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und die Fassade eines ihm gegenüberstehenden, noch höheren Wohnhauses spiegelten. Hinter den Fenstern befanden sich Gardinen und Blumentöpfe und ein Käfig mit einem Kanarienvogel und eine Katze auf einer Wolldecke, und eines der Fenster stand offen, und ein Mann sah heraus und blies den Rauch einer dicken, braunen Zigarre in die Luft.

      »Hm«, sagte Großvater und betastete noch einmal seine an der Haut klebende Kleidung.

      Die Bombe hatte den Koffer verbeult, und der Knoten seiner gestreiften Krawatte hatte sich gelöst, und als er versuchte, einige Algen aus seinem Gesicht zu entfernen, berührte er etwas Lebendiges, einen Wurm oder einen Lurch, woraufhin es ihn vor Ekel schüttelte, und als er danach seinen Kopf wieder hob, blickte er in das Gesicht einer jungen Frau.

      »Hm«, sagte Großvater, und dann noch einmal: »Hm.«

      Eigentlich war ihm danach, noch mehrere Male »hm« zu sagen. Weil er sich so wunderte. Weil er mit allem gerechnet hatte, aber nicht damit, hier einer Frau zu begegnen. Er hatte mit Polizisten gerechnet, mit Landstreichern oder einer Gruppe lärmender Fabrikarbeiter, aber nun war es eine junge Frau. Hm. Großvater begann sich noch unwohler zu fühlen als vorher. Niemand begegnet gern einem Fremden, wenn er in einem schlammverkrusteten Anzug im schmutzigen Wasser eines Dorfbaches sitzt, und schon gar nicht einer hübschen jungen Frau. Denn hübsch war sie, das hatte Großvater auf den ersten Blick bemerkt. Sie trug kurz geschnittenes Haar, und das machte ihre Augen groß, viel größer, als sie es bei langem Haar gewesen wären, und weil sie ein schmales, beinahe dünnes Gesicht besaß, wirkte auch ihr Mund viel größer, als er eigentlich war. Großvater fand beides phänomenal.

      »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

      »Nichts«, sagte Großvater, »das sieht schlimmer aus, als es ist.«

      Allerdings wusste er überhaupt nicht, wie schlimm es aussah. Tatsächlich sah es extrem schlimm aus. Noch schlimmer konnte etwas eigentlich nicht aussehen. Die junge Frau bückte sich und streckte ihren Arm zu Großvater herunter.

      »Sind Sie verletzt?«, fragte sie. »Da, nehmen Sie meine Hand!«

      »Unsinn«, sagte Großvater, »das geht schon!«

      »Nun stellen Sie sich nicht so an!«, sagte die junge Frau. »Sie können ja nicht ewig da unten sitzen bleiben!«

      »Na gut«, sagte Großvater. »Wie Sie wollen!«

      Er fasste nach der ihm entgegengestreckten Hand und versuchte, sich aufzurichten. Es gelang ihm nicht sofort. Mehrmals gab der Boden unter ihm mit einem glucksenden Geräusch nach und Großvater rutschte wieder zurück ins Bachbett. Aber es war seltsam. In dem Moment, als er nach der Hand der jungen Frau fasste, geschah etwas Unglaubliches: Er hatte plötzlich das Gefühl, sie nie wieder loslassen zu können. Das passierte ihm später noch häufig, aber weil es das erste Mal war, irritierte es ihn gewaltig. So was Verrücktes, dachte Großvater, wenn ich das später irgendjemandem erzähle, das glaubt mir keiner. Dann aber schaffte er es, die Böschung zu überwinden, hievte den Koffer nach oben, und erst als er sich bückte, um seine Schuhe auszuziehen und das Wasser herauszuschütteln, ließ er die Hand der jungen Frau wieder los.

      »Vielen Dank«, sagte er, »das war sehr freundlich von Ihnen!«

      »Schon gut«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre etwas Ernstes«.

      »Zum Glück nicht«, sagte Großvater, und dann fiel ihm plötzlich nichts mehr ein, was er hätte sagen können. Deswegen sagte er wieder einmal: »Hm.«

      »Was haben Sie denn eigentlich da unten gemacht?«, fragte die junge Frau.

      »Ach, nichts«, sagte Großvater. »Ich habe etwas zu erledigen, verstehen Sie?«

      »Nein.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Was denn?«

      »Ich muss eine Bombe in einer der Machtzentralen der herrschenden Klasse zünden, das ist alles«, sagte Großvater.

      »Was?«, rief die junge Frau.

      »Eine Bombe«, sagte Großvater.

      »Halten Sie das für eine gute Idee, davon gleich dem ersten Besten, dem Sie begegnen, zu erzählen?«, fragte die junge Frau.

      »Das kann ruhig jeder wissen!«, sagte Großvater.

      »Glauben Sie wirklich?«, fragte die junge Frau.

      »Absolut«, sagte Großvater.

      »Na, wenn Sie denken«, sagte die junge Frau. »Aber erst müssen wir Ihre Sachen trocknen. Sie sehen vielleicht aus!«

      »Ach, das wird schon«, sagte Großvater.

      »Das wird überhaupt nicht«, sagte die junge Frau und machte ihre Augen noch größer, als sie ohnehin schon waren.

      »Na schön«, sagte Großvater, hauptsächlich wegen ihrer Augen. Und dann nahm er wieder ihre Hand und ging mit ihr die Straße an den großen Wohnhäusern entlang hinein in die Stadt.

      Die Straße bestand aus grauen, runden Pflastersteinen, und lange, dunkle Frühlingsschatten lagen vor den Mauern. Großvater spürte, wie die Kälte an ihm hochzukriechen begann, aber er ließ es sich nicht anmerken. Genauso, wie er es nicht zeigte, dass es ihm unangenehm war, wenn sich die Leute nach ihm umdrehten, weil er einen nassen, zerknitterten Anzug trug. Es half ja nichts. Nachdem sie ein Stück gelaufen waren, veränderte sich das Stadtbild. Die Häuser wurden kleiner und kaputter, und überall auf den Wegen, Zäunen und Dächern saßen Scharen von Tauben. Man hatte ihretwegen spitze Nägel auf den Dächern angebracht, aber die Tauben hockten zwischen ihnen und hoben und senkten ihre Köpfe auf der Suche nach Futter.

      »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Großvater die junge Frau. Wenn er mit ihr reden wollte, war es einfacher, ihren Namen zu kennen.

      »Else«, sagte sie.

      »Und ich heiße Bruno«, sagte Großvater, und dann sagte er: »Wollen wir vielleicht du zueinander sagen?«

      »Ja, klar, warum nicht?«, sagte Else.

      Ein Mann kam vorbei. Er hinkte, und auf der rechten Seite, dort, wo sein Bein kürzer war, bog er seinen Kopf seitlich nach unten. Als er Großvater in seinen nassen, schmutzigen Kleidern sah, hob er den Kopf und schüttelte ihn mehrmals hin und her. Aber Großvater bemerkte ihn nicht. Weil er nur Augen für Else hatte.

      »Bruno«, sagte Else nach einer Weile, »hier gibt es keine Machtzentrale!«

      »Muss es aber«, sagte Großvater.

      »Ich wüsste nicht wo«, sagte Else.

      »Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Großvater.

      »Das Beste wird sein, du wirfst die Bombe weg, hörst du?«, sagte Else.

      »Das fehlte noch!«, sagte Großvater. »Die Bombe wegwerfen! Also wirklich!«

      Else strich mit ihrer Hand langsam an Großvaters nassem Unterarm entlang. Er war wirklich ungeheuer nass.

      »Weshalb ist es denn überhaupt nötig, die Bombe zu zünden?«, fragte sie.

      »Um die Welt gerechter zu machen«, sagte Großvater, und er sagte es so ernst und bestimmt, dass Else ganz beeindruckt war.

      »Hm«, sagte sie, obwohl es eigentlich Großvaters Art war, immer »hm« zu sagen.

      »Es ist doch für eine gute Sache«, versuchte Großvater zu erklären.

      »Eine Bombe bleibt eine Bombe«, sagte Else.

      »Ich weiß«, sagte Großvater. »Ein Verbot von Dummheit wäre mir viel lieber gewesen, das kannst du mir glauben!«

      »Ein Verbot von Dummheit?«, wunderte sich Else. »Das gefällt mir auch viel besser. Ja, aber wie soll man das machen?«

      »Eben«, sagte Großvater.

      Auch das Dach des Hauses, in dem Else wohnte, war voller Nägel, und auch hier hockten die Tauben zwischen ihnen, und sie flogen selbst dann nicht weg, als Else die Tür

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