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       Kapitel Fünf

      JIMMY

       Heart’s Bend, Tennessee

       17. September 2015

      Also wirklich, war das nicht komisch? Zweimal in einer Woche? Welche Wendung wollte Gott seinem Leben denn nun wieder geben?

      Jimmy legte den Hörer auf die Gabel und starrte aus dem Fenster über der Spüle. Seine Kapelle. Die er über sechzig Jahre lang dunkel und alleingelassen hatte. Und plötzlich kamen von überall her Leute und wollten einen Blick darauf werfen.

      Nachdem die Kapelle weitab vom Schuss die River Road runter lag, hätte er nicht gedacht, dass jemand außer ihm, seinem lieben verstorbenen Dad und dem Landvermesser überhaupt davon wusste.

      Aber dann hatte da so ein Bursche vom Architecture Quarterly angerufen, der einen Fotografen hinschicken wollte. Der sagte, sie wollten eine Ausgabe über klassische amerikanische Hochzeitskapellen machen. Jimmy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie überhaupt auf den Ort gekommen waren.

      Als Jimmy nachfragte, sagte der Mann, er wisse das auch nicht. Aber wenn Jimmy tatsächlich eine Hochzeitskapelle im Wald versteckt hätte, würden sie gerne in ihrem Magazin darüber berichten.

      „Wir haben gehört, sie soll eine echte Schönheit sein.“

      Von wem? Der Immobiliengutachter Arnold Rowland hatte keine Verbindungen zum Architecture Quarterly, da war sich Jimmy ganz sicher.

      Das war auf jeden Fall eine sehr mysteriöse Sache.

      Und gerade jetzt hatte auch noch ein Immobilienmakler angerufen. Keith Niven sagte, er wolle sich das Gebäude anschauen und hätte sogar einen Käufer an der Hand, falls Jimmy interessiert wäre.

      „Ich bin hier draußen auf Ihrem Grundstück, und, also, Junge, Junge, Coach, was machen Sie denn mit diesem Ding?“ Keith hatte laut und durchdringend gepfiffen und Jimmy gegenüber den Eindruck hervorgerufen, er sei von dem Gebäude beeindruckt. Oder war das nur Verkäufergehabe? „Wollen Sie verkaufen?“

      „Nein“, war Jimmys spontane Antwort. Aber er hielt sich damit zurück, sagte nichts. Vielleicht war es an der Zeit. Wenn nächste Woche erst einmal der Fotograf von Architecture Quarterly da war, würde er sowieso allerhand Anfragen bekommen. Da konnte er Keith ebenso gut einen Vorsprung lassen.

      „Ich fahre raus. Gib mir zehn Minuten.“

      „Fantastisch.“

      Mit diesem Morast in seinem Kopf fischte Jimmy seine Autoschlüssel aus der Obstschüssel neben der Küchentür und trat hinaus in die Mittagssonne. Der Sommer hatte die Septembertage immer noch fest im Griff, heiß war es.

      Aber so war es eben in Tennessee. Er hatte mehr als genug Herbstnachmittage von den sengenden Sonnenstrahlen rösten lassen, während er Footballtrainings leitete und Jungen zu Männern aufgebaut hatte.

      Dann legte Gott irgendwann den Schalter um, senkte die Temperaturen, färbte die Bäume mit der Herrlichkeit des Himmels und machte das Leben mit dem perfekten Footballwetter umso schöner.

      Er vermisste diese Tage. Ihm fehlte etwas, das seinem Leben Bedeutung verlieh. Aber als er vor neun Jahren vierundsiebzig geworden war, hatte er den Glockenschlag der Zeit gespürt und gewusst, dass es an der Zeit war, die Verantwortung des Footballprogramms an der Rock Mill Highschool einem jüngeren Mann zu überlassen.

      Außerdem machte Tom Meyers seine Sache sehr gut. Er hatte zwar noch keinen nationalen Titel gewonnen, aber das war heute auch schwerer als zu Jimmys Zeiten.

      Während er zu seinem Auto ging, sprangen seine Gedanken vom Football zur Kapelle, genauer gesagt zu Keiths Vorschlag. Er war ein junger Kerl, dieser Immobilienmakler, und, soweit Jimmy wusste, ein guter Mann. Sein Vater hatte in einer von Jimmys Championship-Mannschaften gespielt.

      Jimmy ließ sich hinter dem Steuer nieder, warf den Motor an und zögerte dann mit der Hand auf dem Schaltknauf. Seine alte Kapelle … Die Erinnerungen kamen an die Oberfläche …

      Mist, jetzt hatte er doch den Schlüssel zur Kapelle vergessen.

      Er ließ den Wagen im Leerlauf stehen, ging zurück ins Haus, durch die Küche ins Wohnzimmer, dann nach oben. In seinem Zimmer, unter der Dachgaube, öffnete er die schmale Halbtür zum Dachboden und kletterte hoch.

      Gebückt tastete er sich durchs Dunkel und holte ein kleines Kästchen aus Zedernholz hervor. Als er den Deckel hob, verstärkte der Duft des Holzes seine Erinnerungen.

       „Was wirst du mit dem Gebäude machen?“ Dad war Jimmy in sein Zimmer gefolgt, er war nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

       „Es abschließen.“

       „Nach all deiner harten Arbeit? Jimmy, lass es nützlich sein …“

       „Ich schließe es ab, wo du schon nicht zugelassen hast, dass ich es abbrenne.“ Jimmy wühlte in seiner Kommode nach irgendetwas, in dem er den Schlüssel verstauen konnte. Schließlich entdeckte er ein staubiges Holzkästchen, das er vor Urzeiten in der Sonntagsschule gebastelt hatte. Er öffnete es und ließ den Schlüssel hineinfallen.

       „Du wirst dich nicht immer so fühlen wie jetzt“, sagte Dad. „Sie könnte zurückkommen.“

       „Ja? Hat Mama das denn gemacht?“ Das ging unter die Gürtellinie, aber seine Wut ließ ihn heftig austeilen.

       „Was habe ich dir denn immer gesagt? Sei nicht wie ich. Leb weiter. Finde ein anderes Mädchen.“ Dad ging zur Tür. Seine breiten großen Schultern beugten sich unter der Schwere der Unterhaltung. „Versprich mir nur, dass du den Schlüssel nicht wegwirfst.“

       Er sprach nicht von dem Metallstück in dem Holzkästchen. Jimmy wusste das. Er warf sich aufs Bett, streckte sich lang aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und nickte. „Werde ich nicht … Ich werde den Schlüssel nicht wegwerfen.“

      Er verstaute das Kästchen wieder in seinem Versteck und schüttelte den Geruch der Vergangenheit ab. Aber den Schlüssel hatte er doch weggeworfen. Den zu seinem Herzen. Während der echte, greifbare Schlüssel zur Kapelle unversehrt geblieben war, hatte sich Jimmy an die Buchstaben des Gesetzes gehalten, nicht aber an die Gnade dahinter.

      Er drückte sich den Schlüssel in die Handfläche. „Es tut mir leid, Daddy.“ Noch mit dreiundachtzig Jahren vermisste er seinen Vater.

      Aber der heutige Tag stellte eine neue Chance dar. Eine Möglichkeit, den Schlüssel weiterzugeben und der alten Kapelle das Leben einzuhauchen, das sie nie gehabt hatte. Für sein Herz war es zu spät, nicht aber für das der Kapelle. Nicht für die Träume, die er für die Kapelle hatte.

      Doch hatte er den Mut? Das würde Jimmy nicht wissen, bis er das erste Mal nach langer Zeit die Tür öffnen und in seine Vergangenheit eintreten würde.

      Mit diesem Gedanken verließ er das Haus und hegte ein Gefühl, das Ganze könnte einen gewissen Sinn haben. Vielleicht schritt das Göttliche ein und erhörte ein unausgesprochenes Gebet seines Herzens.

      Er fuhr langsam die Straße hinunter. Eine Vorahnung des Herbstes hatte die Ränder der grünen Hügel berührt.

      Er legte seinen Ellbogen ins offene Fenster und roch einen Hauch Holzfeuer. Veränderung lag in der Luft und weckte in ihm das Verlangen nach etwas, das er weder sehen noch fassen konnte.

      Jimmy bog von der Dunbar Street in die River Road ein und fuhr drei kurze Meilen nach Norden.

      Ein Neubaugebiet schien über Nacht in den sanften Hügeln emporgeschossen zu sein. Heart’s Bend wirkte in den letzten Jahren kaum noch wie früher, wo sich Nashville heutzutage immer mehr ausbreitete und sich nach Nordwesten ausdehnte, wo es über Jimmys sanftgeschwungenen

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