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man vor den Konterrevolutionären sicher sein. Sie kämpften für vorrevolutionäre Verhältnisse, noch bevor die Revolution überhaupt stattgefunden hatte. Sie waren fanatisch. Ihnen machte man nichts vor. Die sahen einem den Revolutionär schon von weitem an, egal, wie sehr man sich um Unauffälligkeit bemühte.

      Na ja, dachte Großvater, das war es dann wohl.

      Wahrscheinlich würden sie jetzt die Zündschnur austreten oder ihn erschießen, vielleicht auch beides. Das Risiko hatte von Anfang an bestanden. Neben all den anderen Risiken wie im Dorfbach zu ertrinken, keine Machtzentrale zu finden, von einer Seuche dahingerafft zu werden, einen Fahrradunfall zu haben. Nein, das letzte wohl nicht.

      Wenn ich doch wenigstens wüsste, wie Lenin aussieht!, dachte Großvater.

      Er richtete sich ein wenig auf, um über die Mauer hinwegsehen zu können, nur so weit, dass seine Augen nicht mehr von den Steinen verdeckt waren, und wurde augenblicklich von einer grenzenlosen Panik erfasst. Vor dem Eingang des Rathauses, dort, wo auf den Treppenstufen die Bombe lag, stand Else.

      »Else!«, schrie Großvater. »Weg da!«

      Else drehte ihren Kopf in seine Richtung, aber bewegte sich keinen Schritt.

      »Else!«, schrie Großvater noch einmal. »Lauf weg, schnell!«

      In allen Fenstern des Rathauses ging das Licht an, aber Else stand da und schien nicht zu wissen wohin. Natürlich begriff Großvater sofort, weswegen sie dort, vor dem Rathaus, stand. Um ihn vom Zünden der Bombe abzuhalten. Als sie bemerkt hatte, dass er sich nicht mehr in der Wohnung befand, war sie zum Rathaus gelaufen. Was denn sonst. Sie wollte ja von Anfang an, dass er die Bombe wegwarf.

      »Wirf sie weg!«, hatte Else gesagt. Immer wieder: »Wirf sie weg!«

      »Um Himmels Willen!«, schrie Großvater. »Nein!«

      Er sprang hinter der Mauer hervor, rannte auf Else zu. Die Zündschnur war schon fast abgebrannt, die Flamme kroch bereits entlang der Treppenstufen nach oben.

      »Komm jetzt!«, rief er, packte Else am Arm, riss sie mit sich nach unten, und dann begann er zu rennen, mit ihr an der Hand zu rennen, er rannte, so schnell er nur konnte, und ließ sie nicht wieder los.

      Hinter ihnen explodierte die Bombe. Mit einem Knall, der sich anhörte, als würde der Himmel zerplatzen. Ziegelsteine, Stücke des eisernen Geländers, Glassplitter, Holzleisten und Zementbrocken schossen nach allen Seiten durch die Luft und stürzten viele Meter entfernt wieder zu Boden. Großvater und Else spürten die Druckwelle im Rücken. Wie eine physische Berührung, wie einen harten Stoß oder Schlag, der sie mit ungeheurer Kraft nach vorn schob. An den umliegenden Häusern begannen die Fassaden zu vibrieren. Grauer Putz fiel auf den Bordstein. Fensterscheiben klirrten. Und Großvater und Else rannten und rannten, während sich hinter ihnen eine riesige Staubwolke auszubreiten begann.

      Was habe ich nur getan?, dachte Großvater. Was habe ich nur getan?

      Und dann tauchten die ersten Polizisten aus der Staubwolke auf. Mehrere Kommandos wurden gerufen. Und etwas, das sich wie ein Schuss anhörte, donnerte über sie hinweg. Völlig sicher, dass nun tatsächlich alles aus war, blieb Großvater stehen.

      »Rotfront!«, rief er voller Verzweiflung, drehte sich um und schwenkte aus der Bewegung heraus seinen Koffer.

      »Du Idiot!«, keuchte Else. »Hör auf damit!«

      »Warum denn?« Großvater stellte den Koffer resigniert neben sich ab. »Das ist doch nun eh alles egal!«

      »Ich will aber nicht ins Gefängnis!« Else schnappte noch immer nach Luft. »Dann bin ich lieber illegal.«

      »Was?«, rief Großvater, und dieses Mal war es Else, die wieder zu laufen begann und Großvater mit sich zog.

      »Illegal!«, schrie Else. »Illegal heißt, es gibt keinen Platz mehr für uns, verstehst du das? Sie werden uns überall suchen! Überall, hörst du? Und jetzt wirf endlich den Koffer weg!«

      Da warf Großvater den Koffer weg und Else zerrte ihn an seinem Arm immer weiter und weiter.

      »Hier lang!«, rief sie.

      Und dann rannten sie an der Mauer entlang, und hinter ihnen waren die Schritte der Polizisten, und in der Ferne fielen einige Steine zu Boden und rollten noch ein Stück über den Rathausplatz, bevor sie schließlich weit verstreut im Staub liegen blieben.

      Die Mauer ist ja länger als die Welt!, dachte Großvater, während er mit großen Schritten Else folgte, sich mit der freien Hand sein Zwerchfell hielt und keuchend nach Luft schnappte. Wahrscheinlich hört sie nie wieder auf!

      Aber dann war die Mauer doch zu Ende, und Else und er liefen hinunter in die Stadt, dorthin, wo Else sich auskannte und einen Platz fand, an dem sie kurz verschnaufen konnten. Beide standen nach vorn gebeugt, hatten die Hände auf ihre Oberschenkel gestützt und holten tief Luft.

      »Du hättest sie wegwerfen sollen!«, sagte Else.

      »Ich weiß«, schnaufte Großvater.

      »Versprich mir, dass du nie wieder nicht auf mich hörst!«, verlangte Else.

      »Ich verspreche es«, sagte Großvater, und dann rannten sie wieder los. Dort entlang, wo es so dunkel war, dass selbst die Polizei sich nie sehen ließ, durch enge Gassen zwischen finsteren Häuserfluchten, auf schmalen Wegen entlang schmutziger Hinterhöfe und lärmender Fabrikhallen. Zum Glück wusste Else, wo sie sich befanden. Großvater nahm außer der Bewegung seiner Beine nichts mehr wahr. Nicht einmal das keuchende Geräusch, das er beim Atmen erzeugte. Die Welt hatte ihre Gestalt verloren. Ihm schien es, als liefe er durch das eine Nichts in das nächste Nichts. Und plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke.

      Vielleicht, dachte er, vielleicht ist ja das Nichts die Gerechtigkeit. Vielleicht ist das Nichts das, wonach wir suchen. Das Nichts macht alles gleich. Es gibt kein gutes oder schlechtes Nichts. Niemand streitet sich um nichts. Wegen nichts müssen keine Bomben gezündet werden. Für nichts benötigt man keine Revolution. Alles, was wir brauchen, ist nichts. Kein anders verteilter Besitz, sondern überhaupt kein Besitz. Einfach nichts. Das wäre gerecht.

      Für einen Moment hielt Großvater das Nichts für die Lösung. Aber natürlich war es nicht die Lösung, weil sich kein Mensch mit nichts zufriedengeben würde. Keiner.

      Wie wir sehen, arbeitete es in Großvaters Kopf selbst in beinahe ausweglosen Situationen wie dieser, an einem kalten Morgen in einer fremden Stadt auf der Flucht vor der Polizei, an der Hand einer hübschen jungen Frau, die Else hieß, und Else zog Großvater noch immer hinter sich her, und er folgte ihr durch die ganze Stadt bis dorthin, wo die Schrebergärten aufhörten und der Bahndamm begann. Von da an liefen sie nur noch die Schienen entlang. Über Holzbohlen und Schottersteine und Disteln und Brennnesseln bis zu den langen Baracken des Güterbahnhofs und dann weiter in die Bahnhofshalle, und auf einem der Gleise stand ein Zug, und die Lokomotive stieß weißen Dampf aus ihren Kesseln, und die Schienen bebten leicht unter der Kraft der bereits arbeitenden Motoren und der Last der schweren Waggons.

      »Schnell«, rief Else, »schnell steig ein!«

      »Hier?«, fragte Großvater, während er die Waggontür aufriss.

      »Ja«, schrie Else, »mach jetzt!«

      Da sprang Großvater die Stufen nach oben, drehte sich um und hielt Else seine Hand entgegen. Else nahm sie und Großvater rief »Festhalten!« und zog Else zu sich in den Waggon.

      »Das war ja ganz schön knapp!«, konstatierte er, noch immer außer Atem.

      »War?«, fragte Else und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurz geschnittenes Haar. »Mach dir bloß keine Illu­sio­nen. Das ist noch nicht vorbei. Noch lange nicht. Darauf kannst du dich verlassen!«

      Und dann schlug sie die Tür hinter sich zu und ließ sich auf einen der gepolsterten Sitze fallen. Im selben Moment fuhr der Zug an, und die Polizei kam und umstellte den Bahnhof, aber sie waren nur zu fünft, und außerdem war es zu spät, und der Zug hatte die Halle schon verlassen.

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