, durchtrennt bei einem Kaiserschnitt der Arzt oder die Ärztin die Nabelschnur.

      Der junge Vater greift etwas unsicher nach der Schere und schneidet unter Anleitung der Hebamme einmal durch das vorher abgetrennte Stück. Ganz wohl scheint es ihm dabei nicht zu sein. Augusta Theler zieht dem Baby eine Windel für Neugeborene an, greift in den Wärmeschrank unter dem Wickeltisch und entnimmt ihm einen himbeerroten Body sowie einen winzigen, grünen Schlafanzug. Rosarote Finken und eine signalrote Strickmütze ergänzen die Ausstattung. Sie nimmt ein frisches Frotteetuch aus dem Wärmeschrank, wickelt das Baby wie ein Päckchen darin ein und übergibt es der Mutter. Bevor Augusta Theler das Zimmer verlässt, fragt sie die Frau, ob sie Schmerzen habe. Der Kaiserschnitt wurde unter Teilnarkose durchgeführt; die untere Körperhälfte war vollständig betäubt.

      In einem der Arbeitsräume in der Geburtenabteilung steht den Hebammen ein Schrank mit Medikamenten zur Verfügung, der durch ein elektronisches Schliesssystem gesichert ist. Er lässt sich nur mit einem Badge öffnen. Gewisse Medikamente dürfen die Hebammen von sich aus verabreichen, für andere braucht es die Verordnung einer Ärztin oder eines Arztes. Während sieben Tagen die Woche ist im Spital Thun rund um die Uhr stets mindestens eine Assistenzärztin oder ein Assistenzarzt der Gynäkologie im Dienst. Die Hebammen arbeiten als Team eng mit den Ärzten zusammen. Augusta Theler entnimmt dem Schrank jetzt eine Schmerztablette, die sie der Patientin später vorbeibringen wird. Sie wendet im Spital Thun aber auch Alternativen zur Schulmedizin an, etwa Akupunktur. Im Korridor vor den Gebärsälen finden sich zwei Schränkchen mit homöopathischen Globuli und ätherischen Ölen. In Absprache mit den Patientinnen wird entschieden, welche Methoden gewählt werden. «Essenzen mit Zimt oder Eisenkraut, die am Bauch eingerieben werden, können die Wehen anregen. Dieselbe Wirkung hat Wehentee mit Ingwer, Eisenkraut, Nelke, Zimt oder Himbeerblättern», sagt Augusta Theler. «Häufig empfehlen wir den Frauen aber auch einfach, eine Weile Treppen zu steigen oder spazieren zu gehen, wenn es mit der Geburt nicht vorwärtsgeht.»

      Seit Beginn der Spätschicht sind etwas mehr als zwei Stunden vergangen. In einem Schulungsraum des Spitals ist gerade eine Weiterbildung im Gang. Geübt wird das Nähen von Dammrissen. Ein Dammriss entsteht, wenn das Gewebe zwischen Scheide und Darmausgang bei einer Spontangeburt so fest gedehnt wird, dass es reisst. Zwar sind die Gynäkologen für das Nähen von Dammrissen und -schnitten zuständig, doch die Hebammen sind ebenfalls an die Schulung eingeladen. Als Augusta Theler mit ein paar Minuten Verspätung im Schulungsraum eintrifft, sitzen bereits ein Dutzend Ärztinnen und Ärzte an den Tischen und rüsten sich mit Gummihandschuhen aus. Vor sich haben sie eine beschichtete weisse Unterlage und ein grosses, rosarotes Stück Schweinefleisch, das von Fett und einer dicken Hautschicht überzogen ist. Daran soll das Nähen geübt werden. Noch bevor es richtig losgeht, meldet sich Augusta Thelers Piepser. Sie eilt aus dem Raum. Eine Schwangere mit Blasensprung hat sich telefonisch in der Gebärabteilung angemeldet. Sie erwartet ihr drittes Kind. Die Frau verspürt bereits erste Wehen, die in einem Rhythmus von ungefähr 15 Minuten auftreten. Allerdings wohnt sie im Simmental – nicht gerade um die Ecke. Sie muss zuerst ihren Mann informieren und die zwei grösseren Kinder bei der Grossmutter unterbringen, bevor sie losfahren kann. Das bedeutet, dass schätzungsweise eineinhalb Stunden vergehen werden, bis sie im Spital Thun eintreffen wird.

      Augusta Theler wirkt plötzlich angespannt. Ihre sonst weichen Gesichtszüge werden härter, ihre Augen scheinen dunkler und konzentrierter, und ihr Gang ist spürbar schneller. Bereits am Telefon hatte die Schwangere aus dem Simmental den Wunsch geäussert, die Badewanne im Gebärsaal benutzen zu dürfen. Sie hofft, dadurch die erwarteten Schmerzen besser zu ertragen. Die Frau weiss, wovon sie spricht, schliesslich ist sie nicht zum ersten Mal schwanger. Augusta Thelers Hebammenkollegin lässt in Gebärzimmer 1 zusammen mit der Praktikantin schon einmal das Wasser in die grosse, runde Wanne einfliessen und bereitet Tücher und sterile Instrumente vor. In der Zwischenzeit richtet Augusta Theler im Stationszimmer den Tisch fürs Abendessen her, das aus der Spitalküche angeliefert wird. Die kalte Mahlzeit wird in aller Eile im Kreis der Kolleginnen eingenommen.

      Nach dem Abendessen nimmt Augusta Theler einen Augenschein im Gebärsaal, wo alles bereit ist für die Frau aus dem Simmental, die sich auf dem Weg ins Krankenhaus befindet. Die Badewanne ist für die Wassergeburt gefüllt. Grundsätzlich sind ganz viele Gebärhaltungen möglich; im Sitzen, im Liegen, im Stehen, auf allen Vieren. In den Gebärsälen im Spital Thun stehen Hilfsmittel wie grosse Gummibälle oder dicke, verknotete Tücher zur Verfügung, die an der Decke befestigt sind und an denen sich die Schwangere festhalten kann. «Wenn ich unser Gebärzimmer 1 betrete, erinnere ich mich immer an eine bestimmte Patientin», sagt Augusta Theler, während sie sich in dem Raum mit dem gedämpften Licht umsieht. Die Frau hatte einen Spätabort erlitten. Man wusste, dass das Kind im Mutterleib tot war. «Die Frau wünschte sich, das Kind im Wasser zu gebären», erzählt die Hebamme. «Die zuständige Assistenzärztin war zuerst nicht einverstanden. Sie argumentierte, es könnte Komplikationen geben, und wollte darum eine Geburt im Spitalbett durchsetzen. Mir war wichtig, den Wunsch der Frau zu erfüllen, die mit einem tragischen Verlust fertigwerden musste.» Die junge Schwangere brachte das tote Baby schliesslich im Wasser zur Welt. «Sie brauchte keine PDA, also keine Periduralanästhesie, mit der die Schmerzen während der Geburt gelindert werden können», erinnert sich Augusta Theler. «Die Frau half aktiv mit. Sie wollte bewusst spüren, wie das Kind geboren wird.»

      Eine Totgeburt ist für eine Frau traumatisch. «Der seelische Schmerz ist sehr gross», sagt die Hebamme. «Für die betroffene Frau ist es ganz schwierig, diesen Weg zu gehen. Meine Aufgabe

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