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Aktionen zu antworten. Es war kein Krieg der Fronten – Auge in Auge, sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehend. Es war ein regelrechtes Abschlachten, darauf ausgelegt, unverhofft und mit grausiger Brutalität die Zivilbevölkerung zu treffen. Anschläge auf zivile Opfer waren an der Tagesordnung. Bombardierte man Ölfelder oder Stellungen der Terrormilizen, folgten Vergeltungsschläge auf dem Fuße. Meldete man Erfolge zurückeroberter Landgebiete, folgten hierauf Verlustmeldungen aus anderen Regionen.

      Die Menschen beäugten sich gegenseitig argwöhnisch: Andersartig gekleidet? Verschiedenartige Hautfarbe? Bartwuchs oder nicht? Alles und jeder erschien verdächtig.

      Durchgesetzte Kriegsrechte wurden wieder zurückgenommen, um kurz darauf von Neuem verhängt zu werden. Gefängnisse vieler Länder waren bis zum Bersten gefüllt, Geheimdienste mächtiger Nationen in höchster Alarmbereitschaft.

      Digitale Kriegsführung wurde zu einer neuen, bisher nicht gekannten Waffe: Hacker initiierten Angriffe auf zentrale Knotenrechner des Internets. Man sperrte Bankkonten, verbreitete Propaganda, zeigte Videos grausamster Art, Medien berichteten live »von der Front«.

      Die Religion trat in den Mittelpunkt der Ereignisse. Ein jeder berief sich auf seinen Glauben, seinen Gott, seinen Messias, seinen Allah … Erleuchtete Propheten, auf Kartons oder Bierkästen stehend, säumten die Straßen der Städte, um aus voller Kehle den Weltuntergang zu prophezeien. Etliche der Prediger fanden verängstigte »Gläubige«, die sich ihnen anschlossen. Nicht der Verlust von Hab und Gut war hierbei tragisch – nein, die Hoffenden verloren ihre Seelen, während die vermeintlichen Propheten sich die Konten füllten.

      Verkündete der Papst das Wort Gottes, hingen Hunderttausende auf dem Petersplatz in Rom an dessen Lippen. Sprach ein Kalif, so war das Bild das gleiche. »Wir führen einen heiligen Krieg, so wie es geschrieben steht.«

      Im Verlauf der Kriege und Seuchen, die Millionen von Menschen aus dem Leben rissen, schlich eine weitere Gefahr – bekannt, jedoch verdrängt – auf leisen Sohlen heran. Man wusste von ihrer Existenz – doch man fand zu keiner Einigung. Langsam, Jahr für Jahr, drängte das Quecksilber der Thermometer Millimeter für Millimeter in Richtung Norden.

      Klimakonferenzen ergaben vollmundige Bekundungen aller Vertreter der Industrieländer, die sie, sobald sie in ihr Land zurückgekehrt waren, in den Wind schlugen. Wie auch sollte man die Maßnahmen zur Eindämmung der Klimaerwärmung umsetzen? Der Einfluss der Wirtschaft verhinderte drastische Eingriffe und die Politik fürchtete den eigenen Machtverlust von Wahlperiode zu Wahlperiode. Waren Klimagespräche angesagt beziehungsweise präsent, demonstrierten Tausende mit Schildern und Megafonen in den Straßen. Detonierte wenig später eine Bombe im Straßencafé nebenan, verstummten die Demonstranten, ebenso die Nachrichtensender.

       Kapitel 31: Er liest

       Washington, D. C., 2022

      Die Kinder waren Sandras Ein und Alles. Meira, jetzt knapp sieben Jahre alt, liebte es, in die Schule zu gehen, und widmete sich gewissenhaft ihren Hausaufgaben. Verspielt malte sie bunte Blumen um die noch krakelig geschriebenen Worte oder seitlich der »Einmaleins«-Rechenaufgaben.

      Wenn es um Chris ging, so vergötterte sie ihn ebenso wie der Rest der Familie. Zum einen lag dies unzweifelhaft an der äußeren Erscheinung. Die helle, wolkenfarbige Haut wie auch die sanft blickenden, klaren Augen glichen der Gestalt eines Engels. Zum anderen beeindruckte sein erstaunlicher Entwicklungsverlauf. Bereits mit einem Jahr lief er ungehalten zwischen den Beinen seiner Mutter umher; im Alter von zwei Jahren entwickelte sich sein anfängliches Geplapper zu sauber geformten Worten. Als er vier Jahre alt war, fiel Sandra auf, dass er die aus dem Bücherschrank gezogenen Romane nicht einfach nur betrachtete, nein, er schien völlig geistesabwesend, während die roten Augen flink über die Seiten huschten. Die seinem Alter entsprechenden Bilderbücher blieben unangetastet.

      Dann, im zarten Lebensalter von fünf, hörte sie ihn. Gemeinsam mit seiner Schwester saß Chris auf der Kinderschaukel im Garten. Meira hing sichtlich an den Lippen des Bruders und lauschte konzentriert, wie er soeben eine Passage aus einem Buch laut vorlas. Sandra erinnerte sich an den Inhalt, denn vor nicht allzu langer Zeit hatte sie selbst die Geschichte von Kunta Kinte, dem Sklaven aus Roots gelesen. Chris betonte sanft jede Wendung des Romans, wie Omoro seinem Sohn Kunta den Kummer nehmen wollte, da dessen Großmutter verstorben war. Omoro erklärte seinem Sohn, dass in jeder Dorfgemeinschaft drei Gruppen von Menschen lebten: Die erste Gruppe sei diejenige, die man sah, wie sie aß, umherlief, schlief und arbeitete. Die zweite Gruppe sei die der Vorfahren, zu denen nun auch die Großmutter Yaisa gegangen war. Als Kunta seinen Vater nach der dritten Gruppe fragte, lief es Sandra eiskalt den Rücken hinab. Chris sah zu seiner Schwester Meira und rezitierte liebevoll, dass die dritte Gruppe einer jeden Gemeinschaft jene sei, die darauf warte, wieder auf die Welt zu kommen.

      Mit seitlich geneigtem Kopf lief Sandra auf die Schaukel zu, während sie dem Text lauschte. Chris’ Lippen formten indes Wort für Wort des Romans Roots, den sie, Sandra, von Olivia geschenkt bekommen hatte. Er enthielt eine handschriftliche Signatur ihrer Schwiegermutter mit den Worten: »Dieses Buch schenke ich dir von ganzem Herzen, im Andenken an deinen Mann und unseren wundervollen Sohn. Ich habe es jetzt endlich gekauft, nachdem ich beim ersten Versuch durch Magie davon abgehalten wurde.«

      »Chris, was machst du da?«, flüsterte Sandra, da Chris, derart in die Lektüre vertieft, sie nicht zu bemerken schien.

      »Ich lese Meira vor«, antwortete Chris anständig, so als ob dies das Normalste der Welt sei.

      »Das kannst du nicht lesen.« Sandra wusste selbst nicht, wie sie ihren Satz interpretieren sollte. Das kannst du nicht lesen, weil … du in deinem Alter unmöglich lesen kannst; oder: Das kannst du nicht lesen, weil … es sich um keine Lektüre handelte, die ihr altersgerecht für ihn und Meira erschien. Vorerst entschied sie sich für letztere Version.

      »Chris, das ist keine gute Geschichte für euch beide. Bitte gib mir das Buch!«

      »Aber Mom, Roots ist spannend«, protestierte Chris, während er ihr dennoch brav das Buch entgegenhielt. Sandra griff danach.

      »Wir unterhalten uns später darüber. Spielt doch noch ein wenig im Garten. Derweil helfe ich Grandma beim Abendessen.« Verwirrt ging Sandra zurück ins Haus.

      »Schade«, meinte Meira. »Es hat mir wirklich gefallen.«

      »Ich hab’s schon ganz gelesen«, erwiderte Chris. Er sah seine Schwester an, lächelte verschwörerisch und begann, diesmal ohne Buchvorlage, von Neuem zu rezitieren: »Der Regen hatte aufgehört …«

      »Mami, Chris hat mir die Geschichte weitererzählt«, entfuhr es Meira eine Stunde später kauend am Esstisch, froh darüber, ihre Mutter ausgetrickst zu haben.

      »Welche Geschichte?«, fragte Elias.

      »Na, die aus dem Buch«, sagte Meira stolz.

      »Was für ein Buch?«, wollte Elias wissen.

      »Roots«, gab Sandra die Antwort.

      »Roots?« Rachels Blick stellte tausend Fragen.

      Elias lachte auf, während Chris scheinbar teilnahmslos in seinen Burger biss. »Klar, Chris liest Roots!«, prustete Elias.

      Bevor Sandra antworten konnte, begann Chris frei – und wieder Wort für Wort, wie es geschrieben stand – vorzutragen, wie ein junges Mädchen der Dorfgemeinschaft in Afrika vor vielen Jahren verschwunden war und jeder der Dorfbewohner sanftmütig der klagenden Großmutter Mut machte, dass die Verschwundene sicher am nächsten Morgen zurückkommen würde.

      »Was ist das?«, fragte Rachel; Elias hörte auf zu kauen.

      »Roots«, war die lapidare Auskunft von Chris.

      Sandra stand wortlos auf und holte das Buch aus dem Schrank. Wieder am Tisch, fing sie an darin zu blättern.

      »Kapitel 19, Seite 75, zweiter Absatz«, half ihr Chris.

      Alle Augen waren auf Sandra gerichtet, außer denen von Chris, der damit beschäftigt

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