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seinen direkten Zugriff unverfügbar, das Ergebnis trat für ihn unversehens und unerwartet ein. Trotzdem wurde er nicht von fremden Mächten zu seiner Ablehnung des Göttinger Rufes bestimmt. Vielmehr gingen diese Entscheidung und die unmittelbar folgende Handlung aus einem komplexen Prozess in oder an der ganzen Person Hermann Weyl hervor. Es ist sogar sinnvoll zu sagen, Weyl war in diesem Zeitfenster neben vielem anderen, das zu ihm gehörte, dieser Prozess selbst. Von Verlauf wie Ergebnis dieses Vorgangs konnte Weyl mit allem Recht sagen: »Das war ich. Der Vorgang, in dem sich meine Entscheidung formte, und das Niederschreiben auf dem Formular waren zu dieser Zeit zentrale Züge meines Lebensprozesses. Den kannte ich zwar als Ganzen nicht, wie ich auch mich selbst als ganzes Lebewesen nicht kennen kann. Aber trotz meiner Unkenntnis bin ich dieses Lebewesen und war ich mit allem, was zu mir gehört, selbst die Instanz, aus der mein Entscheiden und Tun hervorging.« Hätte er so gesprochen, dann wäre dies ein passender Ausdruck für die Unabtretbarkeit seiner Wahl gewesen und für seine unausweichliche Urheberschaft beim eigenen Entscheiden und Tun.

      Das Bewusstsein, selbst der Urheber eigener Entscheidungen und Taten zu sein, ist eine wertvolle Einstellung zum eigenen Leben. Je stärker das Bewusstsein eigener Urheberschaft, desto deutlicher ist im allgemeinen auch in Entscheidungslagen das Bewusstsein der eigenen Freiheit, alle Handlungen zu tun, die der eigenen Person physisch möglich sind und auf die ihr Wollen sich richtet. Zu diesem Bewusstsein trägt die Unvoraussagbarkeit eigenen Entscheidens und Tuns, die bis zum Vollenden der Handlung besteht, nachdrücklich bei. Stellen wir uns diese Unvoraussagbarkeit und die damit verbundene Unabtretbarkeit unserer Wahl nur oft genug und deutlich genug vor Augen, so können wir eine Tendenz entwickeln, die Handlungs-Freiräume der eigenen Person in größerer Ausdehnung zu sehen. (Sie erstrecken sich meist viel weiter, als wir zu denken geneigt sind). Vor allem können wir eine Tendenz entwickeln, diese Freiräume durch bewusstes Tun auch tatsächlich zu nutzen, statt unser Handeln in den Bahnen einer gedankenlosen Routine dahinlaufen zu lassen. Je freier wir uns sehen, desto freier werden wir in der Wirklichkeit unseres Tuns. Das ist eine alte Erkenntnis, deren Wahrheitsgehalt jeder an sich selbst überprüfen kann. In größerem Maßstab lässt sie sich durch einen Blick auf diejenigen Phasen der europäischen Geschichte stützen, in denen ganze Generationen im Hochgefühl ihrer Freiheit Taten vollbrachten, an die andere Generationen nicht zu denken wagten. Die ersten Jahre der Französischen Revolution sind das sprechendste Beispiel hierfür, aber nur eines von vielen. Sehr eindrucksvoll stellt sich der reale Befreiungseffekt intensiven Freiheitsdenkens auch in den Künsten dar, speziell in der Kunst der Moderne: Künstler und Künstlergruppen, die bewusst das Sich-Befreien von den Zwängen des Herkommens anzielten, haben auf verschiedenen Gebieten mit Erfolg freiere Kunst geschaffen, freier, als man sie sich bis dahin auch nur vorstellen konnte. Nicht nur eine freiheitsorientierte Mentalität im Sinn des beherzten Ausgreifens auf den ganzen Raum eigener Handlungsmöglichkeiten wird durch das Bewusstsein eigener Urheberschaft gefördert. Auch für personeigene Freiheit im spezifischen Sinn der Übereinstimmung eigenen Für-richtig-Haltens und faktischen Tuns öffnet ein ausgeprägtes Freiheitsbewusstsein die Tür zu realer Freiheitserweiterung.

      Nach getaner Tat stehen wir nicht mehr vor einer Mehrzahl von Alternativen, unter denen wir wählen müssen, sondern nur noch vor der einen, faktisch zustande gekommenen Handlung. Für sie gilt nicht die gleiche Erkenntnisbeschränkung, die vor ihrer Ausführung für uns bestand. Vielmehr können wir die Eigenschaften der Handlung, die wir getan haben, danach im Prinzip ähnlich gut erkennen wie ein äußerer Beobachter. Die folgenreiche Asymmetrie zwischen Beobachtersicht und Sicht des Handelnden, die vor der Handlung bestand, besteht nach dieser nicht mehr. Wir können dann auch Erkenntnisse eines eventuellen Beobachters über ursächliche Zusammenhänge, die zur Tat beitrugen, ohne epistemische Vorbehalte aufnehmen und auswerten. Wahl und Handlung sind geschehen; ihr Verlauf ist durch Informationen darüber nicht mehr beeinflussbar.

      Nach fertiger Tat steht die Gewissheit, selbst gewählt zu haben, sehr klar der Tendenz entgegen, die Handlung von der eigenen Person wegzuschieben und anderen Instanzen anzulasten. Kandidaten für letztere sind oft Einflussgrößen wie Vererbung, die Eltern, die Jugendgeschichte, die eigene Lage zur Tatzeit usw. Neuerdings wird auch oft das eigene Gehirn zum einzigen Urheber erklärt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass Gehirn und Person eine bislang unverstandene Einheit bilden, aus der man schwerlich einen Teil abspalten und zum Täter erklären kann. Solches nachträgliche Wegschieben der Rechenschaftserwartung für ein geschehenes Tun, hin zu anderen Instanzen oder Einflüssen, ist in aller Regel eine Form von Selbstbetrug. Denn in der fraglichen Entscheidungslage waren wir selbst als ganzer Mensch das Wesen, aus dem unsere unabtretbare Wahl hervorging – gleichgültig, welche Einflüsse wir bei nachträglicher Analyse feststellen mögen. Schieben wir alles auf fremde Einflüsse, dann berauben wir uns eines unschätzbaren Vorteils, den das Anerkennen der eigenen Urheberschaft mit sich bringt: Bei den vielen Fehlern, auch moralisch tadelnswerten Handlungen, die wir im Lauf des Lebens begehen, ist das offene Eingeständnis, dass wir selbst sie begangen haben, der Türöffner für besser gelingendes Handeln in der Zukunft. Denn wenn wir einräumen, dass wir als ganze Person und nicht etwas längst Vergangenes, nicht unsere Erzieher, nicht äußere Impulse usw. die falsche Tat hervorbrachten, können wir uns die wichtige Frage stellen: Was in uns war es, das entscheidend zu der falschen Tat beitrug?

      In der Rückschau, unbedrängt von den Wahrnehmungen und Affekten der Handlungssituation, können wir am besten sehen, wo wir einem Beweggrund oder Impuls nachgegeben haben, den wir bei distanzierter, beruhigter Überlegung nicht billigen können. Das heißt, wir können erkennen, wo wir im personeigenen Sinn bei der falschen Tat unfrei waren. Wir können versuchen, den relevanten Mangel unserer personeigenen Freiheit in rückblickender Selbstverständigung ausdrücklich zu benennen, ja zu diagnostizieren. Wir können ihn auf seine Ursachen hin befragen. Wir können schließlich versuchen, unser Leben künftig so zu führen, dass Taten der leider geschehenen Art möglichst nicht mehr vorkommen.

      Indem wir nach einem schweren, aber eingesehenen und bewusst analysierten Fehler unser Leben anders führen, können wir uns als lebende Personen verändern. Es kann uns gelingen, die Gesamtheit unserer handlungsrelevanten Dispositionen so zu beeinflussen, dass wir in Zukunft dann, wenn wir versucht sind, in jenen Typ von Fehler zu verfallen, ihn gerade nicht begehen. Zur Gesamtheit unserer handlungsrelevanten Dispositionen gehört vor allem unser Wille, soweit er den Status solcher Dispositionen hat. Wenn wir nach einer Tat, die wir im Rückblick nicht billigen und lieber nicht getan hätten, uns im konkreten Lebensvollzug neu orientieren, nutzen wir eine einzigartige Möglichkeit unseres Personseins. Es ist die Möglichkeit zur absichtsvoll eingeleiteten, indirekten Neu-Orientierung unseres Willens.

      Direkt, durch einen umweglosen Zugriff, der dem Zugriff auf unsere Körperglieder beim Handeln vergleichbar wäre, können wir unseren Willen nicht umformen. Wohl aber können wir uns über Handlungsweisen, die uns offen stehen, nachdenkend ins Bild setzen und sie bewerten. Dabei kann uns ein klarer, durch Argumente verdeutlichter Unterschied vor Augen treten zwischen Formen des Handelns, die wir für richtig halten sowie zu eigen haben möchten, und solchen, die wir für falsch halten und für das eigene Tun ablehnen.

      Bei beruhigter Überlegung klar zu sehen, was unter Einbeziehen aller für uns erkennbaren Aspekte sich als das richtige Tun darstellt, kann dazu beitragen, dass sich unser dispositionaler Wille wie auch unser aktuelles Wollen in Richtung dieser Handlungsweise verändern. Ein solcher Einfluss gelingt nicht immer, aber er gelingt doch oft, wenn auch nie mit erkennbarer Notwendigkeit. Es widerfährt uns leider manchmal, dass wir unter Impulsdruck uns plötzlich mit einem unerwartet anders gerichteten Wollen finden, für das in diesem Augenblick auch scheinbar gute Gründe sprechen. Dann tun wir etwas, das wir nachträglich, wenn die bedrängende Situation vorbei ist, als falsch erkennen können und vielleicht bereuen. Das wiederum kann dazu führen, dass wir aufs Neue nachdenken und die Entstehung unseres Fehlverhaltens rückverfolgen. Wieder können wir dann zwei besonders wichtige Mittel indirekter Beeinflussung unseres Willens in Anschlag bringen. Diese Mittel sind das eigene Überlegen und, in langfristiger Perspektive, das dispositionsbildende eigene

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