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Wozu sich dann noch sozial verhalten?

      Wir behandeln also einen Sonderfall, wenn wir in unserem Krimi eine Frau zur Mörderin oder Totschlägerin machen. Und wenn wir es tun, dann bedienen wir auch ein latent frauenfeindliches Gruselklischee, das da lautet: Eigentlich sind die Frauen im Hintergrund die wirklich Bösen ( Der Giftmord). In Realität haben Frauen, die töten, noch häufiger als männliche Täter eine gebrochene, nicht-bürgerlich orientierte Biographie ( Täterprofil). Sie stammen aus Familien mit unsteten Bezugspersonen, haben Gewalt erfahren und erfolgreich selbst zugeschlagen. Sie sind unstet im Job und haben wechselnde Lebenspartner. Juristisch ist der Totschlag vielleicht die harmlosere Tat, doch er ist die Tat, zu der Frauen am wenigsten neigen. Zumindest statistisch gesehen und wenn wir nicht annehmen wollen, dass Frauen von den Gerichten immer noch zu Unrecht öfter wegen Mordes verurteilt werden als wegen Totschlags.

      Mordende Mütter

      Es täuscht, wenn wir meinen, Kindstötungen hätten zugenommen. Es hängt davon ab, wie wir Statistiken lesen. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik in Deutschland (PKS) weist für das Jahr 2006 aus, dass 202 Kinder getötet wurden, sechs Jahre zuvor waren es noch 293 Kinder gewesen. In 37 Fällen wurden Kinder ermordet, in 55 Fällen handelte es sich um Totschlag, in 12 Fällen um Körperverletzung mit Todesfolge. Beim Rest handelte es sich um Unglücksfälle. Für das Jahr 2007 zählt der Bund Deutscher Kriminalbeamter 173 Kinder, die gewaltsam gestorben sind, darunter auch solche, die beispielsweise von der Schaukel gefallen sind, weil die Eltern nicht aufgepasst haben. Nach Aussagen des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, dessen Chef der bekannte Kriminologe ­Christian Pfeiffer ist, liegt die Zahl der Kindstötungen über Jahre hinweg bei durchschnittlich 90 im Jahr. Pfeiffer nimmt an, dass im Osten Deutschlands mehr Kinder getötet werden, und vermutet als Gründe Armut und Überforderung der Mütter in ihrer Mutterrolle. Andere Untersuchungen ­widersprechen dem.

      Schreikinder können Mütter schon in den Wahnsinn treiben, Babys, die schlecht essen, können bei perfektionistisch veranlagten Frauen heftige Schuldgefühle erzeugen. Doch erst der soziale und psychologische Hintergrund einer zumindest gebrochenen bürgerlichen Biographie macht aus einer genervten Mutter eine Mörderin. Depressiv strukturierte Mütter wollen es besonders gut machen und setzen sich bis zur Erschöpfung unter Druck. Das Gefühl, es nicht zu schaffen und schuld zu sein, kann sich zur Psychose auswachsen.

      Am Spätnachmittag des 12. Dezembers 2008 hebt eine 33-jährige Frau ihre vier Jahre alte Tochter über das 1,30 m hohe Geländer einer Neckarbrücke in Stuttgart-Untertürkheim und lässt sie sechs Meter tief ins kalte Wasser fallen. Die Obduktion ergibt, dass das Kind ertrunken ist. Die Mutter stellt sich Stunden später der Polizei und erzählt, sie habe sich selbst umbringen wollen, sie sei mit dem Kind überfordert gewesen.

      Am Vormittag hat sie für ihren Mann auf einen Zettel geschrieben: »Lebewohl, du Riesenidiot. Suche nicht nach uns, denn uns gibt es nicht mehr. Du kannst in Ruhe fernsehen, dich wird niemand mehr stören.« Am Spätnachmittag weigert sich ihr Mann, sie mit dem Auto bei ihrer Mutter und ihrem Bruder abzuholen. Außerdem gibt es Streit mit ihrer Mutter über Erziehungsfragen. Sie verlässt das Haus und geht an der Neckarbrücke auf und ab. Das Kind fragt – so erzählt sie vor Gericht –, warum sie immer ins Wasser starre. Da nimmt sie ihre Tochter, hebt sie übers Geländer und lässt sie fallen.

      Ihre Familie zeigt sich von der Tat überrascht. Die Frau hat mehrmals beim Jugendamt um Hilfe gebeten und ist wegen Depressionen in Behandlung gewesen. Vor Gericht erklärt sie, sie habe ihr Kind eigentlich nach der Geburt in Pflege geben wollen. Sie habe sich alleingelassen gefühlt.

      Die Frau wird wegen Mordes angeklagt. Der Richter nimmt ihr nicht ab, dass sie ernsthafte Selbstmordabsichten gehabt hat, kann eine akute Überlastungssituation nicht feststellen, hält es für denkbar, dass sie mit dem Mord an ihrem Kind ihren Mann und ihre Familie habe anklagen wollen, weil sie ihnen die Schuld für ihre subjektiv ausweglose Situation gebe, hält sie für voll schuldfähig und verurteilt sie am 27. Mai 2009 wegen heimtückischen Mordes zu lebenslänglich.

      Männer ermorden Kinder tatsächlich eher deshalb, weil sie sie der Frau, die sich von ihnen getrennt hat, nicht gönnen. Sie wollen sie treffen, abstrafen. Vielleicht hat der Richter deshalb so geurteilt.

      In sozial benachteiligten Familien sterben Kinder auch an Vernachlässigung. Meist sind beide Partner daran beteiligt. Sie sind auf unvorstellbare Weise gefühlsflach, haben nie eine Gefühlskultur gelernt, sind überfordert, genervt, hilflos und verunsichert.

      Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

      Außerdem gibt es bei Frauen einen seltenen psychischen Defekt, für den die Psychologen den Lügenbaron Münchhausen bemühen. Beim Münchhausen-Syndrom täuschen Menschen Krankheiten vor, um die Aufmerksamkeit der Familie und der Ärzte zu erringen. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom nehmen Sorgeberechtigte, meist Mütter, ihre Kinder dafür. Sie vergiften sie mit Medikamenten, brechen ihnen die Knochen, behaupten, sie hätten epileptische Anfälle, schleppen sie zu Ärzten und sorgen dafür, dass sie ins Krankenhaus kommen. Im Krankenhaus kümmern sie sich rührend. Doch wenn niemand hinschaut, drücken sie dem Kind den Hals zu oder ein Kissen aufs Gesicht und alarmieren Krankenschwestern und Ärzte. Ein gewisser, nicht genau bekannter Prozentsatz der Kinder (zwischen 5 und 35 Prozent) stirbt an den Misshandlungen.

      Nach derzeit geltender Auffassung gehören diese Frauen zu den intelligenteren, haben sich früher selbst verletzt (Borderline), sind oft Krankenschwestern gewesen und suchen jetzt dringend Aufmerksamkeit. Sie finden sie bei Ärzten und Krankenschwestern. Sie erscheinen als aufopferungsvolle und perfekte Mütter.

      Das Krankheitsbild gehört zu den gruseligsten und darum reizvollsten Misstrauenserklärungen gegen unsere Mütter. Erfunden hat das Syndrom ein britischer Kindermediziner in den siebziger Jahren. Als Gerichtsgutachter vermutete er in den folgenden Jahrzehnten praktisch hinter jedem plötzlichen Kindstod eine mordende Mutter. Über 300 Mütter wurden verurteilt, bis ein Fehler in der Wahrscheinlichkeitsrechnung des Mediziners die britische Justiz zur Neuauflage der Prozesse zwang und etliche Mütter wieder freigelassen werden mussten. Der Arzt ist zwar inzwischen rehabilitiert und geadelt, aber noch immer hat die Diagnose Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom etwas von Verfolgungswahn. In Deutschland ist sie derzeit bei ­Jugendämtern eine relativ beliebte und unverhältnismäßig oft vorkommende Begründung, um Müttern Kinder wegzunehmen und bei Pflegefamilien in Obhut zu stecken.

      Die Erkrankung ist aber eigentlich sehr selten. Nur schätzungsweise ein Kind von einer Million dürfte betroffen sein. Es ist allerdings schwierig, einer solchen Mutter in dem Labyrinth von Lügen auf die Spur zu kommen. In deutschen Krankenhäusern kann man nicht einfach die Krankenzimmer von Kindern mit ihren aufopferungsvollen Müttern mit Kameras überwachen. Es gibt auch bereits erste Krimis, die das Phänomen behandeln, zum Beispiel Spur ins Nichts aus der Serie Hautnah. Die Methode Hill (ZDF, 1.3.2009, original GB).

      Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wird auch bei Krankenschwestern diagnostiziert, die Kinder töten. Sie werden von der Umgebung als besonders engagiert, zuverlässig und aufopferungsvoll in ihrem unermüdlichen Einsatz für die Kinder erlebt.

      1984 wird in Texas eine Krankenschwester zu 25 Jahren Haft verurteilt, die vermutlich mehr als 30 Kinder mit Suxamethonium, dem künstlichen Kurare, umgebracht hat. Sie war derartig fasziniert davon, Babys nach einem plötzlichen Herzstillstand wiederzubeleben, dass sie begann, ihnen dieses Mittel zu injizieren, um das Glück zu erleben, sie zu retten. Bei ihr wird das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom diagnostiziert. Ob zu Recht oder zu Unrecht, bleibt dahingestellt.

      Neonatizid

      Wenn Mütter soeben geborene Kinder töten oder sterben lassen und in Blumentöpfen auf dem Balkon vergraben oder in Mülleimern entsorgen, reagieren wir mit besonderem Unverständnis. Denn heutzutage werden Mütter nichtehelicher Kinder gesellschaftlich nicht angeprangert, nicht einmal geächtet. Es gibt keinen äußeren Grund, ein Neugeborenes zu töten. In China oder Indien dagegen ist das Töten weiblicher Feten oder Neu­geborener eine Art Geburtenkontrolle.

      Die emotionale Ausstattung von Frauen, die so etwas tun, ist dürftig. Sie sind sozial ausgegrenzt, intellektuell minderbemittelt oder

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