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konnte keinerlei negative Reaktion sowohl bei den Kindern als auch deren Eltern beobachten.

      Chris stakste aufmerksam mit den Klassenkameraden der Lehrerin, Miss Rudolph, hinterher. Eine junge Lehrkraft, dachte er. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig, also konnte sie noch nicht allzu lange als Lehrerin tätig sein.

      Die Flure des Schulhauses waren angenehm gestaltet. Hie und da waren Glaskästen angebracht, die Werkarbeiten oder Bilder von Schülern höherer Jahrgangsstufen zur Schau stellten. Jede Ecke des Hauses war lichtdurchflutet, entweder durch große Fenster oder, wenn keine Möglichkeit bestand, mittels einer gefällig ausgewogenen Beleuchtung.

      Nachdem sie durch ein imposantes Treppenhaus in den ersten Stock gelangt waren, folgten sie einem in Zitronengelb gestrichenen Flur, bis sie im rechten Flügel des Gebäudetrakts das Klassenzimmer erreichten. Schüchtern traten die Schüler hinter Miss Rudolph ins Zimmer. Direkt vor ihnen stand das Lehrerpult, dahinter eine gläserne Tafel, auf die sowohl geschrieben als auch über das in den Lehrertisch eingelassene Arbeitsfeld projiziert werden konnte.

      Wie am Haupteingang der Schule und sämtlichen Nebeneingängen waren beidseitig im Türstock der Klassenzimmertür Scanner eingelassen. Diese zeigten unmittelbar beim Betreten metallische Objekte an. So wurde sichergestellt, dass keine Waffen oder ähnlich gefährliche Gegenstände durch die Schüler und Studenten mitgebracht wurden. Chris fielen seit Betreten des Schulgebäudes ebenfalls die im gesamten Areal angebrachten Sicherheitskameras auf. Auch wenn sie sehr klein ausfielen, mit bloßem Auge kaum sichtbar, so spürte er ihre Anwesenheit – besser: die prüfenden Blicke des Personals, die über riesige, im Sicherheitsbüro montierte Screens jeden Winkel des Schulgeländes minutiös beobachteten.

      Im Jahre 2019, also vor drei Jahren, hatte der Senat der Vereinigten Staaten, unter Mehrheit der Republikaner, ein Gesetz verabschiedet, welches diese Sicherheitsvorkehrungen an allen Schulen des Landes vorschrieb, ebenso wie das unauffällige Tragen von Handfeuerwaffen der Lehrkräfte. Miss Rudolph trug ebenfalls solch eine Schusswaffe, klein, verdeckt, doch Chris war die minimale Ausbuchtung unter der Kostümjacke, die ihre zierliche, sportliche Figur betonte, nicht entgangen.

      »So, jetzt sucht sich jeder einen Platz, auf dem er heute sitzen möchte. Wir werden dann in den nächsten Tagen und Wochen die Sitzordnung ändern, falls es notwendig wird. Husch, husch, setzt euch!« Miss Rudolph lächelte den Schülern aufmunternd zu, während sie eine widerspenstige Strähne ihres braunen, langen Haares aus der Stirn strich.

      Die Zweiertische waren in drei Reihen zu je fünf Bänken aufgestellt. Flink fanden die Erstklässler einen Platz. Als Chris sich neben einen rothaarigen Jungen setzte, der neben Tausenden von Sommersprossen dicke, wulstige Lippen aufwies, rutschte dieser möglichst unauffällig auf den Stuhl des Nebentisches. Grinsend beäugte der untersetzte Junge Chris. Dann drehte er sich zu seinem neuen Banknachbarn, einem dünnen, dunkelhaarigen Jungen mit Nickelbrille, und flüsterte ihm etwas zu. Dieser schien allerdings wenig interessiert an dem, was der Rothaarige ihm mitzuteilen hatte. Mit gefalteten Händen saß die Nickelbrille nur da, abwartend, was als Nächstes kommen würde. Nachdem alle Kinder ihren Sitzplatz gefunden hatten, trat Ruhe ein.

      Vierzehn Schüler, dachte Chris. Eine gerade Zahl. Irgendjemand musste also ebenfalls alleine sitzen. Vorsichtig blickte er um sich und entdeckte ein Mädchen, das direkt hinter ihm ebenso allein die Schulbank drückte. Schon in der Aula war es ihm aufgefallen. Das Mädchen trug weite Jeans, ein weißes T-Shirt, eine grüne Wollweste und Turnschuhe. Das brünette Haar, straff nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, betonte eine hohe Stirn. Das augenscheinlichste Merkmal jedoch war die korpulente, unübersehbar dicke Figur. Er spürte förmlich die Unsicherheit des Mädchens, als sich ihre Blicke fanden. Mit einem kurzen, aufmunternden Augenzwinkern forderte Chris es kopfnickend auf, einen Platz nach vorn, direkt neben ihn, zu wechseln. Schüchtern folgte das Mädchen seinem Angebot.

      »Wunderbar.« Miss Rudolph klatschte einmal in die Hände, offensichtlich ihrer Freude Ausdruck verleihend, dass jedes der Kinder eigenständig einen Stuhl gefunden hatte. »Ich schlage vor, wir nutzen den Tag, um uns besser kennenzulernen. Für die ersten drei Jahre bin ich eure Lehrerin. Mein Name ist Daniela Rudolph und ihr seid meine erste Klasse, die ich auf diesem Weg begleiten darf. Meine Hobbys sind Lesen, Squash und den Urlaub verbringe ich am liebsten am Meer mit Tauchen. Jetzt kann jeder ein wenig von sich erzählen. Wir fangen am besten gleich mit dir an.« Damit lächelte sie aufmunternd einer Schülerin zu, die in der vordersten Reihe saß.

      Das Gesicht des Mädchens verfärbte sich von zartrosa in ein tiefes Rot. »Mein … mein Name ist Jodi Smith. Ich habe zwei ältere Brüder, die ebenfalls an dieser Schule sind. Meine Hobbys sind Spielen und Faulenzen.« Die Klasse lachte über letztgenanntes Hobby, was dazu führte, dass Jodi wie ein Feuermelder leuchtete.

      »Sehr schön, Jodi. Faulenzen ist auch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.« Miss Rudolph strahlte sie an, was Jodi sichtlich erleichterte.

      Nacheinander führte Schüler für Schüler aus, wie er hieß und was er am liebsten in seiner Freizeit unternahm. Dann war Rotschopf an der Reihe.

      »Mein Name ist Scott Fitzgerald Hunt. Ich spiele Football und lerne Karate.« Dabei schlug er eine schwammig-fette Faust in die Handfläche der anderen Hand. »Und dann bin ich der beste Rennfahrer auf meiner Playstation.«

      »Sehr schön«, versicherte Miss Rudolph und nickte, um Chris anzudeuten, dass er als Nächster an die Reihe kam.

      »Chris Owen. Ich verbringe viel Zeit mit meiner Familie, meiner Schwester Meira, Mom, Elias und Grandma. Ich lese viel und gerne.«

      Miss Rudolph blickte in die roten Augen des neuen Schülers und spürte die funkelnde Kraft, die diese ausstrahlten. »Du liest gerne? Was liest du denn am liebsten?« Sie war von der Direktorin aufmerksam gemacht worden, dass Chris, wenn man seiner Mutter Glauben schenkte, außergewöhnlich war.

      Sich seiner Begabung bewusst, überlegte Chris einen Augenblick, bevor er sprach. Im Versuch, nichts Unnatürliches von sich zu geben, antwortete er korrekt, wenngleich ausweichend: »Alles, was sich mir so bietet.«

      »Und was wäre das?« Miss Rudolph ließ nicht locker und Chris fühlte geradezu ihre Neugier.

      »Bücher halt«, gab Chris lapidar zur Antwort, während er ein wenig verunsichert zu Scott Fitzgerald blickte, der ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte.

      »Schön.« Miss Rudolph lächelte besänftigend, als sie zur letzten, für sie offenbar entscheidenden Frage ausholte. »Welches Buch hast du denn zuletzt gelesen?«

      Jetzt gibt es kein Entrinnen, überlegte Chris. »Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings«, antwortete er wahrheitsgemäß.

      Das Erstaunen hierüber spiegelte sich im Gesicht der Lehrerin wider. Sie hatte zwar von diesem Roman gehört, ihn aber nicht gelesen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Dann kommen wir zu dir – du musst Alica sein. Hab ich recht?«

      Die Banknachbarin von Chris lächelte, während sie zustimmend nickte. »Ich heiße Alica Adams und bin bald sieben. Meine Hobbys sind …«

      »Hamburger«, flüsterte Scott Fitzgerald gerade so laut, dass es jeder in der Klasse hören konnte. Alle lachten des gemeinen Spaßes wegen, außer Chris, Miss Rudolph sowie Alica selbst.

      »Scott Fitzgerald. Wie ich höre, hast du der Klasse etwas mitzuteilen. Allerdings ist es mir offenbar entgangen, dass ich dich um einen Beitrag gebeten habe.« Die knappe Ansage der Lehrerin saß. Mit eingezogenem Kopf war Scott nicht in der Lage, dem Blick von Miss Rudolph standzuhalten. Seine Gesichtsfarbe glich sich den roten Sommersprossen an. »Also, Alica, fang noch mal an!«

      Doch Alica war außerstande, zu antworten. Zwei Tränen rollten ihr langsam über die feisten Wangen.

      »Alica Adams. Sie heißt Alica Adams. Sie liebt es, morgens in den Garten zu gehen, dann, wenn sich die ersten Sonnenstrahlen im Tau der Blätter spiegeln. Ihr bester Freund heißt Sammy, ein munterer Cocker Spaniel, der ebenfalls mit in den Garten kommt. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter helfen muss, malt sie gerne. Bunte Bilder von Regenbogen und hohen Bergen.«

      Alica blickte verwundert

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