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auch mal an das Fahrrad?«

      Das mit dem Fahrrad verhielt sich folgendermaßen: Großvater und Herbert waren befreundet. Schon als Kinder waren sie im Sommer über die gelben Felder gerannt und im Winter über die an den Straßen aufgetürmten Schneehaufen geklettert. Sie hatten Milch in einer Blechkanne von den Bauern geholt und Holz zum Heizen aus dem Wald. Sie hatten gesehen, wie Egon, der Schweinezüchter, Anita geküsst hatte und Anita Anton, den Schreiner, und auch wie Egon Anton geküsst hatte und wie Herr Gerstner, der Besitzer des Sägewerkes, seinen Hund verprügelt hatte, bis der winselte, nur weil Anita ihn nicht küssen wollte. Sie waren beim Begräbnis des Pfarrers und beim Begräbnis des Totengräbers dabei gewesen und auch, als der Schuhmacher tobsüchtig wurde und mit einem Reitstiefel auf seine Frau losgegangen war. Sie hatten nachts das weiße Licht des Mondes auf den Hügeln gesehen und auch, wie der Sturm an einem Nachmittag im Frühling alle Blätter von den Bäumen gerissen hatte. Alles, was es in einem Dorf wie ihrem zu entdecken gab, hatten sie gemeinsam entdeckt. Das war nicht übermäßig viel und, abgesehen vom Begräbnis des Pfarrers und des Totengräbers, wiederholten sich die meisten Begebenheiten mehrmals im Jahr. Deswegen hatten Großvater und Herbert häufig stundenlang gelangweilt auf der Wiese gelegen, über die zum Trocknen aufgehängte Wäsche hinweg in den blauen Himmel gestarrt und von einem Fahrrad geträumt.

      »Mit einem Fahrrad könnten wir jetzt sonst wo sein«, hatte Herbert sinniert.

      »Ein Fahrrad wäre die Rettung«, hatte Großvater geantwortet.

      »Mit einem Fahrrad wäre ich in null Komma nichts weg!«, hatte Herbert weiter ausgeführt.

      »Wenn es auf der Welt gerecht zugehen würde, hätten wir längst ein Fahrrad!«, hatte Großvater behauptet.

      »Ja, wenn …«, hatte Herbert geseufzt.

      Jetzt waren sie fast zwanzig und ein Fahrrad besaßen sie immer noch nicht. Aber es war etwas geschehen, das ihren Traum von einer gerechteren Welt und, damit einhergehend, einem Fahrrad in greifbare Nähe gerückt hatte. Denn eines Tages, Anfang des letzten Sommers, war ein Mann ins Dorf gekommen. Ein Mann auf einem Fahrrad. Er trug eine braune Lederjacke und eine schwarze Elbsegler-Mütze und ein rotes, um seinen Hals geknotetes Tuch, und er bremste sein Fahrrad, indem er bei voller Fahrt sein linkes Bein ausstreckte und in den Boden rammte. Das Fahrrad schleuderte in einem Halbkreis um ihn herum, wirbelte eine helle Staubwolke auf und kam schließlich zum Stehen. Noch nie hatten Herbert und Großvater gesehen, dass jemand so lässig sein Fahrrad gestoppt hatte.

      »Meine Fresse!«, rief Herbert. »Der bremst wie Sau, oder?«

      Großvater war genauso beeindruckt, vermochte seiner Begeisterung aber nicht so adäquat Ausdruck zu verleihen wie Herbert. Deswegen nickte er nur mehrmals, so lange, bis der Mann in der Lederjacke sein Fahrrad an einen Baum gelehnt hatte, zu ihnen herübergekommen war und »Tag, Genossen« gesagt hatte. Noch während er »Tag, Genossen« sagte, streckte er ihnen übrigens seine rechte Hand entgegen. Es war eine typische Fahrradfahrerhand, die bereits anfing, an einigen Stellen einem Sportlenker zu ähneln.

      »Frank mein Name«, sagte er, »Genosse Frank!«

      »Herbert«, sagte Herbert.

      »Bruno«, sagte Großvater, denn er hieß Bruno, aber Genosse war er nicht, und das sagte er auch.

      »Was? Ihr seid noch keine Genossen?«, rief der Mann mit den Sportlenkerhänden. »Das gibt’s doch gar nicht! Na, da wird es aber Zeit! Die Welt bleibt schließlich nicht stehen, Jungs! Wenn ihr den Anschluss nicht verlieren wollt, müsst ihr in die Partei eintreten!«

      »Was denn für eine Partei?«, fragte Herbert.

      »Ihr lebt hier wirklich hinterm Mond, was?«, fragte Genosse Frank. »In die Kommunistische Partei natürlich, was denn sonst?«

      »Klar«, sagte Herbert, »die Kommunistische Partei. Ich bin aber auch ein Esel!«

      »Alles halb so schlimm«, sagte Genosse Frank, »in die Partei könnt ihr zu jedem Zeitpunkt eintreten. Aber je schneller ihr euch dazu entschließt, desto besser!«

      »Und warum sollten wir das tun?«, fragte Großvater.

      »Um die Welt gerechter zu machen!«, rief Genosse Frank und ballte seine Fäuste, so wie er es seinerzeit im Spartakusbund gelernt hatte.

      Herbert und Großvater sahen zuerst sich an und dann sahen sie zu Genosse Franks Fahrrad hinüber.

      »Gerechter? Was meinen Sie damit?«, fragte Großvater.

      »Was werde ich wohl damit meinen? Habt ihr etwa auch noch nichts von Gerechtigkeit gehört? Noch nichts von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Mensch Jungs, nun stellt euch doch nicht so an! Die Kommunistische Partei kämpft für eine Welt, in der alle gleich sind, gleich behandelt werden, gleich viel besitzen –«

      »Also kurz gesagt: Fahrräder für alle?«, schlussfolgerte Herbert.

      »So ungefähr. Die Lebensverhältnisse werden sich für euch entscheidend verbessern. Dafür steht die KP!«, verkündete Genosse Frank.

      »Die KP?«, fragte Großvater.

      »Kommunistische Partei«, sagte Genosse Frank.

      »Das war doch klar!«, sagte Herbert.

      »KP«, sagte Großvater. »Ich möchte wissen, was daran klar ist!«

      »Also, was ist nun?«, fragte Genosse Frank. »Wollt ihr nun Mitglieder werden oder nicht?«

      »Auf jeden Fall! Die Chance lassen wir uns nicht entgehen!«, rief Herbert.

      »Denkst du wirklich?«, gab Großvater zu bedenken.

      »Da überlege ich doch nicht lange! Was muss ich tun?«, jubelte Herbert.

      Genosse Frank öffnete die oberen Knöpfe seiner Lederjacke und tastete in seiner Innentasche nach einem zusammengefalteten Formular. Als er es gefunden hatte, zog er es behutsam mit Daumen und Zeigefinger heraus. Er bückte sich, legte es auf den Boden und strich ein paar Mal über das Papier, um es zu glätten.

      »Da!« Er zeigte auf eine noch unbeschriebene Zeile. »Name, Adresse und Unterschrift, und das war’s auch schon.«

      »Mehr nicht?«, fragte Herbert.

      »Nicht, dass ich wüsste«, sagte Genosse Frank.

      »Stift?«, fragte Herbert.

      »Ach ja, richtig«, sagte Genosse Frank, griff noch einmal in die Innentasche seiner Lederjacke, holte einen Füllfederhalter hervor und reichte ihn Herbert. Herbert schraubte den Verschluss ab und schrieb. Name, Adresse, Unterschrift.

      »Gratuliere«, sagte Genosse Frank und schüttelte enthusiastisch Herberts Hand. Dann drehte er sich zu Großvater herüber und fragte: »Und was ist mit dir?«

      Großvater war etwas unschlüssig. »Ich weiß nicht«, sagte er.

      »Liegt dir etwa nichts daran, die Welt gerechter zu machen?«, fragte Genosse Frank.

      »Doch, schon, natürlich. Was denn sonst?«, antwortete Großvater. »Das ist doch gar keine Frage!«

      »Dann musst du dich der Partei anschließen«, sagte Genosse Frank. »Einer allein kann die Welt nicht verändern. Nur gemeinsam sind wir stark!«

      Großvater gefiel es nicht, sich so schnell entscheiden zu müssen. Deswegen blickte er an Genosse Frank vorbei in den blauen Sommerhimmel, presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Genosse Frank ging leicht in die Hocke, beugte sich nach vorn und strich sich mit den Handflächen über die Seiten seiner Oberschenkel. Auf und ab, auf und ab.

      »Ja oder nein?«, drängte er. »Ich habe schließlich nicht ewig Zeit!«

      »Na los! Nun komm schon!«, rief Herbert.

      »Du nervst!«, sagte Großvater.

      »Na, was ist nun?«, fragte Genosse Frank.

      Großvater

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