Скачать книгу

die dünne, frische Morgenbrise hielt, dem Anblick und den Geräuschen New Yorks entgegen.

      Der Herbst in der Stadt war zauberhaft, mit einer Art ätherischen Energie im kühlen Wind, die sie an ihre Kindheit erinnerte. Als sie über den Gehweg gehopst war, auf dem Rasen Rad geschlagen und goldene, rote und orangefarbene Blätter für eine Schatzkiste gesammelt hatte.

      „Oberste Etage“, sagte Ford und zeigte auf das Gebäude, als er sich zu ihr gesellte und sein Portemonnaie verstaute.

      Beim ersten Schritt geriet Colette ins Schwanken. Der Boden unter ihr schien zu beben. Das war es also. Ihre letzte Zusammenkunft mit der Besetzung.

       Das Ende.

      Vor ihr lag nichts außer dem blendenden Schein endloser leerer Tage.

      „Ich kann nicht …“

      „Wie bitte?“ Ford warf einen Blick auf sein klingelndes Telefon und steckte es dann weg. „Was kannst du nicht?“ Er nahm sie vorsichtig am Ellbogen und versuchte, sie vorwärtszubewegen.

      „Ich kann da nicht hochgehen, Ford.“ Ihre Stimme versagte, und sie klang schwach, alt, als wäre sie hunderteins und nicht dynamisch und kultiviert mit ihren zweiundachtzig Jahren.

      Ford beschattete seine Augen gegen die Morgensonne, die zwischen den Gebäuden hindurchfiel. „Was ist los? Sprich mit mir.“

      „Es ist einfach so … vorbei.“ Colette betrachtete Ford einen Moment lang. Dann, ohne großartig durchzuatmen, rief sie Vivica Spenser herbei. Das alte Weibsbild war doppelt so stark wie sie. „Nun, wollen wir?“ Sie lächelte, hob das Kinn und schritt auf das Gebäude zu. „Bart Maverick wird kein gutes Haar an mir lassen, wenn er vor mir ankommt.“

      „Colette?“

      Sie warf einen Seitenblick auf Ford. „Mir geht’s gut.“

      „Bist du sicher?“

      „So sicher wie nur was.“ Ein berühmtes Vivica-Spenser-Zitat, das ihr sehr nützlich war.

      Ford zeigte ihr den Weg in ein helles, gut beleuchtetes Studio. Musik mit einer leichten, eingängigen Melodie schuf eine heimelige Atmosphäre. Ein angenehmer Tenor sang über Glück.

      Ein Teil der anderen Darsteller war bereits angekommen, einschließlich der siebenundneunzig Jahre alten Wilma Potter, die in der Serie Colettes erste Mutter gespielt hatte. Die beiden waren nie miteinander ausgekommen. Wilma hatte es zutiefst verabscheut, Colettes Mutter zu spielen, wo die beiden doch nur fünfzehn Jahre auseinander waren.

      Während sie die anderen Darsteller begrüßte, die alten und die neuen, die aktuellen und die, die schon länger nicht mehr dabei waren, ging Colette in Vivicas Schuhen umher und zog den Raum in ihren Bann.

      Die ganze Zeit über mied sie die schlanke Blondine, die mit einer ebenso schlanken Brünetten dabei war, die Technik aufzubauen und einzurichten. Sie würde Taylor früh genug begegnen.

      Sie stimmte in den Jubel mit ein, als der legendäre Bart Maverick ankam, der den reichen und gut aussehenden Derek VanMartin spielte, Vivicas erste, wahrste Liebe und Patriarch des VanMartin-Vermögens.

      „Wunderbare Colette.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Bart sie in eine Umarmung und küsste sie. Er machte daraus ein großartiges Schauspiel für alle.

      Applaus brandete auf und umfloss sie, durchfloss sie und kam doch nie an. Er fand keinen Platz in ihrem Herzen. Weil sie sich nie nach Applaus gesehnt hatte. Wonach sie sich sehnte, das war die Flucht in eine andere Rolle. Danach, ein Leben zu leben, das von anderen geschrieben wurde.

      Als Bart sie losließ, schlug Colette kokett nach ihm. „Du bist mir ein rechter Schmierenkomödiant. Wirst du dich denn nie ändern? Benimm dich doch einmal deinem Alter entsprechend.“

      „Das ist doch mein Alter“, sagte er zwinkernd und drehte sich um, um die anderen Darsteller zu begrüßen.

      Immer noch ein Charmeur, dieser Bart. Colette wurde bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Er hatte die Serie wegen einer Herzkrankheit Mitte der Neunziger verlassen, und, nun ja, es war anschließend einfach nicht mehr dasselbe gewesen. Jedenfalls für sie.

      „Sind wir alle hier?“ Taylor stand vor ihnen, ganz proper in Jeans und einem taillierten Top. Sie war umwerfend. Sie kam Colettes Erinnerungen an Mama so nahe, hatte die Augen der Greers und volle Lippen.

      Lästige, verräterische Tränen brannten in Colettes Augen und drohten, sie zu verraten. Sie blinzelte den Schimmer weg, behielt ihr perfektes Lächeln bei und nickte, als Taylors Blick über sie und wieder zurückglitt.

      Sie war aber auch schön. Und als sie sie anlächelte, löste sich der Boden unter Colettes Füßen auf, und sie fiel durch die Zeit.

       Auf dem Hocker neben dem Herd in ihrem Haus in London sieht sie zu, wie Mama das Abendessen kocht. Sie lacht, als Papas tiefer Bass das Haus erfüllt. Glückliche Weihnachtsfeste am Feuer vor dem Krieg. Wie sie nach der Kirche nach Hause rennt, die Melodie von Gottes großer Liebe in ihrem Herzen.

       Gemütliche Abende, an denen sie Mama zuhört, die Gutenachtgeschichten vorliest, während sie sich mit Peg ins Bett kuschelt. In Spitzen und Bänder gekleidet zu Mimi Blantons Hochzeit. In dieser alten Kirche in Nottingham. Sommer an der Küste. Mit Peg auf dem Schiff nach Amerika, so voller Angst und dennoch voller Erwartungen.

       Tante Jean und Onkel Fred, Clem und das herzliche Willkommen in ihrem Zuhause.

       Jimmy. Jeder Moment mit ihm.

      Wie sie Heart’s Bend am Horizont verschwinden sieht, während Spice´ alter Ford auf der Straße nach Norden dahinjagt und ihr die Tränen, die ihre Bluse durchnässen, vom Kinn tropfen.

      Sie hielt das keinen Moment länger aus. Colette reckte sich innerlich, um sich aus der Erinnerung herauszuziehen, bekam aber nichts zu fassen außer leerer Luft. Verzweifelt bemühte sie sich darum, sich zu beruhigen.

      „Colette, schön, dich zu sehen.“ Taylor bot ihr die Hand an, und Colette gelang die Flucht aus ihrem Tagtraum.

      „Schön, gesehen zu werden.“ Das war die erste Antwort, die ihr einfiel. Was konnte sie sonst schon sagen? „Sitzen wir hier?“ Colette zeigte auf das große rote Samtsofa. In ihren Ohren klang sie distanziert und ein bisschen versnobbt. Aber das war die Stimme alter Gemäuer.

      „Ja, wenn’s recht ist. Colette hier, in der Mitte.“ Taylor platzierte sie auf den Polstern.

      „Natürlich“, sagte Bart. „Colette ist die Sonne, und wir sind ihre Monde.“

      „Pscht, du, setz dich einfach neben mich.“ Colette klopfte auf die weiche Oberfläche, vermied es, Taylor anzusehen, mied den stürmischen Schwall der Gefühle, der sie durchströmen wollte.

      „Perfekt. Bart Maverick?“, sagte Taylor und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Taylor Branson.“ Sie lächelte und hatte den alten Bart sofort hypnotisiert.

      Aber nannte sie sich denn immer noch Branson? Colette musterte Taylor. War sie denn nicht verheiratet? Mit einem Werbetypen, wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte.

      „Addison?“, rief Taylor, die Brünette. „Arrangiere du doch schon einmal das Ensemble, während ich das Licht teste.“

      Während sie Taylor beobachtete, kämpfte Colette gegen eine heiße Welle des Bedauerns. Seit sie im Frühling ’51 in New York angekommen war, hatte sie sich nie mehr erlaubt, zurückzublicken, der Vergangenheit nachzuhängen. Weil der Schmerz drohte, ihr zum Verhängnis zu werden.

      Aber für den Bruchteil einer Sekunde erschauerte sie, spürte sie einen Funken Wahrheit in sich. Ihr ganzes Leben, all ihre Leistungen waren Müll im Vergleich zu dem, was sie hätte sein können, was sie hätte sein sollen. Und nichts erinnerte sie mehr daran als die schöne Taylor Branson.

Скачать книгу