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Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
Читать онлайн.Название Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39
Год выпуска 0
isbn 9783866746619
Автор произведения Wolfram Ette
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Автор
In Anbetracht des Versuchs, eine Kritik der Verrechtlichung als Modernisierung konventioneller Kapitalismuskritik zu etablieren, erstaunt es nicht, dass sich die relativ bescheidenen Reformvorschläge in der Theorie des kommunikativen Handelns auf Rechtsfragen konzentrieren. Habermas beschreibt mit unübersehbarem Wohlwollen seine Ideen für mögliche Rechtsreformen, deren Aufgabe sich auf die »rechtliche Institutionalisierung der äußeren Verfassung, sei es der Familie oder der Schule« (II, 544), beschränken würde. Im Gegensatz zum unnachgiebigen Formalrecht, untrennbar mit der aufdringlichen Intervention der Steuerungsmedien Macht und Geld verknüpft, ließe sich so ein Alternativmodell für lokalisierte Selbstregulierung testen. Dies könne eine dezentralisierte Entscheidungsfindung ermöglichen: »Verfahren der Konfliktregelung […], die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen sind – diskursive Willensbildungsprozesse und konsensorientierte Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren« (II, 544). Die rechtliche Regulierung von Schulen könne sich beispielsweise als notwendig herausstellen, sollte sich aber auf die Kodifizierung von Abläufen beschränken, mit deren Hilfe z. B. Eltern, Lehrer und Schulfunktionäre ihre Angelegenheiten selbst und auf kontextuell angemessene Weise regeln können.
II.
Leser des 1992 erschienenen Buches Faktizität und Geltung wissen bereits, dass Habermas bald schon Teile der ursprünglichen Ideen der Theorie des kommunikativen Handelns zum Problem der Verrechtlichung aufgeben – und andere modifizieren – sollte. Er lag damit richtig: Seine früheren Erörterungen hatten an manchen Stellen unter einem gewissen Provinzialismus gelitten. Denn wie hilfreich waren seine ein wenig idiosynkratischen Beispiele aus der jüngeren deutschen Gesetzgebung für das Verständnis allgemeinerer juristischer Entwicklungen? Aus Sicht progressiver Kräfte in den USA, die im Kampf gegen Rassismus aggressive staatliche Intervention an Provinzschulen verteidigten, muss seine Betonung der Gefahren der Verrechtlichung merkwürdig deplatziert gewirkt haben. Es ist daher vielleicht nicht überraschend, dass seine Darstellung schnell zur Zielscheibe heftiger Kritik wurde. Selbst wohlwollende Feministen und Feministinnen ließen kein gutes Haar an Habermas’ Diagnose und den dort implizierten, patriarchalen Annahmen bezüglich der Geschlechter- und Familienverhältnisse.7
Ingeborg Maus, die Politologin und Rechtstheoretikerin der Frankfurter Schule, zeigte bereits 1986 in einer bedeutenden Abhandlung die offensichtlichsten juristischen Schwächen in Habermas’ ursprünglicher Theorie auf.8 Rechtsentwicklungen gerade auf den Gebieten, die Habermas als besonders problematisch eingeschätzt hatte, zeigten sich im Gegenteil als am wenigsten vom abstrakten Formalrecht geprägt. Demnach seien Familien- und Schulrecht »am stärksten von ›freirechtlichen‹ Normen beherrscht [und] durch staatliche Rechtsetzung relativ unbeeindruckt«.9 Laut Habermas’ Schilderung war das Eindringen von abstraktem allgemeinem Recht verantwortlich für die Pathologien des Rechts, die der Kolonialisierung der Lebenswelt folgten: Die abstrakten Medien Macht und Geld schlössen sich mit Formalrecht zusammen, resultierend in besorgniserregenden ›gewalttätigen Abstraktionen‹. Diese Diagnose verschleiert jedoch die Tatsache, dass modernes Aufsichts- und Sozialrecht hochgradig ›materialisiert‹ sind: Sie stützen sich auf Einzelmaßnahmen, unklare Normen, pauschale und scheinbar moralistische Klauseln (z. B. ›auf Treu und Glauben‹) sowie auf Ermessens- und teilweise irreguläre Handlungen auf Seiten von Verwaltung und Justiz.10 Wie Weber nahezu ein Jahrhundert zuvor festgestellt hatte, werden die klassischen Typen des Formalrechts zunehmend seltener, besonders dort, wo Fragen der sozialen Wohlfahrt überragende Bedeutung gewinnen.11 Es ist ›materialisiertes‹ Sozialrecht und nicht in erster Linie ›abstraktes‹ allgemeines Recht, das die Grenzen zwischen Richtern und Bürokraten (mit Ermessensspielraum) verwischt, während traditionelle Formen der normbasierten juristischen Entscheidungsfindung zunehmend unüblich werden. Trotz des entscheidenden Bruchs mit Weber in dem Beharren, dass staatliche Bürokratien nicht ohne Grundierung (via Gesetz) in der Lebenswelt auskommen könnten, akzeptiert Habermas dennoch einen zu großen Teil von Webers Darstellung staatlicher Bürokratien als regelorientierte, hierarchisch strukturierte Institutionen. Dadurch verschleiert er die ungleich chaotischere Realität des modernen Verwaltungsstaates ebenso wie die Tatsache, dass die Pathologien, die er im Formalrecht verortet, ebenso anderen juristischen und institutionellen Entwicklungen zugeschrieben werden können. Kurz: Habermas stellt zu wesentlichen juristischen Facetten moderner Verrechtlichung eine Fehldiagnose und lastet ihre Pathologien dem falschen Übeltäter an. Seine systemtheoretisch inspirierte Beschreibung der abstrakten Medien Macht und Geld, welche ›gewalttätige Abstraktionen‹ generieren sollen, reproduziert implizit Elemente jener misslichen These des orthodoxen Marxismus’, derzufolge das allgemeine Recht nahtlos mit der Warenform verbunden sei. In der aktualisierten Version dieses Arguments ist ein enigmatischer ›monetär-administrativer Komplex‹ verknüpft mit problematischen Formen abstrakten Rechts.12
Maus weist zudem auf die Möglichkeit hin, dass beunruhigende Entwicklungen, die Habermas in den Bereichen der Familie und des Intimen identifiziert (z. B. die Erosion gesellschaftlicher Solidarität), besser aus der Position einer konventionelleren Kapitalismuskritik erklärt werden könnten. So sei zügellose kapitalistische ›Modernisierung‹ nach wie vor die direkte Ursache mancher Missstände, die Habermas der Verrechtlichung des Sozialstaates zurechnet.13
Maus stößt damit auf eine vielsagende Argumentationslücke. Wesentliche Punkte herkömmlich-linker Kapitalismuskritik wurden in der Theorie des kommunikativen Handelns vorschnell über Bord geworfen. So war etwa die direkte Unterordnung des Bildungssystems unter kapitalistische Imperative sicher weitaus schädlicher für Eltern, Schüler und Lehrer als die neuen Formen des juristischen Eindringens durch das Aufsichts- und Sozialrecht. Die kapitalistische ›Kolonialisierung‹ öffentlicher Schulen in den USA beispielsweise vollzieht sich am Ungeheuerlichsten dort, wo materielle Ungleichheit massive Nachteile für Kinder aus unterprivilegierten und Arbeiterschichten verursacht – noch bevor sozialstaatsartige Interventionen diese gelegentlich zu kompensieren versuchen. Noch schlimmere Beispiele lassen sich leicht finden: Unterfinanzierte amerikanische Schulen nutzen inzwischen ›lehrreiches‹ Unterrichtsmaterial der Kohleindustrie, von Wal-Mart und anderen bedeutenden kapitalistischen Akteuren, um veraltete Lehrmittel zu ergänzen. Genau genommen kommen diese Akteure sogar nur aufgrund des Mangels an ausreichender ›Verrechtlichung‹ mit ihrem Vorgehen davon. Die vielleicht größte Herausforderung öffentlicher Schulen in Amerika ist die materielle Ungleichheit zwischen den und innerhalb von Schulbezirken: Das ist zu weiten Teilen das Resultat eines anachronistischen Systems dezentralisierter Schulfinanzierung auf lokaler Ebene, in dem viele mittellose Bezirke (z. B. in verfallenden Industriegebieten) ihre Schüler nicht einmal mit dem Nötigsten versorgen können. In solchen Fällen liegt das Hauptproblem nicht in schlecht konzipiertem, ›abstrakten‹ Schul- oder Sozialrecht, welches sich unangemessen in das Lehrer-Schüler-Verhältnis einmischt. Tatsächlich liegt es an der Unterlassung, altmodisch-kapitalistische Ungleichheit durch kompromisslose juristische Maßnahmen anzugehen.14 Es ist eben grade mehr ›verallgemeinerte‹ oder ›abstrakte‹ Rechtsprechung (beispielsweise mit dem Ziel ausgeglichener Förderung quer über lokale Bezirksgrenzen hinweg), die von amerikanischen Progressiven gefordert wird.
Natürlich beruht auch die jüngere neoliberale Bildungspolitik letztlich auf Gesetzen. Dennoch scheint das juristische Phänomen,