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vor allem auch nicht ein vermeintlich allwissender äußerer Beobachter, sei er ein Gott, ein aus purer Theorie entsprungener Dämon, ein perfekter Wissenschaftler oder Sonstiges, kann menschliche Personen aus dieser charakteristischen Situation entlassen. Aus Sicht der Person selbst ist eigenes Wählen notwendig unbestimmt, solange die Wahl nicht unumkehrbar gefallen und durch fertige Handlung dokumentiert ist. Und aus Sicht der Person selbst ist auch der Verlauf einer Handlung notwendig unbestimmt, solange die Handlung nicht definitiv zu einem Schluss gekommen ist. Zusammenfassend gesagt: Unter den Erkenntnisbedingungen, die für die eigene Person vor eigenem Entscheiden und Tun gelten, stehen solches Entscheiden und Tun für diese Person selbst solange unter notwendiger Unbestimmtheit, wie sie nicht ihren Endpunkt erreicht haben.

      Solange diese notwendige Unbestimmtheit besteht, müssen wir uns selbst und niemand sonst als die Instanz betrachten, aus der die Entscheidung hervorgehen und von der die Handlung getan werden wird. Wir können in der Situation notwendiger Unbestimmtheit nicht sagen: »Der allwissende Gott wird es schon lenken«, oder »mein vorherbestimmtes Schicksal wird es schon lenken«, oder »mein Gehirn wird es schon lenken«. Ein solches Abschieben der eigenen Wahl oder des eigenen Handelns auf fremde Instanzen war bereits der Antike als eine durchsichtige Form des Selbstbetrugs bekannt und trug den Titel »argos logos«, »faule Überlegung« oder »faule Vernunft«. Cicero schreibt über den zerstörerischen Effekt solcher Versuche, sich dem Erfordernis eigenen Entscheidens und Tuns zu entziehen: »Zu Recht trägt diese Art der Argumentation den Namen ›faul‹ und ›tatenlos‹, weil auf diese Weise jeglicher Impuls zur Tat aus dem Leben schwinden wird.«2 Schon Cicero hielt es für unabweisbar, dass wir in der Entscheidungssituation selbst aktiv werden und die Entscheidung treffen müssen oder sie verweigern (was auch ein Entscheiden bedeutet), handeln müssen oder das Handeln bewusst unterlassen (was auch ein Handeln darstellt).

      Ich nenne das jetzt bezeichnete Erfordernis, selbst in eigener Person die Rolle des Urhebers übernehmen und ausfüllen zu müssen, die Situation unabtretbarer Wahl. Sie besteht im Vorfeld alles eigenen Entscheidens und Tuns. Wir sind aus Gründen der Erkenntnisbedingungen, unter denen wir in der Entscheidungs- bzw. Handlungssituation stehen, unabweisbar gehalten, uns selbst als die Instanz zu betrachten, aus der unser Entscheiden und Tun (oder entsprechendes Unterlassen) hervorgehen wird.3

      Die philosophische Position, die sich aus der Erkenntnis prinzipieller Unvoraussagbarkeit des je eigenen Entscheidens und Tuns entwickelt hat, ist mit dem Begriff »Epistemischer Indeterminismus« bezeichnet worden.4 Das ist passend, weil Personen wegen der genannten Unvoraussagbarkeit ihre künftigen Entscheidungen und Taten aus ihrer eigenen Perspektive unter Normalbedingungen als erkenntnismäßig (»epistemisch«) nicht im Voraus bestimmt oder determiniert betrachten müssen.

      Die Unvoraussagbarkeit eigenen Entscheidens und Tuns unter Erkenntnisbedingungen der handelnden Person selbst wurde schon von früheren Philosophen gesehen. In der Aufklärungszeit ragt mit einzelnen Andeutungen Leibniz, im 19. Jahrhundert mit einer anderen Begründungsidee Bergson hervor, im 20. Jahrhundert sind insbesondere Max Planck, aber auch Karl Popper und einzelne von dessen Gefolgsleuten wichtige Stationen.5 Die Unvoraussagbarkeit rechtfertigt zwar nicht den Hauptbestand individueller wie auch sozialer und rechtlicher Folgen nach geschehener Handlung, die man traditionell unter dem Titel »Verantwortung« zum Thema macht. Insofern ist diese Position für ein wichtiges Ziel herkömmlicher Überlegungen zur Freiheit menschlicher Personen nur begrenzt fruchtbar. Darauf werden wir im Schlussteil zurückkommen.

      Abstrakt mag ich mir übrigens in einer Entscheidungs- oder Handlungssituation sagen, dass es in meiner Persönlichkeit selbst sowie ihrer Verbindung mit vielen weiteren Faktoren ein für mich undurchdringliches Zusammenwirken von Einflussgrößen gibt. Ich kann mir auch sagen, dass daraus jede meiner Handlungen unausweichlich hervorgeht. Aber dieser Gedanke gibt mir für mein Entscheiden und Handeln in konkreten Lebenslagen keinerlei Leitung. Der Gedanke ist für meine Orientierung sogar irreführend. Denn es ist mir in der konkreten Situation selbst unmöglich, jenes Zusammenwirken von Einflussgrößen als Ganzes zu überschauen und schlüssige Voraussagen über mein Tun sicher daraus abzuleiten. Es ist mir gleichfalls unmöglich, fremde Voraussagen für meine Erkenntnis bindend zu übernehmen. Vielmehr muss ich in der aktuellen Lage, in der ich bin, mich selbst, meine ganze Person hier und jetzt, als die Instanz betrachten, aus der mein Entscheiden, mein Handeln oder Unterlassen hervorgehen. Dies ist unsere Situation unabtretbarer Wahl bei eigenem Entscheiden und Handeln. Aus ihr können wir durch keine Theorie, Wissenschaft oder Macht entlassen werden.

      Daraus ergibt sich als Nebenresultat auch die Widerlegung des Fatalismus in Fragen menschlichen Handelns. Fatalismus ist die Meinung, was ich tun werde, liege immer schon im Voraus fest; es sei sinnlos, mich für das Finden der richtigen Entscheidung oder das Ausführen der rechten Tat anzustrengen. Denn über das eigene Tun sei ja schon immer im Voraus verfügt. Gewöhnlich berufen sich Fatalisten heute auf die (eigentlich ins 19. Jahrhundert gehörende) Idee eines universellen Determinismus für alle Ereignisse in der Welt mit der vermeintlichen Folgerung, alles, was geschieht, sei von Anfang der Welt an festgelegt. Der Fatalismus berücksichtigt nicht die besonderen Erkenntnisbedingungen eines jeden Menschen, der vor einer zu treffenden Entscheidung bzw. auszuführenden Handlung steht. Aus dem Gedanken eines universellen Determinismus folgt nämlich in keiner Weise, dass ich mit gutem Recht sagen könnte: »Wie ich mich entscheiden werde und was ich tun werde, liegt sowieso schon fest. Alle Anstrengung ist hier sinnlos.« Im Gegenteil: Wenn ich vor einer möglichen Handlung stehe und nichts mich offenkundig hindert oder zwingt, bin unter den für mich geltenden Erkenntnisbedingungen ich selbst die Instanz, von der die Richtung meines Handelns abhängt. In diesem Sinn bin ich in diesem Zeitfenster für meine Erkenntnis frei, jede der sich jetzt bietenden Handlungsalternativen zu wählen. Gegen manche Handlungen mag ich Widerstände haben, zu anderen mag ich mich hingezogen fühlen, vor vielem mag ich mich fürchten, einiges mag ich verabscheuen, bestimmte Handlungen, die mir schwer fallen, mag ich als meine Pflicht erkennen: Solange nichts mich erkennbar und unüberwindlich zwingt oder hindert, muss ich mich unter den Bedingungen meiner Erkenntnisperspektive jetzt und hier so verstehen, dass mir jede Handlungsrichtung offensteht, für die ich nicht manifest bestehende, unüberwindliche Hindernisse erkenne.

      Natürlich erstreckt sich meine Sicherheit, jede Handlung ergreifen zu können, die mir nicht offensichtlich unmöglich ist, nicht darauf, dass ich das gewählte Tun auch erfolgreich zu Ende bringe. Eine Handlung hat stets eine zeitliche Ausdehnung, auch wenn sie als Tun eines bloßen Augenblicks erlebt wird. Innerhalb dieses Zeitfensters, und sei es noch so winzig, können immer unerwartete Hindernisse auftreten und das Zu-Ende-Kommen meiner Handlung unmöglich machen. Diese Hindernisse können überraschend von außen her kommen und meinen Handlungsversuch verzögern, in andere Richtung lenken, zum Stillstand bringen oder es sonst wie machen, dass ich meine gewählte Tat nicht vollende. Die Hindernisse können auch von meinem Körper, meiner Psyche oder beidem herrühren und mein Handeln unvoraussagbar beeinflussen, so dass es fehlgeht oder zum Stillstand kommt. Bekannt ist das Beispiel der Pianisten, denen ein bestimmter Finger plötzlich nicht »gehorcht«, so dass sie etwas anderes spielen als beabsichtigt. Und jeder kennt das Eigentor des Verteidigers beim Fußball, der sich hinterher vor Scham krümmt und nicht verstehen kann, wie ihm das passieren konnte.

      Die Unmöglichkeit, vor eigenem Entscheiden, Handeln und natürlich auch vor der Ausbildung des zugehörigen Wollens das Gefüge der dabei kausal relevanten Faktoren zu überschauen, passt zu einer Erscheinung, die oft vernachlässigt wird: Wir können manchmal eigenes Entscheiden und das Sich-Geltendmachen entsprechenden Wollens im unmittelbaren Nachhinein erinnern als etwas, das auch für uns selbst überraschend eintrat. So ist es Hermann Weyl ergangen: Er fuhr zum Telegraphenamt in der Absicht, ein Telegramm mit der Annahme des Rufes aufzugeben. Stattdessen telegraphierte er eine Ablehnung, und zwar nicht aus Versehen, sondern aus eigener Initiative. Er hat uns nicht überliefert, wie kurz die Zeit war, die zwischen der Ausbildung des neuen Wollens und dem Niederschreiben der entsprechenden Worte auf dem Telegrammformular vergangen ist. Es könnte sein, dass er sich noch, während er schon beim Schreiben war, für

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