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sich im Bewusstsein nur höchst unverlässlich dar, oder gar nicht. Das gilt vor allem für die Faktoren, die zu Wollen bzw. Entscheiden nur verdeckt beitragen, d. h. sich der suchenden Aufmerksamkeit nicht offen darbieten. Weyl hat sich in unabtretbarer Wahl gegen Göttingen entschieden; unversehens fand er sich als einen, der im Modus eigener Aktivität Göttingen ablehnte und Zürich bevorzugte. Aber wie dies alles zustande kam, kann er nicht im Einzelnen sagen. Trotzdem spricht er von der Entscheidung als seiner eigenen, er war es, der eine Ablehnung telegraphierte. Auch den äußeren Faktor des Treibens auf dem See erwähnt er als etwas, das es ihm angetan haben müsse.

      Gewiss konnte Weyl das Sich-Ausbilden seines Wollens bzw. Entscheidens im fraglichen Zeitraum nicht von einer höheren Warte aus überschauen und lenken. Unser Wollen formiert sich, unser Denken, Fühlen, Wahrnehmen und vieles andere trägt dazu bei, aber wir übersehen diesen Gesamtprozess nicht wie höhere, dies alles kontrollierende Ingenieure. Und vor allem steuern wir das Sich-Bilden unseres Wollens nicht wie solche Ingenieure. Wir stehen, während sich unser Wollen formiert, nicht an einem über unserem Bewusstseinsleben angebrachten Regelpult und organisieren von dort das komplexe Zusammenwirken aller relevanten Zustandsgrößen. Wir können auch in das Sich-Ausbilden unseres Wollens nicht von einem solchen höheren Standpunkt her nach Maßgabe eines ebenfalls höheren eigenen Wollens gezielt und mit Ergebnis-Sicherheit eingreifen.

      Zwar können wir unser Entscheiden und Tun im Prinzip nachträglich analysieren und oft daraus wichtige Einsichten gewinnen. Für die Analyse von Vergangenem bestehen nicht die gleichen, letztlich unlösbaren Erkenntnisprobleme, die für die Voraussage künftiger eigener Handlungen aus der Perspektive des tätigen Selbst bestehen. Jedoch sind wir von einer vollständigen kausalen Analyse vergangener Wollensbildung und vergangenen Entscheidens extrem weit entfernt. Wenn wir eine Entscheidung gut vorbereitet haben, können wir oft eine schlüssige Begründung dafür liefern, und diese Begründung mag auch unsere wirklichen Gründe darstellen, soweit uns bekannt. Wir können sogar oft etwas benennen, das bei einer Entscheidung nach unserer Meinung »den Ausschlag gab«. Dies ist schon sehr viel, aber gewiss nicht alles. Auch im Nachhinein ist uns eine vollständige Übersicht über die Gesamtkonstellation kausal beteiligter Faktoren nicht zugänglich.1

      Leider haben gute Gründe, die ich für eine bestimmte Entscheidung sehen mag, auch beileibe nicht die Kraft, diese Entscheidung mit gesetzmäßiger Verlässlichkeit herbeizuführen. Sonst würden wir beim Handeln immer im Einklang mit unseren vorher gefundenen Begründungen bleiben – was nicht der Fall ist. Selbst bei sehr guten Gründen für eine bestimmte Entscheidung kann es geschehen, dass wir uns plötzlich im Modus eigenen Wollens als ganz anders Entscheidende erleben. Unsere Entscheidungen sind uns nicht nur in einem strengen Sinn unvoraussagbar. Sie folgen auch nicht zwangsläufig den Überlegungen, die wir zuvor angestellt haben, sondern behalten auch mit Blick auf unsere eigenen Gründe ein Moment potentieller Überraschung. Es kommt vor, dass sich kurz vor dem Zeitpunkt des Entscheidens fast blitzartig ganz andere Gründe geltend machen als die zuvor erwogenen. Sie können unerwartet eine andere Entscheidung richtig erscheinen lassen als die früher ins Auge gefasste. Diese unerwartete Entscheidung mag auch wohl durchdachten Gründen und langfristigen eigenen Grundsätzen zuwiderlaufen – im relevanten Augenblick hat sie doch neue, besondere Gründe und damit auch ein Überzeugungsmoment für sich.

      Der Übergang der ganzen Person vom Zustand der Indifferenz in einen Zustand, in dem sie entschieden auf eine bestimmte Handlung hinstrebt, dieses Tun also aktuell will, geschieht typischer Weise so, dass sie sich dabei als aktiv erlebt. Das eben jetzt spürbare Wollen hat – besonders auffällig bei plötzlichem Eintreten – die vorhin genannte Aktivitätsfärbung, zusammen mit Meinigkeit und Zentralität. Wir erleben unsere Entscheidungen als unsere, nicht als fremde Gewalt, die in unser Leben einbricht.

      Wir entscheiden uns und gehen wollend zu unseren Handlungen über im Modus eigenen Aktivseins. Aber wir tun dies ohne vollständige Übersicht über die kausal relevanten Faktoren, durch die wir dahin gelangen, und vor allem ohne die Gesamtheit dieser Faktoren von höherer Ebene her selbst zu steuern. In diesem Sinn sind wir uns selbst bei unserem Entscheiden und dem aktuellen Übergang zur eigenen Handlung trotz Meinigkeit, Aktivitätsfärbung und Zentralität auf typische Weise unverfügbar. Denn wir sind zwar in der Situation unabtretbarer Wahl diejenigen, die entscheiden, wollen, handeln, aber wir verfügen dabei nicht noch einmal über uns von einem höheren Fahrersitz aus.

      Die Unverfügbarkeit für direkten Zugriff ist Teil einer umfassenderen Sachlage, die immer wieder übersehen wird: Unser Verhältnis zu den Vorgängen des eigenen inneren Lebens ist radikal anders als unser Verhältnis zu Gegebenheiten der äußeren Welt. Von der Außenwelt erhalten wir vor allem Kenntnis durch Sinneswahrnehmung, und wir können in die uns umgebende Außenwelt eingreifen durch willentliches Handeln. Unsere Kenntnis von Gegebenheiten des eigenen Bewusstseins erfolgt nicht durch innere Sinneswahrnehmung. Wir haben gar kein Sinnes-Organ, mit dem wir auf unser bewusstes Leben gleichsam »blicken« könnten. Wir können auch in dieses eigene Bewusstseinsleben nicht geradewegs handelnd eingreifen, um es als Ganzes Schritt für Schritt zu formen, wie man in der Außenwelt ein Werkstück bearbeitet. Wir stehen unserem Bewusstsein in jedem Augenblick nicht gegenüber wie einem Objekt, sondern wir sind unser bewusstes Leben in unverstandener Einheit mit unserem körperlichen.

      Ein Mann nimmt an einer öffentlichen Versammlung vieler Menschen teil. Er hört einen Redner etwas verkünden, das ihn empört, sein Gerechtigkeitsempfinden bitter verletzt und in ihm die Gewissheit erzeugt: Dagegen muss etwas gesagt werden. Plötzlich meldet sich unser Mann zum Wort oder erhebt plötzlich einfach seine Stimme, in diesem Augenblick nur im Ungefähren wissend, was er sagen soll. Er hat sich keinen Beitrag innerlich vorformuliert, »sieht« höchstens einige Sachpunkte »vor sich«, die er ansprechen muss. Doch ebenso unversehens und unvorbereitet, wie er das Wort ergriffen hat, spricht unser Mann seine Sätze und legt seinen Protest ein, bringt es sogar zu einer energischen, von seiner gerechten Empörung getragenen, kleinen Rede und greift damit erfolgreich in den Gang der Versammlung ein. Nichts dergleichen hat er im Voraus geplant oder vorbereitet, er ist im Nachhinein, zurückdenkend, von sich selbst überrascht. Ehe er sich’s versah, ist er im Modus eigener Aktivität aufgetreten und hat gehandelt – nicht konstruierte er seine Handlung vorausschauend wie ein Projektsteuerer in Kenntnis aller Elemente und Kräfte. Vielmehr trat die Handlung aus ihm hervor im Modus des Unversehens, als seine eigene aktive Tat und gleichwohl, was Zeitpunkt, Einzelheiten, ja auch den unmittelbar aufspringenden Entschluss zu sprechen angeht, mit einer für alles menschliche Wollen charakteristischen Unverfügbarkeit.

      Auch, wo wir in einem längeren Prozess des Abwägens von Handlungsgründen zu einer Entscheidung gelangen, zum Beispiel nach einem normierten Verfahren der Entscheidungstheorie, bleibt die Unverfügbarkeit für direkten Zugriff bestehen. Denn erstens sind neben unseren eigenen Gründen in aller Regel auch andere Einflussgrößen beteiligt, die wir im fraglichen Augenblick nicht kennen, und die es möglich machen, dass unser faktisches Entscheiden auch von bestens abgewogenen Gründen abweicht. Und zweitens gehen in jeden Entscheidungsprozess übergeordnete Präferenzen ein, über die wir uns keine restlos begründende Rechenschaft mehr geben können, weil das Begründen sonst ins Unendliche gehen müsste. Vielmehr erleben wir unsere Präferenzen als uns eigen und als Ausgangspunkte unseres Begründens in ähnlicher (wenn auch nicht strukturell gleicher) Unverfügbarkeit für direkten Zugriff wie das schließliche Sich-Ereignen unseres Entscheidens und Wollens.

      Unabtretbare Wahl bei eigenen Entscheidungen und Handlungen sowie Unverfügbarkeit des Ganzen einer Person im Augenblick ihres aktuellen Wollens stellen gleichermaßen Grundzüge der menschlichen Handlungsverfassung dar. Die unabtretbare Wahl bringt es mit sich, dass eine Person der Erwartung, sich mit ihrer ganzen Überlegungsfähigkeit und jeder möglichen Anstrengung für das ihr als das Rechte Erkennbare einzusetzen, nicht durch fatalistische Selbsttäuschung entziehen kann. Die antike Einstufung des fatalistischen Betrugs als »faule Vernunft« haben wir kennengelernt. Die Unverfügbarkeit bringt es mit sich, dass die Person, die sich als eine Gesamtheit kausal relevanter Kräfte und Umstände nie völlig kennen kann, im Prinzip auch darauf gefasst sein muss, dass sich temporäre Impulse gegen ihr langfristiges Selbstkonzept durchsetzen. Solche

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