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so großen Komplexität heraus entsteht, dass wir immer nur einen Bruchteil davon kennen?

      Es gleicht dem Versuch, das Fallen der Blätter im Herbst zu kontrollieren. So wie wir nicht vorhersagen können, woher und wie stark der Wind weht und welche Blätter schon locker genug sind, um abzufallen, genauso vielfältig und unbekannt sind die Faktoren in unserem Geist, die dazu führen, dass innere Vorgänge wie Gedanken oder Empfindungen ausgelöst werden.

      Achtsamkeit kann hier bestenfalls bedeuten, sich dieser inneren Vorgänge bewusst zu sein, aber nicht, sie zu kontrollieren. Und selbst diese Form der Bewusstheit muss angesichts der Komplexität der Geschehnisse in unserem Geist immer Stückwerk bleiben. Eine umfassende Achtsamkeit, die sich der Komplexität der Dinge zur Gänze bewusst ist, bleibt genauso ein Wunschgedanke wie die Idee der Kontrolle.

      Das ist jedoch kein Problem und keine Katastrophe, wie unser Ego uns vielleicht suggeriert. Die Illusion von Kontrolle aufzudecken ist vielmehr ein Ziel der unmittelbaren Betrachtung der Dinge und führt uns mit der Zeit in eine tiefe Demut hinein. Wir erkennen, dass wir letztlich nichts im Griff haben und nicht wir die Dinge hervorbringen, sondern das schöpferische Leben selbst.

       • Welche Kontrollvorstellungen schleichen sich immer wieder in deine Meditationspraxis ein?

       • Wie kannst du bemerken, wenn der Versuch von Kontrolle deine Praxis unterschwellig bestimmt?

       • Erinnere dich zu Beginn der Meditation, dass Gewahrsein nur „die Dinge bemerken“ bedeutet und keine Vorliebe hat, was geschehen soll.

       • Beobachte unmittelbar in der Meditation, wie alles (Atmen, Spüren, Denken …) von selbst geschieht.

12 Sich an das Gewahrsein erinnern

      In der Meditation geht es immer wieder darum, sich an das Gewahrsein zu erinnern. Gewahrsein ist die grundlegende Fähigkeit des Geistes, sich bewusst zu sein. Ohne das Gewahrsein gibt es keine Wahrnehmung, keinen bewussten Gedanken, keine Gefühle und Empfindungen. Erst mit der Fähigkeit des Gewahrseins tritt die Welt in Erscheinung.

      Auch die Meditation und das Gegenwärtigsein sind ohne die Fähigkeit des Gewahrseins undenkbar. Wie könnten wir das Atmen oder das Hören beobachten ohne Gewahrsein? Wie könnten wir uns der Gedanken bewusst werden ohne Gewahrsein? Jede innere oder äußere Erscheinung kann nur im Spiegel des Gewahrseins erfahren werden.

      Obwohl das Gewahrsein absolut grundlegend für unser Sein und unsere Meditation ist, bleibt das Gewahrsein selbst häufig unbewusst. Der Fokus unserer Aufmerksamkeit ist zu sehr auf die vielfältigen Erscheinungen in unserem Geist gerichtet, als dass wir das allgegenwärtige Gewahrsein bewusst erkennen würden. Wir schauen auf die wechselnden Dinge, die sich auf dem Spiegel des Gewahrseins abspielen und vergessen dabei den unbedingten Raum des Spiegels selbst.

      Meditation heißt, sich immer wieder an den offenen und unbedingten Spiegel des Gewahrseins zu erinnern. Jede konkrete Erfahrung, ob angenehm oder unangenehm, ist zu jeder Zeit Teil des Gewahrseins. Daher können wir uns in jeder konkreten Erfahrung an das Gewahrsein erinnern. Im Buddhismus heißt es: „Jede Erfahrung ist gut genug, um vollständig aufzuwachen.“ Aufwachen bedeutet hier, sich der Realität des Gewahrseins bewusst zu werden und nicht sich im ewigen Auf und Ab der normalen Erfahrungen zu verlieren.

      Was ändert sich, wenn wir uns des Gewahrseins bewusst sind? Ändern sich unsere Gedanken, unsere Empfindungen oder Wahrnehmungen? Ändern sich unsere äußeren Verantwortlichkeiten und Schwierigkeiten im Leben? Nichts von alledem geschieht. Alle inneren und äußeren Vorgänge geschehen weiterhin, aber wir werden innerlich gelassener dabei. Wir erkennen in aller Bewegtheit des Geistes die grundlegende Offenheit und unbedingte Freiheit, die wir im Innersten sind.

      Ein Spiegel gibt allen Spiegelungen bedingungslos Raum … er greift nicht ein. In seiner Offenheit und Unbedingtheit verkörpert er eine absolute Stille. Genauso können wir in eine offene Weite und in unbedingte Stille eintauchen, wenn wir uns an das offene Gewahrsein erinnern. Nichts muss anders sein, als es ist. Alle inneren und äußeren Vorgänge können weiter in ihrer natürlichen Bewegung ablaufen. Und doch ist es jederzeit möglich, einen Raum der Freiheit und der Stille zu betreten. Er wartet immer auf uns. Wir brauchen uns nur an ihn zu erinnern.

       • Stell dir einen stillen See vor, in dem sich die ganze Welt und der ganze Himmel spiegeln. Dann wechsle die Perspektive und erfahre dich selbst als spiegelnder See. Wie erfährst du dich dabei?

       • Nimm die gegenwärtige Erfahrung wahr (z. B. Atmen, Hören …) und erinnere dich dann bewusst an das Gewahrsein, das diese Erfahrung widerspiegelt.

       • Wechsle bewusst immer wieder den Fokus der Aufmerksamkeit: Schau einmal auf den Vordergrund der gegenwärtigen Erfahrung und dann wieder auf den Hintergrund des Gewahrseins.

      13 Lauschen als Instrument

      Um uns auf das Gewahrsein einzustimmen, steht uns noch ein anderes Instrument zur Verfügung: das Lauschen. Lauschen ist ein unmittelbares und ungerichtetes Aufmerksamsein, das die Kraft hat, uns mit dem Gewahrsein in Einklang zu bringen.

      Wenn wir zum Beispiel einer Musik lauschen, die wir lieben, haben wir eine besonders sensitive, wache Aufmerksamkeit. Wir sind dann ganz präsent im Zuhören. Gegenwärtigsein, Konzentration, Interesse und wirkliches In-Verbindung-Sein mit der Musik, also alle Qualitäten, die wir in der Praxis der Meditation nähren wollen, entfalten sich hier auf eine sehr natürliche, mühelose Weise.

      Die Kraft des Lauschens erfahren wir im unvoreingenommenen Zuhören. Dieses Zuhören ist ein Vorgang, bei dem wir uns für das öffnen, was der andere uns mitteilen will. Ohne Offenheit können wir nicht zuhören. Wir hören dann nur unsere eigenen Gedanken und Meinungen. Dabei ist Lauschen noch mehr als Zuhören. Lauschen ist ein Zuhören mit einer hohen Sensitivität und mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Wenn wir einer Musik oder einer Erzählung lauschen, dann bekommen wir auch die feinsten Nuancen mit.

      Den Unterschied zwischen Hören und Lauschen kennen wir alle: Wie erleben wir es, wenn wir den Regentropfen zuhören und wie, wenn wir ihnen lauschen? Wie erfahren wir es, wenn wir jemandem zuhören, und wie, wenn wir seinen oder ihren Worten lauschen?

      Beim Lauschen entsteht eine Intensität im augenblicklichen Erleben, ein waches Lebendigsein. Unsere Selbstgespräche schweigen und wir sind unabgelenkt und ganz offen. Wir werden zu einem Gefäß, zu einem offenen Raum, in dem alles sein kann. Beim Lauschen entstehen die gleichen grundlegenden Qualitäten, die auch das Gewahrsein hat: Offenheit, Annahme, Präsenz, Verbundenheit. Daher ist das Lauschen ein wesentliches Instrument, uns an das Gewahrsein zu erinnern und uns mit ihm in Einklang zu bringen.

      Wenn wir im Kontext von Meditation vom Lauschen sprechen, ist nicht nur das Hören wie im normalen Sprachgebrauch gemeint. Es bezieht sich auch nicht auf unsere anderen Sinne, sondern auf das Aufmerksamsein selbst. Normalerweise konzentrieren wir uns beim Lauschen immer auf ein sinnliches Objekt, zum Beispiel eine Musik. Hier aber meint Lauschen, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf nichts Bestimmtes richten, sondern sie ungerichtet und weit lassen. Reines Aufmerksamsein mit einer gesteigerten Sensitivität – offen, empfänglich und ungerichtet.

      Durch die Offenheit und Bedingungslosigkeit dieses ungerichteten Lauschens bringen wir unseren Geist in die gleiche Verfassung wie beim Gewahrsein. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass zwischen dem Lauschen und dem Gewahrsein ein subtiler Unterschied besteht. Lauschen beinhaltet noch eine gewisse Aktivität, das Gewahrsein selbst nicht. Gewahrsein ist spontan und frei von jeder Aktivität. Lauschen geschieht nur manchmal, Gewahrsein jedoch immer. Ist es doch die Grundlage jeglicher Erfahrung. Trotzdem ist das Lauschen ein wirkungsvolles Instrument, uns auf das Gewahrsein einzustimmen und dieses mehr und mehr auf eine natürliche, anstrengungslose Weise ins Bewusstsein zu bringen.

       • Wie ist deine Erfahrung, wenn du einer Musik lauschst? Welche Qualitäten stellen sich in deinem Geist ein?

       • Wie ist deine Erfahrung, wenn du auf die Stille im Raum lauschst? Welche Qualitäten

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