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leichter.

      »Jetzt lass Genosse Frank doch nicht so lange warten! Das ist unhöflich, hörst du?«, gab Herbert zu bedenken.

      Da blickte Großvater Herbert unendlich vorwurfsvoll an, zog das Papier zu sich herüber, nahm seinem Freund den Füllfederhalter aus der Hand, seufzte und unterschrieb. Widerwillig und nur, weil er nicht unhöflich sein wollte. So war er eben. Großvater trat aus Höflichkeit in die Kommunistische Partei ein. Das ist die Wahrheit. Alles, was später über seine politischen Anschauungen und Aktionen gesagt wurde, hat damit seinen Anfang genommen. Großvater war aus Höflichkeit Parteimitglied geworden, und Herbert, weil er ein Fahrrad wollte. Aber daran ist nichts ungewöhnlich oder verwerflich. Die meisten Revolutionen, mögen sie mit noch so komplizierten politischen Theorien unterfüttert sein, beruhen auf ganz einfachen menschlichen Eigenschaften wie Habgier und Naivität. Das macht sie so attraktiv für viele. Herbert betrachtete sich übrigens, bereits kurz nachdem er seinen Parteieintritt besiegelt hatte, als Fahrradbesitzer. Und als er wenig später den Hügel zur Straße hinunterging, bewegte er seine Beine auf dieselbe Weise wie Genosse Frank, wenn er in die Pedale trat.

      Großvater, in dessen Kopf es, wie wir wissen, unentwegt arbeitete, begann darüber nachzudenken, was nun alles anders werden würde, jetzt, wo sie Genossen waren. Mit seiner Unterschrift hatte er einen Strich unter sein bisheriges Leben gemacht. Keine Frage. Kaum etwas würde so bleiben können wie bisher. Mit seiner Unterschrift hatte er sich verpflichtet, die Welt zu verändern. Das musste er jetzt irgendwie hinkriegen.

      Was bin ich nur für ein Idiot, dachte Großvater. Hätte ich doch bloß nicht unterschrieben!

      Dafür war es jetzt allerdings zu spät und die zigarrenförmige Wolke über ihm bedeckte mittlerweile die Hälfte des Himmels.

      Bevor sich Genosse Frank wieder in den Sattel geschwungen hatte und mit dem Ruf »Das nächste Mal komme ich mit einem Motorrad!« um die nächstbeste Kurve geschossen war, hatte er Großvater und Herbert zwei Parteiausweise und ein Traktat überreicht. Dieses Traktat stellte ein kurzes, auf wenigen Seiten zusammengefasstes, leicht verständliches Kompendium der wichtigsten Regeln des Klassenkampfes dar. Eigentlich wusste man schon nach der Lektüre der ersten Seite alles: Die da oben mussten weg, und die da unten mussten dorthin, wo jetzt die da oben waren. Kampf den Bonzen. Mit allen Mitteln. Vorbereitung und Durchführung der Weltrevolution.

      Weltrevolution?, fragten sich Großvater und Herbert. Was denn für eine Weltrevolution? Der Begriff haute sie beinahe um. Als Großvater und Herbert Welt­revolution lasen, hoben sie ihre Köpfe und sahen sich an. Der Begriff faszinierte sie derartig, dass sie ihn mehrmals Silbe für Silbe wiederholten. Welt–re–vo–lu–ti–on. Was für ein Wort! Als Großvater und Herbert zum ersten Mal mit der Weltrevolution konfrontiert wurden, waren sie völlig geplättet. Weltrevolution klang einfach unglaublich. Weltrevolution erzeugte sofort jede Menge Romantik. Man sagte Weltrevolution und schon lief ein ganzer Film voller Abenteuer und leidenschaftlicher Affären vor einem ab. Manchmal kam noch ein bisschen Dschungel dazu. Und ein paar wilde Tiere, Löwen, Schlangen und so. Die Weltrevolution beeindruckte Großvater und Herbert mehr als die Diktatur des Proletariats oder der Historische Materialismus. Die Weltrevolution und das Motorrad, von dem Genosse Frank gesprochen hatte. Beides hörte sich nach etwas Monumentalem an.

      Die Begeisterung war ihnen noch anzusehen, als sie von Anita angesprochen wurden, von genau der Anita, die Egon und Anton geküsst hatte und Herrn Gerstner nicht und die sonst nie mit Großvater und Herbert sprach, sie nicht einmal bemerkte, um bei der Wahrheit zu bleiben. Anita war ganz zufällig vorbeigekommen. Aber »ganz zufällig« bedeutete natürlich: aus purer Neugier.

      »Wer ist denn dieser gutaussehende Sportler gewesen?«, fragte sie und drehte eine Strähne ihres Haares um ihren Zeigefinger.

      »Er heißt Frank und ist KP-Mitglied. Wie wir!«, gab Herbert an.

      Anita nahm den Finger aus ihrem Haar, zog ihre Augenbrauen hoch und schaute Herbert direkt ins Gesicht. »Dass ihr in der KP seid, ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit zwischen euch und ihm«, sagte sie und drehte ihren Kopf abrupt zur Seite. »Kommt der auch mal wieder?«

      »Klar«, sagte Herbert.

      »Schon bald?«, fragte Anita.

      »Bestimmt«, sagte Großvater.

      »Und wann genau?«, fragte Anita.

      »Hat er nicht gesagt«, sagte Herbert.

      Der Wind ließ ein trockenes Blatt über die Straße tanzen. Es wirbelte quer über die Fahrbahn, drehte sich um sich selbst, schoss ein Stück nach vorn und wurde vom nächsten Luftzug zurückgetragen. Großvater und Herbert kamen aus dem Staunen nicht heraus. Seit sie in der Kommunistischen Partei waren, lief es einfach großartig für sie. Nicht allein, dass die Welt von nun an gerechter werden und ihnen bald ein Fahrrad gehören würde – auf einmal sprach sogar Anita mit ihnen.

      »In die Partei einzutreten war die beste Entscheidung unseres Lebens«, sagte Herbert.

      »Abwarten«, sagte Großvater.

      »Du wirst schon sehen«, sagte Herbert.

      »Oder du«, sagte Großvater.

      Das Blatt wirbelte noch immer über die Straße, es hob und senkte sich und schwebte schließlich bis weit hinunter ins Dorf.

      »Ihr und die Partei!«, sagte Anita. »Ihr tut ja gerade so, als ob die ein Lotterie-Hauptgewinn wäre!«

      »Na und?«, fragte Herbert.

      »Ach nichts. Nur so«, sagte Anita.

      »Die Revolution ist nicht aufzuhalten!«, rief Herbert.

      »Ihr müsst es ja wissen«, sagte Anita.

      »Rotfront!«, rief Herbert.

      »Das wird mir jetzt aber zu blöd«, sagte Anita, zog ihren Rock straff und stakste quer über die Wiese dorthin zurück, wo sie vor wenigen Minuten hergekommen war.

      »Die kapiert es nicht«, sagte Herbert.

      »Nee«, sagte Großvater, »die kapiert es wirklich nicht.«

      Dann, nach einiger Zeit, als es wirklich Sommer geworden war, hatte in all dem Licht und der Wärme die Weltrevolution ein wenig an Dringlichkeit verloren. Herbert hatte jede Menge Hühner geschlachtet und Großvater war mit der Buchführung des Sägewerks beschäftigt gewesen. Dazwischen hatten sie auf der menschenleeren Dorfstraße Fußball gespielt, und einmal war Herbert mit Gisela ausgegangen, aber bei diesem einen Mal war es geblieben, und weil Herbert nicht gern darüber redete, lag der Schluss nahe, dass es weder Gisela noch ihm besonders gut gefallen hatte. Trotzdem, Sommer war Sommer, und erst als die Tage wieder kürzer wurden, der Himmel sich verfinsterte und die Temperaturen zu sinken begannen, kehrte der Bedarf an einer Neuregelung der Weltordnung in Großvaters und Herberts Universum zurück.

      »Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind unerträglich geworden«, konstatierte Herbert eines Abends. Er hatte noch etwas Blut und einige Federn an seiner Hand und versuchte, sie durch heftiges Schütteln loszuwerden.

      »Der Kapitalismus fault in seinem letzten Stadium«, bekräftigte Großvater.

      »Das ganze ekelerregende System verrottet auf die übelste Weise«, fügte Herbert hinzu und begann, seine Hand an der Hose zu reiben.

      »Man kann seine Verwesung förmlich spüren.« Großvater nickte mehrmals, während er einer an ihm vorbeischwebenden Hühnerfeder nachsah.

      »Es widert mich an«, sagte Herbert. »Aber das geht nicht mehr lange, verlass dich darauf!«

      Sie standen vor einer der Scheunen am Dorfrand und der Oktober zog über die Wiesen und die Kastanien hatten braune Blätter und von Tag zu Tag bedeckten mehr und mehr Spinnweben voller Wassertropfen das Gras.

      »Wohin man sieht, das Alte gärt überall. Der Boden für die Revolution ist bereitet!«, sagte Großvater.

      »Und wie!«, sagte Herbert.

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